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Predigten und Texte zum Dekalog, April 2002
Reflexion zum 9. Gebot, Michael Sievernich

Haus des Nächsten - das 9. Gebot in theologisch-praktischer Perspektive

Wer theologisch über das 9. Gebot des Dekalogs nachdenkt, muß zunächst die bis heute nachwirkenden Tradierungsformen in der katechetischen Literatur erläutern und sodann den Gehalt der biblischen Formulierungen darlegen, um auf diesem Hintergrund die Bedeutung für die Gegenwart darlegen und theologisch stimmig sowie praktisch relevant erörtern zu können.

Die katechetischen Traditionen
"Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus." so formulierte Martin Luther das 9. Gebot des Dekalogs in seinen Katechismen. In den katholischen Katechismen derselben Zeit lautet das 9. Gebot anders: "Du sollst nicht begehren das Weib deines Nächsten." Diese konfessionelle Differenz, die bis in die Gegenwart gilt, verweist auf die verwirrende Vielfalt der Zählungen der Zehn Gebote, die sich zum einen aus den unterschiedlichen biblischen Überlieferungen und zum anderen aus theologischen Akzentuierungen im Lauf der Geschichte ergibt. Die katholische und die lutherische Zählung kommen jedoch darin überein, dass sie der Tradition des Augustinus verpflichtet sind, welche aus systematischen, trinitätstheologischen Gründen die ersten drei Gebote als Pflichten der Gottesverehrung der ersten der beiden Tafeln zuweist, während sie die restlichen sieben Gebote, die Pflichten gegenüber dem Nächsten betreffend, der zweiten Tafel zuweist. Der augustinische Systemzwang führte in der katechetischen Tradition, die mittelalterlich und neuzeitlich den Dekalog als Gliederungsprinzip der materialen Moral benutzte, einerseits zur Auslassung des Bilderverbots, das aber von den reformierten Kirchen wieder aufgegriffen wurde, und andererseits zur Notwendigkeit, um die Zehnzahl zu erfüllen, das eine biblische Verbot des Begehrens, das sich auf Personen, Tiere und Sachen bezog, in zwei Verbote des Begehrens zu splitten, wobei die Aufteilung, durchaus mit Berufung auf die biblischen Texte, konfessionell nochmals unterschiedlich ausfiel (s. oben). Die jüdische, orthodoxe und reformierte Tradition kennen nur ein Begehrungsverbot (10. Gebot), weil sie das 1. Gebot in die zwei Verbote (andere Götter, Bilder) unterteilen.

Überdies kommen die Katechismen lutherischer und katholischer Prägung darin überein, dass beide die Präambel des Dekalogs, die von Gottes befreiendem Handeln an seinem Volk (Herausführung aus dem Sklavenhaus Ägypten, Ex 20, 2) erzählt, leider nicht erwähnen und daher keine narrative Begründung des Dekalogs bieten, sondern zum Nachteil der Auslegung eine autoritative vorziehen. Da nach Luthers programmatischer Hermeneutik des Alten Testaments geschichtliche Ereignisse wie der Exodus nur für die Juden, aber nicht mehr für die Christen relevant sind, bedeutet dies für die Auslegung des 9. und 10. Gebots, dass diese beiden Gebote "eigentlich ausschließlich den Juden gegeben" sind, wenngleich sie dann "doch auch teilweise uns betreffen" (Großer Katechismus).

Die biblischen Texte
Im Wortlaut des Alten Testaments findet sich in der Dekalogfassung des 2. Buch Mose nur ein Verbot des Begehrens (10. Gebot): "Du sollst das Haus deines Nächsten nicht begehren." (Ex 20, 17a) Denn nach den neun vorausgehenden Geboten und Verboten, darunter das Bilderverbot, blieb nur noch ein Platz übrig, um die Zehnzahl zu erreichen. Unter "Haus" versteht der hebräische Sprachgebrauch zum einen ein festes Gebäude; dieses setzt Seßhaftigkeit voraus, bezieht sich also nicht auf das Nomadentum. Zum anderen bezeichnet "Haus" über das Gebäude hinaus das Land, auf dem es steht, den Grundbesitz, aber auch das gesamte Hauswesen, das zum Besitz eines freien Vollbürgers gezählt wird. Dazu gehören die nicht voll rechtsfähigen Personen, wie die Familienangehörigen sowie die Sklaven und Sklavinnen, aber auch die Tiere und die zum Haus gehörigen Sachgüter. Daher erläutert auch der biblische Text, was mit "Haus" gemeint ist und bezieht es in das Verbot des ungeordneten Begehrens ein: "Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren, seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder sein Esel, oder irgend etwas, was deinem Nächsten gehört." (Ex 20, 17b) Das Verbot schützt also ursprünglich den Besitz des freien Israeliten und verbietet alle Unternehmungen und Machenschaften, diesen Besitz, den Anteil am verheißenen Land, an sich zu reißen.

