Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Jahreslosung 2002
Predigt über Jesaja 12,2, verfaßt von Dorothea Zager

Ja, Gott ist meine Rettung;
ihm will ich vertrauen und niemals verzagen.
Jesaja 12,2

I.
Kaum etwas ändert sich sowenig wie der Silvesterabend, liebe Gemeinde. Wir sind alle noch irgendwie ein bisschen erschöpft vom Weihnachtstrubel, zugleich dankbar für die geruhsamen Tage "zwischen den Jahren". Die Wenigsten mussten in dieser Zeit viel arbeiten. Banken, Sparkassen, Geschäfte laufen zwischen den Jahren auf Sparflamme. Wir tun uns in diesen Tagen Gutes, als Entschädigung für den Stress, den wir uns vor Weihnachten selbst gemacht haben.

Kaum etwas ist also so beständig wie der Silvesterabend. Wir stellen den Sekt kalt und bereiten ein kleines Essen vor. Freunde wollen kommen, um mit uns um Mitternacht anzustoßen. Die einen legen Feuerwerksraketen zurecht, weil sie es immer tun. Die anderen haben keine gekauft, weil sie es noch nie taten - aus Prinzip.

Kaum etwas ist so beständig wie der Silvesterabend. Wir haben auch jedes Jahr nahezu die gleichen Gedanken, und die gleichen Gefühle. Wir denken zurück an das vergangene Jahr. Wieder ist es rasend schnell vorübergangen, so kommt es uns vor. Da waren herrliche Tage, an denen wir gelacht haben und glücklich waren. Unser Urlaub, oder die Feste, die wir gefeiert haben. Geburtstage, Jubiläen, die Kerwe und das Dorffest/ Winzergassenfest. So wie jedes Jahr. Selbst hier in unserer Kirche. Da waren Hochzeiten, glückstrahlende Augen, liebevolle Küsse. Da waren Taufen, glückstrahlende Eltern, stolze Großeltern, ungeduldige Geschwisterchen. Und wie jedes Jahr auch wieder Tränen. Schmerz und Trauer um Angehörige. Gebet um Gesundung von Krankheit. Gebet um Rettung der Ehe. Gebet um Erhalt der Arbeitsstelle.

Kaum etwas ist so beständig wie am Silvesterabend. Denn ein Jahr, das zurückliegt, kommt uns immer wieder gleich vor: ein Weg durch Sonnenlicht und Wärme, durch Dunkelheit und Nebel, durch Gewitterstürme und Frost. Auch 2001 war das so. Oder nicht?

Liebe Gemeinde, es gibt keinen einzigen Tag im Jahr, an dem ein und dieselbe Sendung jedes Jahr und zwar in verschiedenen Programmen immer wieder ausgestrahlt wird: Dinner for one. Es ändert sich eben nichts. The same procedur than every year. Silvester für Silvester. Warum sonst wiederholen wir immer und immer wieder diese Sendung, und warum sonst hören auch heute Abend wieder tausend von Menschen die uralten und ewig neuen Worte: "The same procedur than every year, Mylady? The same procedur than every year, James!"

Nein, liebe Gemeinde, es ist nicht "the same procedure than every year". Im Gegenteil - in keinem Jahr ist Silvester wirklich gleich - wenn es uns auch so vorkommt. Und schon gar nicht in diesem Jahr 2001. Wir verändern uns mit jedem Jahr, dass wir leben. Die Welt verändert sich mit jedem Jahr, das sie existiert. Und das Jahr 2001 hat die Welt enorm verändert, und uns auch.

II.
Der 11. September 2001 hat uns tief erschreckt und erschüttert. Dass Menschen aufeinander schießen, einander wehtun und töten - leider kannten wir diese grausame Wahrheit schon lange aus vielen, vielen Berichten rund um den Erdball. Kein Jahr war bisher vergangen ohne Blutvergiessen, Mord und Krieg. Dass aber nun ganze Flugzeuge mit unschuldigen Zivilpersonen an Bord zu einer Waffe umgewandelt werden, die dann wiederum Tausende Menschenleben auslöscht, das war etwas entsetzlich Neues, etwas unfassbar Brutales.

