Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

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Predigtreihe zum Dekalog, Februar 2002
Das vierte Gebot (Exodus 20,12) - Heinz Fischer

Liebe Christen,

es kann kein Zufall sein: Das vierte Gebot ist das erste auf der zweiten Tafel. In vielen alten Kirchen gibt es Bilder von Mose oder gar Standbilder, die manchmal sogar die ganze Kanzel tragen. Immer hat Mose neben dem Schlangenstab zwei große Tafeln in der Hand. Wir haben keine Mosefigur mit den beiden Tafeln in unserer modernen Kirche. Ich habe sie hier in Pappe nachgebildet und die drei ersten Gebote mit römischen Zahlen auf die erste Tafel geschrieben. (Anmerkung: Zum Predigteinstieg werden zwei Mose-Tafeln gezeigt, die mit großen römischen Ziffern beschrieben sind und deutlich machen, dass das vierte Gebot das erste der zweiten Tafel ist.) Wir haben über die ersten drei Gebote schon nachgedacht und wissen: Sie beziehen sich auf das Verhältnis von uns Menschen zu Gott. Die zweite Tafel bezieht sich auf das Verhältnis der Menschen untereinander, und da steht das vierte Gebot ganz oben.
Wir kennen es ja alle, aber warum ist das so?
"Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir's wohlgehe und du lange lebest auf Erden."

Das Gebot bezieht sich auf das Verhältnis der Generationen untereinander. Was ist wirklich langlebig in unserer oft so kurzlebigen Zeit?
Langlebig ist beides: tiefe Familienbindungen und tiefe Zerwürfnisse in der Familie. Aber eben darauf zielt das Gebot.

Wenn Schulkinder und Konfirmanden dieses Gebot lernen, geht es in diesem Alter heutzutage vielleicht erst einmal darum, die Beziehungen der Generationen in einem weiteren Zusammenhang zu sehen und die Großeltern wahrzunehmen, nach den Vorfahren zu fragen. Das war in alten Zeiten einfacher zu erkennen, wenn der Bauernhof in der Familie blieb und der Enkel wusste, in welchen Feldern der Uropa die Drainage gelegt hatte oder welches Waldstück er gepflanzt hatte.

Wenn die Beziehungen zwischen den Generationen langfristig gut sind und gelingen, dann geht das über mehrere Generationen meistens so weiter. jedenfalls kennen wir alle Familien, in denen das gelingt. Das müssen nicht immer die "Alteingesessenen" sein! Da ist manchmal das Gegenteil der Fall! Es gibt Familien, die weltweit verstreut sind und doch ganz eng zusammenhalten.

Beobachten Sie einmal in unseren modernen "Stadtkulturen", wie in den Familien manches liebevoll aufbewahrt wird, was an die Vorfahren erinnert. Es ist viel mehr durch die Kriege, die Vertreibungen, die Umsiedlungen und die Flucht gerettet worden, als die jüngere Generation denkt. Das zu vermitteln gebietet das vierte Gebot der älteren Generation. Es kann sich doch bei dem "Ehren" des Vaters und der Mutter nicht um eine merkwürdige Art der Unterwerfung handeln. Die ältere Generation muss vermitteln, was wichtig ist und was bleibt. Dann beginnen die Jüngeren wie von selbst das zu "ehren", was ihnen vermittelt worden ist. Diese Vermittlung ist schwer, erfordert Einfühlungsvermögen und eine Kontinuität in der Erziehung über die eine Generation hinweg. Das kann keine Familie der Schule oder dem Pastor überlassen! Besonders schwer wird es für die jüngere Generation, wenn Familien auseinanderbrechen. Gerade der Glaube lehrt uns, dass Gott aus den Bruchstücken des Lebens wieder ein ganz brauchbares Gefäß zusammensetzen kann. Warum wird er denn im Alten Testament so oft mit einem Töpfer oder Gärtner verglichen?