Heute kommt es uns anstößig und die Menschwürde verletzend vor, auch die Ehefrau (und das Hausgesinde) zum Besitz des Mannes zu rechnen und sie neben den Tieren und Sachgütern aufzuzählen. Im Alten Israel aber war die soziale Stellung der Frau tatsächlich sehr schwach, auch wenn die Frau nicht, wie in anderen altorientalischen Rechtsordnungen, verkauft werden konnte. Da die Frau als Sache begriffen wurde, galt es als Eigentumsdelikt, sich an der Frau eines anderen zu vergreifen. Das damit gegebene Problem, eine Person als Sache zu behandeln, nahm man allerdings schon im Alten Israel wahr, wie die Fassung des Dekalogs im 5. Buch Mose zeigt, die zwar mit der Exodus-Fassung im wesentlichen übereinstimmt, doch bei der Formulierung unseres Gebotes insofern abweicht, als es die Frau nicht mehr zum Hausrat rechnet, sondern sie an erster Stelle nennt (Dt 5, 21a) und damit den Weg ihrer Anerkennung als ebenbürtige Person anbahnt. Der Unterschied drückt sich auch in den verschiedenen Verben aus, für das Verlangen nach der Frau und das Begehren des Hauses verwendet werden. Diese Aufteilung hat auch zur Folge, dass unter "Haus" nicht mehr die gesamte Habe zu verstehen ist, sondern nurmehr das Gebäude, zumal nun auch das Feld eigens genannt wird (Dt 5, 21b). Damit war der Weg gebahnt, das 10. Gebot in zwei aufzuteilen, was die Notwendigkeit mit sich brachte, die beiden ersten Gebote, um die Zehnzahl zu bewahren, auf ein Gebot zu reduzieren. Die Vielfalt der katechetischen Zählungen der Gebote kann sich mithin darauf berufen, dass es zwei Fassungen des Dekalogs und die Aufteilung des ursprünglich einen 10. Gebots in der Deuteronomiumversion gibt.

Bei der Auslegung des Verbots, das "Haus" des Nächsten zu begehren, wird man also den verschiedenen biblischen Versionen des Dekalogs entsprechend darauf achten müssen, ob man vom "Haus" im umfassenden Sinn des gesamten Hab und Guts nach altorientalischer Vorstellung spricht, oder in einem eingeschränkten Sinn, der die soziale Stellung der Frau berücksichtigt, oder in einem übertragenen Sinn, demzufolge das zu schützende und zu bewahrende "Haus des Nächsten" die materiellen und geistigen Lebensbedingungen meint, die nicht angetastet, nicht "begehrt" werden dürfen. Auf jeden Fall jedoch ist das Verbot mit der Präambel des Dekalogs in Verbindung zu bringen, die lautet: "Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus."(Ex 20,2; Dt 5, 6) Denn solche Lebens- und Arbeitsbedingungen, die das Volk Israel in der Fron Ägyptens erfahren hat, nämlich Ausbeutung, Enteignung und Beraubung der Lebensgrundlagen und der Freiheit (Ex 1, 14), soll es künftig es nicht mehr geben. Vielmehr soll das Volk durch Einhalten der als Freiheitsregeln verstandenen Gebote den von Gott eröffneten und geschenkten Freiheitsraum schützen und in Gemeinschaft miteinander und mit Gott ohne Versklavung und im Genuss der Güter leben. In diesem Sinn ist auch das 9. Gebot eine Freiheitsregel, welche im Interesse der eigenen Freiheit den Lebensraum des anderen vor dem ungeordneten Begehren anderer schützt.

