Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

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Predigtreihe zum Dekalog, März 2002
Das fünfte Gebot - Exodus 20, 13, Jobst von Stuckrad-Barre

Das fünfte Gebot: "Du sollst nicht töten"

Ramallah: Nächtliche Jagden folgen auf jüngste Attentate und umgekehrt. Afghanistan: Der Krieg geht weiter - die Zivilisten leiden mehr als bisher bekannt. Zimbabwe: Diktator Mugabe hindert die Wähler mit Waffengewalt an freien Wahlen. USA und anderswo: Menschen zu schaffen durch Tötung von Zellen, werdendem Leben also, ist nicht mehr völlig utopisch.

In Zeiten, da das Bild des Gekreuzigten für manche Zeitgenossen eine solche Zumutung geworden ist, daß sein Anblick sie offenbar (ver-) stört, ja, daß sie sogar per Gericht ihre durch dieses Bild scheinbar bedrohte Freiheit einklagen; in Zeiten, da die Bilder von gequälten, gefolterten, getretenen, verletzten und getöteten Menschen jeden Tag in Massen konsumiert werden; in Zeiten wie diesen also ist der einfache Satz: Du sollst nicht töten! beinahe grotesk wahr, grundlegend und befreiend. So grotesk wirkt das, daß es kaum der Rede, geschweige denn einer Predigt wert zu sein scheint, sich über diesen Wahrheitsgehalt und jenes Mißverhältnis der Zeit zu dieser Wahrheit Rechenschaft abzulegen.

Du sollst nicht töten. Nicht morden! Auch für die ersten Hörer in alttestamentlicher Zeit war dieser Satz so unmißverständlich, daß er keiner begründenden oder erklärenden Zusätze bedurfte: nicht des Hinweises auf die Befreiung aus der Knechtschaft, nicht auf die Heiligkeit des Namens, nicht auf die Schöpfung, die die Ruhe Gottes und entsprechend die des Menschen am Sabbat/Sonntag einleuchtend macht, auch nicht auf den Zusammenhang der Generationen, der die gegenseitige Achtung und den Erhalt des Lebens zu Voraussetzungen hat. Dabei bergen doch gerade diese Hintergründe - Befreiung und Heiligkeit, Schöpfung, Achtung und Erhaltung des Lebens - jeder für sich und Gott durch sie alle gute und angebrachte Begründungen in sich.

Nein, keine Zusätze und Hinweise, sondern ganz elementar und ganz einfach: Du sollst nicht töten. So einfach und elementar, daß der, der dies Gebot nicht beachtet und einen Menschen umbringt, sich selbst um die Grundlage seines Lebens bringt. Jedenfalls hat er den verlassen hat, der Leben schafft und heiligt, und kann sich nicht mehr auf sich und sein Leben verlassen. Er wird versuchen zu fliehen, vor sich und vor denen, die bisher nach ihm gefragt haben; Erklärungen werden gesucht und vielleicht einleuchten, und doch wird dieser Mensch keine Ruhe mehr finden. Er bringt durch sein Tun sich selbst um, so wie er Opfer und Trauer, Entsetzen und Angst hinterlassen hat.

Von daher gewinnt der Anblick des Gekreuzigten, der Blick auf den, der in den Tod ging, damit wir Leben finden, gerade im Gegenüber zum Bild des Menschen verletzenden, ja ums Leben bringenden Täters seine uns bewegende Bedeutung. Die Grenze wird sichtbar - zwischen Leben und Tod, zwischen Ehrfurcht und Mißachtung, zwischen Recht und Unrecht, eine Linie, die nicht die Welt in Gut und Böse teilt, sondern die Spur anzeigt, auf der wir als Menschen uns befinden und die wir nun in der Perspektive des Kreuzes sehen.

So einfach und elementar der Satz ist: Du sollst nicht töten, so sehr wird dieser Satz, diese Grundlage des Zusammenlebens, vergessen und mißachtet: Es wird verletzt und gefoltert, entrechtet und bedroht, geschunden und gemordet, daß ganze Industrien sich davon gut ernähren. Menschen bringen sich um. Und Gott wird gemartert und ans Kreuz geschlagen, hier wie überall.

Die Täter, all die, die tötend das Leben verloren geben, sie sind aber nur die eine Seite. Das Perverse der Situation kommt oft erst dadurch heraus, daß wir uns in der Rolle der Voyeure wiederfinden und dabei von den objektiven Tätern und ihren Nutznießern nur ein paar Bit entfernt erscheinen.

Ein israelischer Schriftsteller, Etgar Keret, hat jetzt (laut "taz" v. 8.3.02) von einem Fernsehsender seines Landes berichtet, der um der Aktualität willen den Fernsehschirm aufgeteilt hatte: In der einen Hälfte waren Bilder vom jüngsten Selbstmordanschlag zu sehen, in der andern Hälfte wurde das Fußballspiel weiter übertragen; fünf Tote links gegen drei Tore rechts - Normalität der Voyeure in einer gegen Gewalt beinahe immunisierten Gesellschaft.

