Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

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Predigtreihe zum Dekalog, Februar 2002
Das dritte Gebot - Exodus 20, 10, Peter Kusenberg

Liebe Gemeinde,

Heinrich Böll erzählt in seiner "Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral" die Begegnung zwischen einem Touristen und einem einheimischen Fischer.

Der Fremde, nachdem er ausgiebig die malerische Hafenszene fotografiert hat, verwickelt den in der Sonne dösenden Fischer in ein Gespräch: bei solch einem Wetter könne er doch gewiss mit einem guten Fang rechnen, ob er denn nicht mit seinem Boot ausfahren wolle?

Nein, lautet die Antwort, denn er sei bereits am Morgen draußen gewesen und habe so viel gefangen, dass es für heute und morgen reiche.

Der Tourist jedoch, fest entschlossen in seiner Hilfsbereitschaft, das Los des armen Fischers zu bessern, rechnet ihm vor: welche Überschüsse er verkaufen könne, wenn er mehrmals täglich zum Fang auslaufe, und dass er sich dann bald ein zweites Boot zulegen könne, um noch mehr zu fangen.

Der Fischer hört schweigend zu, während der Tourist angesichts der ungeahnten Möglichkeiten immer weiter ins Schwärmen gerät. Eine richtige Fangflotte irgendwann, ein Kühlhaus und eine Räucherei, schließlich die Eröffnung einer Fabrik und eigener Vertriebswege, und dann…

"Was dann?", fragt schließlich der Fischer, als dem Fremden vor Überwältigung die Worte ausgehen. - "Dann", sagt der Tourist, begeistert und erschöpft zugleich, "könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen - und auf das herrliche Meer blicken."

"Aber das tu ich ja schon jetzt", antwortet der Fischer schlicht. - Und der Tourist zieht davon, frei von Mitleid nun, doch mit einer Spur von Neid…

Liebe Gemeinde, mit gefällt die Geschichte vor allem deshalb, weil ich mich in beide Personen gut hineinversetzen kann. Das liegt, vermute ich, daran, dass ich von beiden etwas in mir trage.

Oft geht es mir ähnlich wie dem Touristen. Ich denke wieder einmal über eine bessere Organisation meiner Arbeit nach, über eine effektivere Zeiteinteilung, damit nichts und niemand zu kurz kommt. Termine besser planen, Büroarbeiten zügiger erledigen, meine Leistung steigern. Karfreitag und Ostern stehen ja schon vor der Tür, der Vorstellungsgottesdienst der Konfirmanden und die Konfirmation, der Besuch aus der Partnergemeinde zu Himmelfahrt und, und, und… Manchmal überlege ich staunend, wie das alles in früheren Jahren - mit der guten alten Schreibmaschine an Stelle des Computers - zu schaffen war.

Der Tourist in Bölls Erzählung ist - das finde ich bemerkenswert - nicht gezeichnet als ein aufdringlicher Besserwisser, der herablassend von der Warte seiner höheren Kenntnis der Volkswirtschaft Ratschläge fallen lässt. Er ist ehrlich angerührt vom Los des scheinbar armen Fischers. Und er rechnet, kalkuliert, plant den möglichen geschäftlichen Aufstieg des Fischers mit einem Eifer, als ginge es um seine eigene Karriere.

Er übersieht dabei ganz - und das erkennt er erst am Ende - dass der Fischer schon dort angelangt ist, wohin er ihn mit all seinen hochfliegenden Planungen führen wollte: Zeit zur Muße, zum Entspannen zu haben.

Ich stelle mir vor, wie der Tourist sich auf seinen Urlaub gefreut hat, auf die "kostbarsten Stunden des Jahres", wie es einmal in der Ferienwerbung hieß. Manche Überstunde hat er gemacht, manches Wochenende noch zu Hause Arbeit erledigt, die werktags nicht zu schaffen war. Dass er kürzer treten sollte, hat ihm der Hausarzt neulich gesagt, doch der weiß ja nichts vom Konkurrenzdruck in der Firma.

Nun also endlich ausspannen, für zwei Wochen das Leben so genießen, als sei man reich genug, das ganze Jahr so zu leben. Wer ist frei von solchen Träumen? Und diese Träume überträgt er auf den Fischer. Was er selbst wohl nie erreichen wird, plant er stellvertretend für das Leben eines anderen.

Ein Spruch aus der sogenannten Sponti-Szene fällt mir dazu ein: "Träume nicht, zu leben - lebe deinen Traum!" Wie schön. Und wie schwer.

Der Fischer ist nahe dran. Sein Rhythmus von Arbeit und Ruhe, von Werktag und Feiertag hat andere Maße. Er hat nicht den Berg vor sich, erst zu Reichtümern zu gelangen, um dann im Tal der zufriedenen Ruhe anzukommen; sein Leben gleicht eher einer Hügellandschaft von Tun und Muße, mit kürzeren Zwischenräumen.

Ich will jetzt nicht danach forschen, was dafür verantwortlich ist, dass wir uns oft so hohe Ziele stecken, bevor wir uns erlauben, zufrieden zu sein. Vielleicht liegt es am Wachstumsdenken unserer westlichen Welt, das leider so gut wie nie in Frage gestellt wird.

