Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

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Predigten und Texte zum Dekalog, April 2002
Predigt zum achten Gebot - Stefan Knobloch

Das 8. Gebot - ein Gebot, dem wir nicht entkommen

Liebe Gemeinde!

"Mit der Wahrheit hat er es nicht recht" sagen wir manchmal von einem Menschen. Und wir sprechen ihm damit gewisse ethische Qualitäten ab. Es ordnet ihn ein als einen Menschen, dem man nicht durch Dick und Dünn vertrauen dürfe. Merkwürdig ist das schon: Wir konstatieren so etwas leichter bei anderen als bei uns selbst, obwohl auch wir selbst keineswegs die Wahrheit, oder besser die Wahrhaftigkeit, in jeder Situation für uns gepachtet haben. "Omnis homo mendax", die Menschen lügen alle, heißt es im Psalm 116,11. Wenn wir schon dem Dunstkreis der Unaufrichtigkeit und Lüge nicht entkommen, dann nehmen wir für uns gerne unsere Zuflucht zur Notlüge. Es sei ja nur "Notlüge" gewesen, auf keinen Fall arglistige Täuschung oder Irreführung, was wir uns vorzuwerfen hätten.

Alles nur Notlüge - alles halb so wild?

In Abraham und Sara haben wir gewissermaßen willkommene Entlastungszeugen, die uns vorgemacht haben, wie das mit der Notlüge funktioniert und daß das also schlimm nicht so sein kann. Als er von einer Hungersnot getrieben mit seiner Frau Sara nach Ägypten zieht, um sich dort mit Essensvorräten zu versorgen, kommen ihm Bedenken wegen Saras Schönheit. Am Ende könnten ihm die Leute im fremden Land Gewalt antun, um an seine Frau zu kommen. "Sag doch, sollte es soweit kommen, du seiest meine Schwester, dann wird uns nichts passieren" (vgl. Gen 12,13). Trotz dieser Notlüge scheut sich das Neue Testament nicht, Abraham den Vater unseres Glaubens zu nennen (vgl. Gal 3,7)?

Eine Notlüge auf der Ebene der großen Politik wird ohne Wimpernzucken und unkommentiert bei Jeremia berichtet. In der dramatischen Situation der Belagerung Jerusalems durch die Truppen der Chaldäer - der Babylonier, wie wir eher zu sagen gewohnt sind -, rät Jeremia dem König Zidkija, vor die Stadt zu ziehen und sich den Heerführern des Königs von Babel zu ergeben. So werde von ihm selbst und von der gesamten Stadt Unheil abgewendet. Die Generäle und Berater Zidkijas aber hegten gegenüber Jeremia schon lange den Verdacht, er torpediere die Moral der Truppe, er untergrabe den Widerstands- und Kampfeswillen der Belagerten. In den Schatten dieses Verdachts wollte der König Zidkija aufgrund seiner Kontakte zu Jeremia nicht hineingezogen werden. "Niemand darf von unserem Gespräch erfahren", so schärft er Jeremia ein, "und wenn dich die Beamten fragen, dann erzähle ihnen irgend etwas Belangloses" (vgl. Jer 24-28). Und so tat es Jeremia dann auch.

Von dieser Begebenheit ist der Sprung in die aktuelle Tagespolitik nicht weit. Was da Mitte-Ende März im Bundesrat in Sachen Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz über die Bühne ging, war "Theater", sagten die einen; "ehrliche Empörung", sagten die anderen. Politische Wegelagerei auf beiden Seiten war es allemal, Getrickse, unwürdiges Miteinanderumgehen, dem es an Wahrheit und Wahrhaftigkeit mangelte. Oder man denke an den sogenannten Kölner Spendensumpf, an offensichtliche Bestechungs- und Korruptionsvorgänge. "Köln sei überall", sagt und liest man in diesen Tagen. Nur muß man sich hüten, das Problem der Wahrheitsbeugung und der mangelnden Wahrhaftigkeit großformatig auf die Politiker und die politische Szene zu projizieren, um durch diese Ablenkung gewissermaßen selbst mit weißer Weste dazustehen. So weit dürfte es mit unserer weißen Weste nicht her sein. Man versuche nur einmal, gedanklich seiner letzten Steuererklärung etwas näherzutreten...