Da sind wir bei einer ganz entscheidenden Sache: Das vierte Gebot kennt den Generationskonflikt durchaus. Aber es trägt uns auf, trotz aller Konflikte das Wesentliche und Wichtige weiterzugeben: Das ist unser Gottvertrauen! Nicht die Lebenserfahrung, die jede Generation selbst sammeln will und muss, aber das Gottvertrauen kann weitergegeben werden, indem es vorgelebt wird. Es ist ein ganz großer Unterschied, ob die Eltern "dumme Sprüche" über den Glauben, die Bibel, die Kirche und die Sakramente machen und den Kindern sagen: "Den Konfirmandenunterricht musst du eben über dich ergehen lassen!" Oder ob sie immer wieder zeigen, was ihnen selbst der Glaube im Leben immer wieder gegeben und bedeutet hat.

Die Gebote setzen sicher auch sinnvolle Grenzen und sind wie ein Weidezaun. Jeder weiß, dass die Tiere immer am Rande und außerhalb des Zaunes das beste Gras suchen und die Grenzen ausdehnen wollen. Viel anders gehen wir Menschen mit den Geboten auch nicht um. Aber wir Menschen können die ganz großen Freiheiten erkennen, die innerhalb des Weidezaunes gegeben sind und die ganz großen Gefahren der Grenzüberschreitung. Vielleicht ruft uns das vierte Gebot einfach nur die alte Weisheit ins Herz und in den Verstand, dass wir nicht die ersten Menschen auf der Welt und (hoffentlich) auch nicht die letzten sind. Jeder und jede gehört zu einer bestimmten Generation. Die Weitergabe der Weisheit, des Glaubens, der Selbstbegrenzung gelingt nur, wenn wir die Generation vor uns wahrnehmen und ernst nehmen - eine andere Übersetzung für "ehren".
Ich weiß natürlich, wie sich Jüngere über Ältere, Kinder über Eltern, Eltern über Alte erregen können.
Da fällt mir ein Plakat ein, das einen Mönch mit einer Sprechblase zeigt. "Bruder Konrad" steht darüber und in der Sprechblase: "Ich könnte mich den ganzen Tag ärgern, aber ich bin nicht verpflichtet dazu!" So können sich Eltern über ihre Kinder den ganzen Tag ärgern, aber sie sind nicht verpflichtet dazu. Auch Kinder, Konfirmanden etwa mit 14 Jahren können sich den ganzen Tag über ihre Eltern ärgern. Aber sie sind nicht verpflichtet dazu.

Das vierte Gebot ermuntert uns dazu, starke Eltern zu sein und wirklich zu erziehen. Junge Menschen ehren die Väter und Mütter wie von selbst, die sie erziehen und nicht laufen lassen. Erziehen hängt mit "ziehen" zusammen und das hat eine Richtung. "Laufen lassen" ist eine Schwäche der Elterngeneration, die sich bitter rächt. Die Eltern verschleiern ihre Schwäche geschickt und sagen: "Mein Kind soll sich selbst entscheiden" oder "wir machen unserem Kind keine Vorschriften". Aber Kinder brauchen Vorschriften, Hinweise und Entscheidungshilfen. "Laufen lassen" und "sie sollen selber entscheiden" ist Angst vor der Erziehung. Kinder mit solchen Erfahrungen werden niemals den Vater und die Mutter ehren. Das vierte Gebot verpflichtet beide Generationen, die Eltern und die Kinder.
"Das gibt sich", sagen schwache Eltern von den Fehlern ihrer Kinder. O nein!
Es gibt sich nicht! Es entwickelt sich! (Marie von Ebner-Eschenbach, 1830-1916). Hundert Jahre später, in unserer Zeit, überschreibt eine Mutter von vier Töchtern ihr Erziehungsbuch: "Erziehung als Herausforderung". Die Autorin ist die bekannte Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann. Wie sich die Zeiten gleichen! Das vierte Gebot hat auch auf die Sozialgesetzgebung und die Staatsorganisation großen Einfluss genommen. die Rentenversicherung und die Pflegeversicherung beruhen beide auf der Idee des "Generationenvertrages". Nur wenn die Jüngeren sich frühzeitig für die Alten engagieren, können wir lange leben in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir geben wird.
Amen.

Propst Heinz Fischer, Helmstedt
Tel.: 05351-2093, Fax: 2094


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