Wir Menschen reagierten alle gleich: mit Angst
Angst vor Vergeltungsschlägen.
Angst, dass Amerika panisch reagiert und Afghanistan übereilt angreift.
Angst, dass wir als Nato-Land mithineingezogen werden in den Konflikt.
Angst vor einem dritten Weltkrieg.
Wir reagierten mit ohnmächtigem Zorn. Wir wünschten Vergeltung, Höchststrafen, Verdammung, Krieg gegen die Verbrecher. Gerade darum war die Lage für uns alle so gefährlich. Weil selbst wir als Christen in unserem tiefsten Herzen anfingen zu hassen und nach Gewalt zu rufen.
Wem können wir jetzt noch vertrauen? Wer kann uns jetzt noch retten in dieser verfahrenen Welt? Wird unsere Welt nun immer brutaler, gefährlicher, gewaltbereiter? Wen können wir jetzt noch vertrauen?

Gerade an einem solchen Silvesterabend suchen wir nach einem, dem wir vertrauen können. Einen, von dem wir Rettung erwarten dürfen, einen, der uns an die Hand nimmt und uns sagt: Verzage nicht. Vertraue. Ich bin bei Dir.

Es ist wie ein Geschenk, liebe Gemeinde, dass wir heute Abend eine Jahreslosung für das neue Jahr hören dürfen, die uns genau dieses verspricht: "Ja, Gott ist meine Rettung; ihm will ich vertrauen und niemals verzagen". Von ihm dürfen wir Rettung erwarten. Er nimmt uns an die Hand und sagt uns: Verzagt nicht. Habt keine Angst. Ich bin bei euch. Auch im Wandel der Zeit.

III.
Und noch etwas, liebe Gemeinde: Ich musste heute morgen lächeln, als auf unserer Wormser Zeitung oben rechts ein Glücks-Cent klebte. Mir fällt das Wort richtig schwer: Glücks-Cent! Denn seit meiner Kindheit kenne ich - wie viele von Ihnen - ja nur den Glückspfennig. Jetzt also werden wir stattdessen den Glücks-Cent im Portemonnaie tragen. Die Hacken unserer Stöckelschuhe, meine lieben Geschlechtsgenossinnen, werden ab jetzt Cent-Absätze haben und nicht mehr Pfennigabsätze. Und wer lange nichts kapiert, bei dem fällt ab nicht mehr der Groschen sondern das 5-Cent-Stück. Weder den Notgroschen wird es jetzt mehr geben, noch die Mark, die man zweimal rumdreht, bevor man sie ausgibt. Sie heißt jetzt Euro.

Viel Wind wurde um die Währungsumstellung gemacht. Meines Erachtens auch viel zu viel Werbung und vertrauensbildende Maßnahmen. Es ist alles Unsinn: Die D-Mark verschwindet und der Euro kommt. Und er kommt sowieso, ob es uns nun gefällt oder nicht. Aber auch deshalb ist dieses Silvester ein anderes Silvester als die Jahre zuvor.

Viele sind skeptisch. Zwar haben sich fast alle solch ein Starter-Kit geholt, um die neuen Münzen mal in der Hand zu halten. Aber skeptisch sind wir doch geblieben. wirtschaftsunkundige Menschen wir unsereins fragt sich dann schon mal: Heißt es nicht dauernd der Euro verliert an Wert gegenüber dem Dollar? Taugt dieser Euro etwa nichts? War die DM nicht härter? Besser? Kann es nicht sein, dass mich meine Versicherung, die Geschäftsleute, der Staat mit dem Umrechnungskurs über's Ohr hauen? Und das dann aus dem Euro ein Teuro wird?

Wissen Sie, dass wir ab morgen von Griechenland bis nach Irland, vom Nordkap bin nach Sizilien mit demselben Geld bezahlen können? Keine Umrechnerei in Lire, Drachmen und Pfund, kein unsicheres Herumfummeln mehr mit unbekannten Münzen. Es wird sein, als wären wir zuhause. Und eines Tages wird Europa ein großes Land sein, in dem wir alle zuhause sind. Und wir werden über die Grenzen zwischen den Staaten fahren, so wie wir es heute zwischen Nordrhein-Westfalen und Hessen tun oder zwischen dem Kreis Alzey-Worms und dem Donnersbergkreis. Ein Schild. Ein Willkommensgruß. Und wir sind noch immer zuhause. Der Euro, der ab morgen in unseren Geldbörsen klingelt, ist ein weiterer, wichtiger Schritt zu diesem einen gemeinsamen Heimatland Europa.

