Predigtreihe zum Dekalog, Februar 2002 |
Liebe Christen, es kann kein Zufall sein: Das vierte Gebot ist das erste auf der zweiten
Tafel. In vielen alten Kirchen gibt es Bilder von Mose oder gar Standbilder,
die manchmal sogar die ganze Kanzel tragen. Immer hat Mose neben dem Schlangenstab
zwei große Tafeln in der Hand. Wir haben keine Mosefigur mit den
beiden Tafeln in unserer modernen Kirche. Ich habe sie hier in Pappe nachgebildet
und die drei ersten Gebote mit römischen Zahlen auf die erste Tafel
geschrieben. (Anmerkung: Zum Predigteinstieg werden zwei Mose-Tafeln gezeigt,
die mit großen römischen Ziffern beschrieben sind und deutlich
machen, dass das vierte Gebot das erste der zweiten Tafel ist.) Wir haben
über die ersten drei Gebote schon nachgedacht und wissen: Sie beziehen
sich auf das Verhältnis von uns Menschen zu Gott. Die zweite Tafel
bezieht sich auf das Verhältnis der Menschen untereinander, und da
steht das vierte Gebot ganz oben. Das Gebot bezieht sich auf das Verhältnis der Generationen untereinander.
Was ist wirklich langlebig in unserer oft so kurzlebigen Zeit? Wenn Schulkinder und Konfirmanden dieses Gebot lernen, geht es in diesem Alter heutzutage vielleicht erst einmal darum, die Beziehungen der Generationen in einem weiteren Zusammenhang zu sehen und die Großeltern wahrzunehmen, nach den Vorfahren zu fragen. Das war in alten Zeiten einfacher zu erkennen, wenn der Bauernhof in der Familie blieb und der Enkel wusste, in welchen Feldern der Uropa die Drainage gelegt hatte oder welches Waldstück er gepflanzt hatte. Wenn die Beziehungen zwischen den Generationen langfristig gut sind und gelingen, dann geht das über mehrere Generationen meistens so weiter. jedenfalls kennen wir alle Familien, in denen das gelingt. Das müssen nicht immer die "Alteingesessenen" sein! Da ist manchmal das Gegenteil der Fall! Es gibt Familien, die weltweit verstreut sind und doch ganz eng zusammenhalten. Beobachten Sie einmal in unseren modernen "Stadtkulturen", wie in den Familien manches liebevoll aufbewahrt wird, was an die Vorfahren erinnert. Es ist viel mehr durch die Kriege, die Vertreibungen, die Umsiedlungen und die Flucht gerettet worden, als die jüngere Generation denkt. Das zu vermitteln gebietet das vierte Gebot der älteren Generation. Es kann sich doch bei dem "Ehren" des Vaters und der Mutter nicht um eine merkwürdige Art der Unterwerfung handeln. Die ältere Generation muss vermitteln, was wichtig ist und was bleibt. Dann beginnen die Jüngeren wie von selbst das zu "ehren", was ihnen vermittelt worden ist. Diese Vermittlung ist schwer, erfordert Einfühlungsvermögen und eine Kontinuität in der Erziehung über die eine Generation hinweg. Das kann keine Familie der Schule oder dem Pastor überlassen! Besonders schwer wird es für die jüngere Generation, wenn Familien auseinanderbrechen. Gerade der Glaube lehrt uns, dass Gott aus den Bruchstücken des Lebens wieder ein ganz brauchbares Gefäß zusammensetzen kann. Warum wird er denn im Alten Testament so oft mit einem Töpfer oder Gärtner verglichen? Da sind wir bei einer ganz entscheidenden Sache: Das vierte Gebot kennt den Generationskonflikt durchaus. Aber es trägt uns auf, trotz aller Konflikte das Wesentliche und Wichtige weiterzugeben: Das ist unser Gottvertrauen! Nicht die Lebenserfahrung, die jede Generation selbst sammeln will und muss, aber das Gottvertrauen kann weitergegeben werden, indem es vorgelebt wird. Es ist ein ganz großer Unterschied, ob die Eltern "dumme Sprüche" über den Glauben, die Bibel, die Kirche und die Sakramente machen und den Kindern sagen: "Den Konfirmandenunterricht musst du eben über dich ergehen lassen!" Oder ob sie immer wieder zeigen, was ihnen selbst der Glaube im Leben immer wieder gegeben und bedeutet hat. Die Gebote setzen sicher auch sinnvolle Grenzen und sind wie ein Weidezaun.
Jeder weiß, dass die Tiere immer am Rande und außerhalb des
Zaunes das beste Gras suchen und die Grenzen ausdehnen wollen. Viel anders
gehen wir Menschen mit den Geboten auch nicht um. Aber wir Menschen können
die ganz großen Freiheiten erkennen, die innerhalb des Weidezaunes
gegeben sind und die ganz großen Gefahren der Grenzüberschreitung.
Vielleicht ruft uns das vierte Gebot einfach nur die alte Weisheit ins
Herz und in den Verstand, dass wir nicht die ersten Menschen auf der Welt
und (hoffentlich) auch nicht die letzten sind. Jeder und jede gehört
zu einer bestimmten Generation. Die Weitergabe der Weisheit, des Glaubens,
der Selbstbegrenzung gelingt nur, wenn wir die Generation vor uns wahrnehmen
und ernst nehmen - eine andere Übersetzung für "ehren". Das vierte Gebot ermuntert uns dazu, starke Eltern zu sein und wirklich
zu erziehen. Junge Menschen ehren die Väter und Mütter wie von
selbst, die sie erziehen und nicht laufen lassen. Erziehen hängt
mit "ziehen" zusammen und das hat eine Richtung. "Laufen
lassen" ist eine Schwäche der Elterngeneration, die sich bitter
rächt. Die Eltern verschleiern ihre Schwäche geschickt und sagen:
"Mein Kind soll sich selbst entscheiden" oder "wir machen
unserem Kind keine Vorschriften". Aber Kinder brauchen Vorschriften,
Hinweise und Entscheidungshilfen. "Laufen lassen" und "sie
sollen selber entscheiden" ist Angst vor der Erziehung. Kinder mit
solchen Erfahrungen werden niemals den Vater und die Mutter ehren. Das
vierte Gebot verpflichtet beide Generationen, die Eltern und die Kinder. Propst Heinz Fischer, Helmstedt |
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