Ich will auch gar nichts gegen anspruchsvolle Vorhaben und Pläne sagen. "Jetzt noch den beruflichen Aufstieg schaffen, und dann…" -- "Wenn erst die Kinder aus dem Haus sind, dann…"

Aber ich möchte fragen: wie sieht unser Weg dorthin aus? Ist es ein einziger, immerwährender Anstieg, oder legen wir ab und zu eine Rast ein, um auszuruhen, Kräfte zu sammeln, um den Weg zu überdenken?

In der Bibel gibt es eine Gestalt, die dem Touristen aus der Böll-Erzählung ähnlich ist. Vielleicht kennen Sie die Geschichte vom Kornbauern, die Jesus seinen Zuhörern erzählte:

"Es war ein reicher Mensch, dessen Feld hatte gut getragen. Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle. Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln all mein Korn und meine Vorräte und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?"

Erkennen wir es? Das ist die große Gefahr aller ehrgeizigen Lebenspläne: dass mir mein Leben unterwegs verloren geht. Vielleicht nicht gleich so drastisch mit dem Tod, wie im biblischen Beispiel. Aber mein Leben geht auch verloren, wenn es ruhelos, freudlos oder lieblos wird.

"Jetzt noch den beruflichen Aufstieg schaffen, und dann…" - Was, wenn dann der Stress meine Gesundheit gefressen hat?

"Wenn unser Haus fertig ist, dann…" - Was, wenn inzwischen die Kinder Drogen konsumieren, weil die Eltern vor lauter Plackerei nie Zeit für sie hatten?

"Wenn erst die Kinder aus dem Haus sind, dann…" - Was, wenn die Ehepartner sich dann nichts mehr zu sagen haben? Was dann?

Es ist schlimm, wenn wir erkennen müssen, dass der Preis für das Erreichen eines Ziels zu hoch war. Und ebenso schmerzhaft kommt dann - zu spät - die Einsicht, wo auf meinem Weg ich besser einmal angehalten hätte, um in mich oder neben mich zu schauen, statt blindlings auf mein Ziel zuzusteuern.

Wie aber kann es besser gehen? Wie können wir dem Fischer in Bölls Erzählung ähnlicher werden?

Schauen wir in den Kalender. Jede Woche hat einen Tag der Ruhe, den Sonntag. 52 jedes Jahr (mehr als die allermeisten von uns an Urlaub haben), dazu die übrigen Feiertage. Die Bibel berichtet ganz am Anfang, dass selbst Gott nach den sechs Tagen der Erschaffung der Welt einen Tag geruht hat.

Der Mensch, nach Gottes Bild beschaffen, soll es ihm gleich tun. Und "Du sollst den Feiertag heiligen", heißt das 3. Gebot. - Heiligen? Was heißt das eigentlich?

Martin Luther erklärte den Begriff "heiligen" so: "Derhalben, wenn man fragt, was da gesagt sei, Du sollst den Feiertag heiligen, so antworte: den Feiertag heiligen heißt so viel als heilig halten." Und er fährt fort: "Denn der Tag darf für sich selbst keins Heiligens nicht, denn er ist an ihm selbst heilig geschaffen. Gott aber will haben, dass er Dir heilig sei."

In heutige Sprache übertragen, höre ich zweierlei. Das Eine: der Feiertag ist von vornherein ein besonderer Tag, auch ohne mein Zutun. Damit er aber auch für mich zum besonderen Tag wird, soll ich seine Bedeutung achten: "Gott will haben, dass er Dir heilig sei."

Feiertag ist also nicht gleich "Freizeittag". Freizeit ist längst zum Jagdrevier einer riesigen Industrie geworden, deren einziges Ziel Konsum und Unterhaltung ist, und die auch vor dem Feiertag nicht Halt macht. Die Palette der Angebote reicht von den Flohmärkten, die sich sonntags allenthalben auf Supermarkt-Parkplätzen finden, bis zu den (speziell in Ostdeutschland) gestarteten Versuchen zum Sonntags-Einkauf - Rummelplatz pur.

Berieselung, Ablenkung oder Volldröhnung - alles ist da, bietet sich mir an, am Feiertag ebenso wie schon die ganze Woche lang. - Bin ich selbstbewusst genug, zu sagen: "Nein! Ich will das nicht, nicht auch noch heute!"?

Das nämlich heißt: den Feiertag heiligen, ihn ernst nehmen, ihn nehmen zum Heil-Werden, als meine Ruhepause, als mein In-der-Sonne-Dösen vor dem Auslaufen zum nächsten anstrengenden Fischfang.

Den Feiertag heiligen - es gibt viele Möglichkeiten dazu. Mich einmal in aller Ruhe den Kindern widmen, dem Partner oder der Partnerin mehr Aufmerksamkeit schenken als die Woche über… Anderen etwas geben, wozu ich sonst zu wenig Zeit oder Kraft habe.

Wer das probiert, wird schon nach kurzer Zeit erfahren, wie solche Geschenke, die mich nicht mehr kosten als ein wenig Zeit und Phantasie, erwidert werden und nun mich zum Beschenkten machen.

Ach - und bevor ich's vergesse: auch der Gottesdienst ist eine der Möglichkeiten, meinen Feiertag zu heiligen.

Amen.

Peter Kusenberg, Pastor und freier Journalist
Adelebsen-Erbsen
E-Mail: peter.kusenberg@kirche-erbsen.de


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