Es ist wie ein Geschenk, liebe Gemeinde, dass wir heute Abend eine Jahreslosung für das neue Jahr hören dürfen, die uns auf etwas hinweist, was tausend mal wichtiger ist als vertraute oder neue Münzen im Portemonnaie: Zu wissen, wir sind zuhause, egal wo wir sind. "Ja, Gott ist meine Rettung; ihm will ich vertrauen und niemals verzagen". Von Gott dürfen wir Vertrauenswürdigkeit erwarten. Er ist uns vertraut als unser Vater von Mutterleibe an. Und wir sind ihm vertraut als seine lieben Kinder. Er nimmt uns an die Hand und sagt uns: Verzagt nicht. Habt keine Angst. Ihr dürft Euch bei mir zuhause fühlen, egal, wo ihr seid. Ich bin bei euch. Auch im Wandel der Zeit.

III.
Ein Neubeginn macht uns immer ein bisschen Angst, liebe Gemeinde. Einerseits sind wir gespannt auf Neues. Andererseits haben wir oft das Gefühl: Früher war alles besser. Das Neue ist so anders, fremd und so unvertraut. Und wir wehren uns innerlich, wenn es heißt: Brich auf und geh in ein neues Land, in eine neue Zeit, in ein neues Jahr. Nein, ruft es da oft in unserem Herzen. Ich will das Neue nicht. Es macht mir Mühe. Bleib, Du vertrautes, altes Jahr, Du vertraute, alte Vergangenheit. Verweile doch, Du bist so schön.

Diesen Zwiespalt von Gefühlen hat der bekannte deutsche Schriftsteller Hermann Hesse in ein wunderbares Gedicht gefasst. Ich möchte nur wenige Verse daraus zitieren:

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!*

Sind wir bereit, Ihr Lieben, tapfer das alte Jahr loszulassen und vertrauensvoll in das Neue Jahr hineinzugehen? Aus eigener Kraft fällt es uns schwer, Abschied zu nehmen und dem Ruf unseres Lebens zu folgen. Wenn wir aber unsere Hand in die Hand Gottes legen, dann wird es uns leicht sein. Denn wir haben den Stärksten und den Ewigen an unserer Seite: unseren Vater.

So ist wie ein Geschenk, liebe Gemeinde, dass wir heute Abend die Jahreslosung für das neue Jahr hören dürfen, die mit diesem kleinen Wort beginnt, dass unser Herz heute nacht so dringend braucht: mit dem kleinen Wörtchen "Ja!"

"Ja, Gott ist meine Rettung; ihm will ich vertrauen und niemals verzagen". Ja, mit Gott gemeinsam wird es uns gelingen, die Anforderungen des neuen Jahres zu meistern. Ja, mit Gott gemeinsam wird es uns gelingen, die Fehler des alten Jahres nicht zu wiederholen. Ja, mit Gott gemeinsam wird es uns gelingen, unser eigenes Leben und das Leben in dieser Welt so zu gestalten, dass wir einander zum Segen werden.

An Gottes Hand dürfen wir uns zuhause fühlen, egal, wo wir sind. er ist bei uns. Auch im Wandel der Zeit.
Amen.

* Hier - für Interessierte - das Gedicht von Hermann Hesse in voller Länge:
Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Und neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

(Hermann Hesse)

Wem dieses Gedicht inhaltlich nicht so zusagt, dem sei folgende Geschichte als Alternative empfohlen:
Auf einer alten, halb verfallenen Mauer krabbeln zwei Jungs. Vier und fünf Jahre als sind sie. Die Eltern haben es verboten. Aber das macht es ja reizvoll. Sie klettern, spucken in die Tiefe, werfen Steine in den Hinterhof - sie tun eben alles, was Jungs in so einem Fall tun. Sie sind gleich tapfer und gleich mutig. Sie sind sich überhaupt sehr ähnlich. Könnten Zwillinge sein. Und manche Nachbarn reden immer nur von "den beiden", selten von einem alleine.
Es passiert, als sie wieder auch der Mauer sind, da bricht ein Teil der Mauer zusammen. Sie können weder vor noch zurück. Etwas kleinlaut sind sine. Immer ängstlicher. ein Mann kommt, will ihnen helfen und ruft: "Springt, ich fange euch auf!"
Seltsam. Die beiden so ähnlichen Jungs verhalten sich ganz verschieden. der eine springt sofort, der andere versucht es erst gar nicht. Er kauert sich weinend oben zusammen und wartet auf die Feuerwehr. Frage: Warum hat der eine Junge den Mut zum Sprung, der andere nicht?
Die Antwort ist eigentlich einfach:
Der eine Junge springt, weil der Mann unten sein Vater ist.
Der andere Junge springt nicht, weil es eben nicht sein Vater ist.
(aus: Gerhard Engelsberger, Gedanken zur Jahreslosung 2002, Pastoralblätter, Januar 2002, S. 7)

Dorothea Zager, Wachenheim
E-Mail: DWZager@t-online.de


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