Der ursprüngliche Topos - vor Gericht

Dabei hat das 8. Gebot sein Zentrum genau genommen nicht in der Ehrlichkeit, sondern in seiner Ausrichtung am anderen, am Nächsten. "Du sollst", so lautet das Gebot nach Ex 20,16 bzw. Dtn 5,20, "nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen." Man sieht es der Formulierung an, wo das Gebot ursprünglich seinen Sitz hat, nämlich in der Aussage vor Gericht, ob in der Rolle des Klägers oder des Zeugen, macht da keinen großen Unterschied. Überall lauert die Gefahr der Falschaussage, der Beugung der Wahrheit. Meineid vor Gericht wird noch heute mit Strafe belegt, und vereidigt wird gegebenenfalls der Zeuge, da dessen Aussage auf ein Urteil entscheidend einwirken kann. Nicht erst hier, in der qualifizierten Situation der Zeugenschaft vor Gericht, sondern ganz generell verletzt die bewußte schädigende Falschaussage das Fundament des sozialen Zusammenlebens. Auch wenn heute viele beim Gebrauch der Eidesformel - die gelegentlich zur Meineidsformel gerät - auf den direkten Bezug auf Gott verzichten, ändert das nichts an der zerstörerischen Dramatik eines solchen Vorgangs. Im Alten Testament ist mehrfach bezeugt, daß ein falscher Zeuge Gott ein Greuel sei (Spr 6,19), daß Fluch in das Haus dessen einziehe, "der bei meinem Namen einen Meineid schwört" (Sach 5,4).

Jesu Haltung war hier von einer noch kompromißloseren Radikalität. "Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst keinen Meineid schwören... Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht... Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen" (Mt 5,33.34.37). Gleichwohl kannte auch Jesus Sprachformen, die das einfache Ja zu einer qualifizierten Aussage umfigurierten, beispielsweise wenn er seinen Worten ein "Amen, ich sage euch" oder ein "Amen, ich sage dir" (vgl. Mk 14,9.25.30) voranstellte.

Wenn also das 8. Gebot seinen qualifizierten Ort auch im Bereich der Rechtsprechung hat, so reicht es gleichwohl weit darüber hinaus in alle Lebensbereiche hinein. So fällt unter das Gebot auch schon die üble Nachrede, jener Sachverhalt also, wo einer über einen anderen Dinge verbreitet, die dessen Leben tatsächlich betreffen oder betroffen haben, also nicht aus der Luft gegriffen und frei erfunden sind. Sie zu streuen und unter die Leute zu bringen, erfüllt streng genommen nicht den Tatbestand der Lüge, fällt aber gleichwohl unter das 8. Gebot, da hier Dinge aus unlauteren Motiven und mit schädigender Absicht gestreut werden. Hieran wird erneut deutlich, daß das 8. Gebot sein Zentrum im Nächsten hat. Das ist gewiß zweischneidig und darf nicht dahingehend mißdeutet werden, als dürfe man dann ja wohl auch einen Meineid vor Gericht schwören, wenn damit nur die "gute Absicht" verfolgt werde, Schaden von jemand abzuhalten. Hier die Dinge richtig zu gewichten, dürfte nicht schwerfallen. Im Fall der Gerichtsverhandlung geht es um die Wahrheitsfindung ohne Ansehen der Person, im anderen Fall aber haben immer der Persönlichkeitsschutz und die Achtung der Personenwürde den Vorrang, die es verbieten, Gift zu spritzen und den guten Namen eines Menschen in den Dreck zu ziehen. Wie sagt ein lateinisches Sprichwort? "Semper aliquid adhaeret"; etwas bleibt immer hängen - an ausgestreuten Gerüchten, mögen sie nun zutreffen oder nicht.