Die heutigen Verhältnisse
Wer sich in homiletischer Absicht mit dem 9. Gebot befaßt, darf nicht bei der Rekonstruktion des historischen Kontextes stehenbleiben, sondern muß im Sinn einer applikativen Hermeneutik das biblische Wort im Kontext der Gegenwart erschließen. Welchen aktuellen theologischen und ethischen Sinn kann man dem 9. Gebot in der späten Moderne abgewinnen, die doch ganz andere Rechtsordnungen und moralische Überzeugungen kennt?

Von grundsätzlicher theologischer Bedeutung ist dabei ein Verständnis der "zehn Worte", welche die Gebote, also auch das 9. Gebot, nicht als Begrenzung der Freiheit oder zusätzliche moralische Last interpretiert, sondern als Freiheitsregeln, welche das Leben in Freiheit und Gemeinschaft gewährleisten sollen. Wer aber die gesetzten Grenzen überschreitet, entzieht dadurch den anderen und auf Dauer auch sich selbst die Lebensgrundlage. Man würde dem 9. Gebot (und den anderen Geboten) allerdings nicht gerecht, wenn man es als Teil eines allgemein gültigen Weltethos verstehen würde, auf das ich die Menschen guten Willens schnell einigen können. Zwar ist es rechtliches und ethisches Allgemeingut, dass man dem anderen nicht Hab und Gut wegnehmen darf, wie es im 7. Gebot als Verbot des Stehlens formuliert ist (Ex 20, 15), aber das 9. Gebot verbietet schon das Begehren, das Haben-wollen dessen, was dem anderen gehört. Hier bahnt sich also jene Verinnerlichung der sittlichen Pflicht an, derzufolge das Böse nicht erst im Tun sichtbar wird, sondern schon im bösen Herzen beginnt. Diese Verinnerlichung wird bei den alttestamentlichen Propheten immer wieder angemahnt und findet sich vor allem in der Verkündigung Jesu, die das "reine Herz" (Mt 5, 8) preist sowie das Böse im Herzen geißelt (Mt 15, 18ff), und alle Gebote im Doppelgebot der Liebe "aus ganzem Herzen" zusammenführt (Mt 22, 34-40).

Dazu kommt, dass der Dekalog als ganzer und die einzelnen Gebote grundsätzlich auf jenes vorgängige Handeln Gottes zu beziehen sind , wie es in der Präambel des Dekalogs als befreiendes Handeln Jahwes geschildert wird. Das 9. Gebot ist also kein "kategorischer Imperativ", sondern eher ein "responsorischer" Appell, der dazu auffordert, auf Gottes Handeln mit dem eigenen Handeln zu antworten und insofern vor Gott "Verantwortung" für den Nächsten zu übernehmen. Nähme man die Gottesbeziehung aus dieser sittlichen Verantwortung heraus, würde man das ethische Verhalten seines theologischen Grundes berauben.

Auf dem weiten ethischen Feld des 9. Gebots ist von jener Natur des Menschen auszugehen, die Luther im Großen Katechismus realistisch schildert: "Denn so, wie die Natur geartet ist, gönnt niemand dem anderen soviel als sich selber, und jeder bringt an sich, so viel er nur kann; ein anderer soll bleiben, wo er mag." Dieser Natur eingedenk und im Hinblick auf die heutigen Verhältnisse, lenkt das 9. Gebot die Aufmerksamkeit auf die Verantwortung der Christen für die Ausgestaltung der Arbeitswelt, für den rechten Umgang mit dem Eigentum und für die Sorge um eine gerechte wirtschaftliche Ordnung, auch im globalen Maßstab. Dabei geht es etwa um die Anerkennung der Arbeit und den gerechten Lohn, um die Überwindung der Arbeitslosigkeit, aber auch um die Ausgestaltung humaner Arbeitsbedingungen und unternehmerische Initiative. Was den Umgang mit dem Eigentum in seinen vielfältigen Formen (z. B. Grund-, Gebrauchs-, Geldeigentum, geistiges Eigentum) angeht, so ist einerseits auf die Gemeinbestimmung hinzuweisen, nach der alle Menschen ein ursprüngliches Nutzungsrecht an den Gütern der Erde haben, und andererseits auf das persönliche Freiheitsrecht des Eigentums, das am Gemeinwohl seine Grenze findet, wie denn auch die Sozialpflichtigkeit des Eigentums darauf verweist, dass der Gebrauch der Güter an die Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer gebunden ist.