Vielleicht reicht es nicht, vom Voyeur in uns zu reden, wenn die Verfolgung der Krimis zur abendlichen Norm geworden ist. Gewöhnung an Schreckensbilder, Verwechslung von Unterhaltung und Abwehr des Schreckens durch seine Einverleibung - wie auch immer. Was für Passionen!

Erinnern Sie sich an das Bild des kleinen palästinensischen Jungen, der - vor laufender Kamera - in den Armen seines schwer verletzten Vaters erschossen wurde; es ist noch gar nicht so lange her. Gestern berichtete eine ARD-Redakteurin von ihren Untersuchungen zu diesem Bild (wie zu andern solchen Schreckensbildern). Israelische Streitkräfte haben aus Sicherheitsgründen die Mauer, den Tatort, beseitigt, der Vater wie andere Palästinenser machen nun Propaganda mit diesen 50 Sekunden des Grauens - mehr Filmmaterial (6 Minuten lang) existiert, wird aber vom französischen Sender aus unbekannten Gründen nicht freigegeben. Die Redakteurin gibt in einem Vorausbericht wieder, was Rekontruktionsversuche ergeben haben: Die dort stationierten israelischen Scharfschützen können es nicht gewesen sein; möglicherweise haben palästinensische Bewohner hinter ihnen geschossen und dabei das Kind und den Vater getroffen...

Die sich ständig steigernden Aggression zwischen Israelis und Palästinensern machen im Lande der Zehn Gebote dafür aufmerksam, daß das Nicht-Töten Grundlage für den Frieden sein kann, wenn denn Menschen damit rechnen und nicht das body counting den Tag beherrscht wie die Nacht.

Rache, Blutrache, diese Motive scheinen seit Menschengedenken und der biblischen Grundlegung dazu ausgeschlossen. Nicht zuletzt die Attentate des 11. Sept. und die seither erfolgten Versuche einer Eindämmung des Terrors lassen aber erkennen, daß die Motive in Wirklichkeit so säuberlich nicht zu trennen sind.

Wenn das Gebot nicht nur verblassende Schrift an der Wand sein soll, ist es Anleitung, die Grenzlinie wahrzunehmen zwischen Leben und Nicht-Lebenlassen; zugleich wird der Blick auf den, der getötet wurde um des Lebens willen, tatsächlich zur Perspektive.

Uns wird die Grenzüberschreitung durch den einfachen Satz: Du sollst nicht töten! so eingeschärft, daß wir auch in diesen Zeiten nicht an uns selbst vorbeikommen. Wenn Töten das Ausschalten (! Dieser Technizismus zeigt auch unsere medial vermittelte Menschensicht!) des Andern bedeutet, wird im Akt der Vernichtung auch der Zugang zum eigenen Leben verhindert - du sollst nicht töten, du bringst dich um dein Leben!

Die Grenze zum Nicht-Leben einzuhalten - das fünfte Gebot birgt in sich den Schutz des Lebens, eben darum ist es ja in seiner Elementarität in die verschiedenen Gesetzeskodizes der uns bestimmenden Kultur eingegangen.
Schutz des Lebens und Grundlage für Frieden!

Ein Kriegsschauplatz, der allmählich erst ins allgemeine Bewußtsein dringt, ist durch die Auseinandersetzung um die Genethik sichtbar geworden. Da beginnt etwas, was Folgen für Individuen und ganze Generationen in sich trägt: Eingriffe in die Keimbahn, die nicht wieder einzuholen sind. So sind die gegenwärtigen Scharmützel um Forschungsfreiheit und Schutz des beginnenden Lebens wohlmöglich Vorboten eines größeren Kriegs um die Welt: Wer beherrscht die therapeutisch gewünschte Technik und wer nutzt dies für seine, Menschen aus aller Heiligkeit und Freiheit, Achtung und Zusammenghörigkeit mit der übrigen Schöpfung herauslösenden Ziele aus?

Das einfache: Du sollst nicht töten! greift hier wirklich auf elementare Weise ein. Unsere Ehrfurcht vor dem Leben sollte nicht kleiner sein als die Erkenntnis, daß uns damit gesagt ist, was Gott will - und was er tut: Der Leben unter seinen Schutz stellt, das ist der, der sein Leben gibt - für uns!

Von Afghanistan bis Zimbabwe, von Israel und Palästina über uns bis in die USA, an den Schauplätzen des Schreckens und in den eigenen Herzen brauchen die Menschen den, der sagt, du sollst nicht töten - du sollst leben.

Amen.

Jobst von Stuckrad-Barre, Hannover
e-mail: Jobst.vonStuckrad-Barre@evlka.de


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