In kluger Weise Wahrheit verschleiern?

Dieses oberste Gesetz der Rücksichtnahme, besser der Orientierung am Nächsten, scheint als Prinzip auch einem Satz des Thomas' von Aquin zugrunde zu liegen, der in seiner Summa theologica begegnet: "Es ist erlaubt, in kluger Weise die Wahrheit zu verschleiern." Im ersten Moment möchte man spontan aufbegehren gegen das Hintertürchen, das hier der Wahrheitsbeugung geöffnet zu werden scheint. Aber der Satz führt offensichtlich etwas anderes im Schilde. Die Wahrheit in kluger Weise zu verschleiern, will bedeuten, in einer Situation, in der einer kein Anrecht auf die objektiv "volle" Wahrheit hat, diese Wahrheit mit Rücksicht auf einen Dritten nicht frank und frei auf den Tisch zu legen. "In kluger Weise" meint keine Tricks, sondern meint den verantwortungsvollen Bezug auf den Nächsten, über ihn nicht "falsch" bzw. schädigend zu reden.

Wenn es so um das 8. Gebot steht, dann scheint es allerdings schwierig zu werden mit der sogenannten "Gemeinderegel", der wir in Mt 18,15-20 begegnen. Dort ist zwar nicht von der Lüge die Rede, aber der dort empfohlene modus procedendi, der dort empfohlene Verfahrensmodus, wenn ein Bruder gesündigt habe, scheint letztlich ohne die Verletzung seiner Personenwürde nicht auszukommen. Wenn ein Bruder sündigt, "dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht." Schon hier drängt sich die Frage auf, wann wir das zum letzten Mal versucht hätten? Und mit welchem Erfolg? Wurden wir mit offenen Armen aufgenommen oder sind wir nicht eher abgeblitzt, womöglich unter Hinweis auf ein anderes Jesuswort, das hier einschlägig wäre: "Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht" (Mt 7.3)? Die Gemeinderegel sieht weiter vor, wenn der "Vier-Augen-Versuch" gescheitert sei, dann zwei weitere Personen hinzuzuziehen. Wenn auch das keinen Erfolg habe, müsse die Angelegenheit vor die Gemeinde gebracht werden.

Anstrengende Sätze sind das, die nach ihrer inneren Logik gewiß nichts mit dem 8. Gebot zu tun haben, aber für unser Empfinden eben wohl doch, insofern sich das 8. Gebot schützend vor den Nächsten stellt. Gewiß geht es in der Gemeinderegel im Ansatz genau nicht um Persönlichkeitsschädigung, sondern um das genaue Gegenteil, aber verstricken sich hier nicht die Fäden rasch so, daß man der Gemeinderegel kaum nachkommen kann, ohne den Inhalt des 8. Gebotes zu tangieren? Vielleicht hat sich eben deshalb diese Gemeinderegel in der Praxis kaum durchgesetzt.

Unglaube als "Lüge"

All diese bisherigen Überlegungen scheinen, wie mehrfach betont, das 8. Gebot ausschließlich einem bloß ethischen Horizont zuzuordnen, als sei mit diesem Referenzrahmen sein Inhalt bereits vollgültig getroffen. Ohne seiner Orientierung am Nächsten auch nur das Geringste wegzunehmen, muß man allerdings auch sehen, daß die Heilige Schrift nicht nur den Tatbestand der Falschaussage gegenüber dem Mitmenschen mit Lüge bezeichnet, sondern auch den ganz anders gearteten Tatbestand des Unglaubens gegenüber Gott als Lüge identifiziert. Vom Joh-Evangelium her legt sich das zwingend nahe. Nach Joh 8,30-47 findet Jesus, der Offenbarer des Vaters, bei den Juden, den Kindern Abrahams, kein Gehör, keinen Glauben, weil sie, wie Jesus sagt, nicht Abraham, sondern den Teufel zum Vater hätten. Deshalb seien sie nicht imstande, seine, Jesu, Worte zu hören (vgl. Joh 8,43b). Sie seien dem "Vater der Lüge" (Joh 8,44) verfallen und kämen so nicht zum Glauben. Unglaube also als Lüge, gewissermaßen - um es im Wortlaut des 8. Gebotes zu spiegeln - als Falschaussage gegen Gott, daß an Gott nichts sei, an seiner Nähe und an seinem Interesse am Menschen, vor allem aber, daß an Jesus als Offenbarer Gottes nichts sei.