Im Bereich des wirtschaftlichen Verhaltens können nur einige wenige Aufgaben kurz genannt werden. Zum Schutz des Eigentums des Nächsten gehören neben dem Verbot des Diebstahls etwa das Verbot, sich widerrechtlich fremdes Eigentum anzueignen oder es zu beschädigen. Dass dies auch durch Betrug, oft unter dem Schein des Rechts geschehen kann (z. B. Unterschlagung, Veruntreuung, unlauterer Wettbewerb), hat schon Luther hellsichtig gesehen, als er es im Kommentar des 9. Gebots für verboten erklärte, dem Nächsten unter dem Schein des Rechts etwas zu nehmen oder mit Hilfe des Rechts dem anderen etwas abzujagen, zum Beispiel eine große Erbschaft, oder auch den Nächsten bei Kaufgeschäften listig zu übervorteilen (Gr. Katechismus). Heute gehört auch die Achtung vor dem sozialen Eigentum in den Bereich des 9. Gebotes. Sei es das materielle Eigentum in Gestalt von öffentlichen Einrichtungen oder von sozialen Sicherungssystemen, die nur funktionieren, wenn das Solidarprinzip eingehalten wird. Sei es das geistige Eigentum und die damit gegebenen Urheberrechte, bis hin zu Raubkopien von CDs oder Computerprogrammen.

Das "Haus des Nächsten" steht im Zeitalter der Globalisierung nicht nur in nachbarschaftlicher Sichtweite, sondern auch in weit entfernten Gegenden, so dass sich auch das Begehrensverbot globalisiert. Da überdies das der Entfaltung der Persönlichkeit dienende Eigentumsrecht allen zusteht und prinzipiell niemand ausgeschlossen werden darf, steht im Horizont des 9. Gebots auch die Fragen der hinreichenden Erzeugung und gerechten Verteilung der Güter, damit alle ihr "Haus" haben, in dem sie menschenwürdig leben können. Doch gibt es faktisch eine zunehmende Ungleichheit der Lebensverhältnisse, die bewirkt, dass ein Teil der Menschheit über Geld, Güter und Dienstleistungen im Überfluß verfügt, während ein großer anderer Teil kaum die Grundbedürfnisse befriedigen kann, die mit einem täglichen US-Dollar zu stillen sind. Damit die zunehmende Globalisierung nicht große Teile der Menschheit oder ganze Kontinente wie Afrika ausschließt, bedarf es einer Globalisierung der Solidarität und Verantwortung, um eine sozial gerechte Teilhabe an den Gütern wenigstens auf den Weg zu bringen. Dabei verlangt der Schutz des "Hauses der armen Nächsten" eine "vorrangige Option für die Armen" als moralisches Kriterium für wirtschaftliches Handeln und politische Entscheidungen, wie sie im gemeinsamen Wort der deutschen Kirchen Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (1997) gefordert wird. Dabei dürfte der Einsatz für größere soziale Gerechtigkeit eng verbunden sein mit dem Abbau von allen Formen der Korruption in Geber- und Empfängerländern, aber auch mit der Beachtung der ökologischen Nachhaltigkeit. So gesehen, geht es also auch um die strukturellen Bedingungen, unter denen das "Haus des (armen) Nächsten" aufgebaut und vor dem "Begehren" geschützt werden kann. Wer das Geschenk der Freiheit durch Gott im Glauben als Gabe erkennt und annimmt, wird es in der Liebe als seine Aufgabe betrachten, das "Haus des Nächsten" zu respektieren und so auszustatten, dass aus allen Häusern allmählich jene Stadt ersteht, die am Ende der Tage von Gott her in die himmlische Stadt verwandelt werden kann (Offb 21).

Prof. Dr. Michael Sievernich SJ
Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt /M.
E-Mail: siev@st-georgen.uni-frankfurt.de


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