Und die "Gotteskrise" heute?

Vor diesem Hintergrund stellen manche die bange Frage, ob diese Art der "Falschaussage" gegen Gott heute nicht flächendeckend um sich greife, wo so viele von einer Gottvergessenheit bzw. einer Gotteskrise sprechen, die den eigentlichen und tiefsten Hintergrund der gegenwärtigen Kirchenkrise ausmache. Ich denke, hier muß man in der Beurteilung Vorsicht walten lassen. Es dürfte nicht alles "Gotteskrise" sein, wo Gotteskrise bzw. Kirchenkrise draufsteht. Was soll Gotteskrise eigentlich heißen? Es kann sich nämlich in der scheinbar so besorgten Rede von der Gotteskrise ihrerseits so etwas wie eine Krise des Glaubens an den nahen Gott verbergen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit Recht in der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" darauf bestanden, daß "es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche", und hat darauf verwiesen, "daß der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, dem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise (modo Deo cognito) verbunden zu sein" (GS Art.22). Auch nach der anderen Seite, also gewissermaßen vom Menschen her, dürfte es so sein, daß der Mensch - auch und gerade heute - einen Gottesbedarf hat, der ihn freilich auf ganz verschiedenen Wegen nach Gott suchen und fragen läßt; nicht zuletzt in der Gestalt der Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens. Dann also handelte es sich heute bei vielen Menschen nicht um die dezidierte "Falschaussage" gegen Gott, daß es Gott nicht gebe, sondern um ein offenes Suchen und Fragen, welches dieselbe Pastoralkonstitution so beurteilte: "Jeder Mensch bleibt... sich selbst eine ungelöste Frage, die er dunkel spürt. Denn niemand kann in gewissen Augenblicken, besonders in den bedeutenderen Ereignissen des Lebens, diese Frage gänzlich verdrängen. Auf diese Frage kann nur Gott die volle und ganz sichere Antwort geben; Gott, der den Menschen zu tieferem Nachdenken und demütigerem Suchen aufruft" (GS 21).

Wir sind ein uns aufgegebenes Rätsel. Nicht nur im Bereich unseres individuellen Lebens. Rätselhaft, ja erschreckend rätselhaft, erschreckend von Lüge und Verblendung durchsetzt gestalten sich in unseren Tagen wieder einmal die Auseinandersetzungen zwischen Staaten und Völkern, wie aktuell die Eskalation der Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern deutlich macht. Und wieder ist dabei die Lüge in einer qualifizierten Weise im Spiel, indem sie Selbstmordattentäter zu Märtyrern hochstilisiert, die in Wahrheit verführte und verblendete Mörder sind.

"Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen." Das 8. Gebot lastet schwer auf uns. Und würden wir in großer Nonchalance behaupten, wir hätten mit ihm keine Probleme, befänden wir uns erneut im Bann der Lüge, ganz so wie 1 Joh 1,6 die Zusammenhänge sieht: "Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm (mit Gott) haben, und doch in der Finsternis leben, lügen wir und tun nicht die Wahrheit."

Amen

Prof. Dr. Stefan Knobloch
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich Katholische Theologie
Saarstraße 21 D-55099 Mainz
Tel./Fax: 0 61 31 / 39 22 743
pastoralunimz@hotmail.com


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