Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Predigtreihe zum Vater-Unser
von Klaus Bäumlin
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Unser Vater im Himmel, dein Reich komme!
Nydeggpredigt am Bettag, 16. September 2001

Gott, unsere Ratlosigkeit über den Lauf der Welt, unser Entsetzen über die Verhältnisse, unter denen Menschen an Leib und Seele zugrunde gehen, unser Erschrecken über den Triumph der Gewalt, über die masslosen Zerstörungen - und wir denken jetzt nicht nur an New York und Washington! - , unsere Trauer über das namenlose Leid, unsere Schuld, durch die wir als die Reichen und Sicheren mit beteiligt sind an der Ungerechtigkeit - das alles bringen wir jetzt vor Dich, Gott. Vor Dich, weil Du der Schöpfer und Hüter des Lebens bist; vor Dich, weil Du allein die Welt erneuern und die Menschen befreien kannst aus dem Teufelskreis von Schuld und Angst, von Hass und Gewalt, vor Dich, weil allein Deine Liebe Schuld vergeben, Gewalt überwinden und unserer Erde Zukunft geben kann.

Wir wollen umkehren zu Dir:
die Gerechtigkeit suchen,
den Frieden bringen,
die Versöhnung leben.
Wir wollen umkehren zu Dir
Und in der Gemeinschaft mit Dir
Leben und feiern, ruhen und wirken.

"Unser Vater im Himmel! Dein Reich komme!" (Matthäusevangelium 6,10)

Liebe Gemeinde, es ist ja schon eine gehörige Zumutung, was Jesus seine Jünger - und uns! - da beten heißt. Sind wir uns eigentlich bewusst, um was wir da beten? Und wenn es uns bewusst ist - können wir wirklich im Ernst so beten? "Dein Reich komme!" - das ist ja ein Gebet, das gegen unsere ureigenen Interessen geht. Denn wenn es erhört werden und in Erfüllung gehen sollte, dann müssten ja unsere Reiche mit ihren Ordnungen, ihren geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen und Spielregeln vergehen.

Erstes Beispiel: unsere Schweiz mit ihrem demokratischen Staatswesen. Der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag gibt ja Gelegenheit, auch von diesem Reich zu reden. Den meisten von uns ist es recht wohl in diesem Reich, dass uns politische und zivile Rechte, ein ziemliches Mass an sozialer Sicherheit gibt und in dem wir als Bürger und Bürgerinnen mitbestimmen können und zu Hause sind. Zahllose Menschen indessen erfahren, dass sie in diesem Reich durchaus nicht willkommen sind, keine Rechte haben und jederzeit damit rechnen müssen, ausgeschafft zu werden. Ich denke an die sogenannten "Papierlosen" und an Asylbewerber. Jesus aber hat gesagt, ins Reich Gottes, da würden "viele kommen von Osten und von Westen und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen" (Mt 8,11) - also gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen sein. Sollte also die Bitte "Dein Reich komme!" in Erfüllung gehen, dann sähe unsere Schweiz mit ihren Grenzen, mit ihren dauernd revisionsbedürftigen Ausländer- und Asylgesetzen ganz anders aus. Ja, vielleicht brauchte es unsere liebe Eidgenossenschaft dann gar nicht mehr.

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Zweites Beispiel: In unserem Staat gilt zwar der Grundsatz, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. In unserer Gesellschaft hingegen regiert das ungeschrieben Gesetz der Ungleichheit. Nicht alle haben die gleichen Chancen. Nicht alle werden gebraucht. Es gibt Erste und es gibt Letzte. Es gibt solche, die viel leisten und sich viel leisten können. Und es gibt andere, die, aus was für Gründen auch immer, wenig leisten können und sich auch nur wenig leisten können. Die meisten von uns, die wir hier in der Kirche sitzen, kommen dabei ganz gut weg. Wir befinden uns zwar nicht gerade auf der Spitze der Pyramide, aber so ungefähr im oberen Drittel. Kein Grund also für uns, eine Änderung herbeizuwünschen oder herbeizubeten. Jesus aber hat das Reich Gottes verglichen mit jenem seltsamen Ökonomen, der allen Arbeitern im Weinberg den gleichen Lohn auszahlte, ob sie nun zehn, fünf oder bloss eine Stunde gearbeitet hatten. Und Jesus fügte hinzu: "So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein." (Mt 20,1-16) Im Reich Gottes wird nicht nach der Leistung verteilt, sondern danach, was jeder zum Leben nötig hat. Ganz schön revolutionär ist das. Überlegen wir es uns also gut, wenn wir beten "Dein Reich komme!"

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Drittes Beispiel. Zu unserem Reich gehört das Geld, seine alles beherrschende Bedeutung und der Umgang mit ihm. Wer über genügend Gelt verfügt, einen regelmässigen Lohn oder eine ausreichende Rente bezieht, dazu vielleicht Ersparnisse und Wertschriften hat, der ist eine der grössten Sorgen los. Er ist in vielen Dingen des Alltags unabhängig. Es ist ein gutes Gefühl, über Geld zu verfügen. Wem schon einmal in den Ferien im Ausland das Portemonnaie und die Kreditkarte abhanden gekommen ist, der hat, einen Tag lang jedenfalls, erfahren, was es heißt, ohne Geld zu sein. Ohne Geld geht einfach nichts in unserer Gesellschaft. Und ohne Geld zählst du nichts. Jesus aber hat die Armen glücklich gepriesen, denn ihnen gehöre das Reich Gottes. Und dem reichen Mann ,der ihn fragte, was er denn tun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen, hat er empfohlen, sich von seinem Reichtum zu trennen und ihn mit den Armen zu teilen. Denn eher gehe ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Reich Gottes. Und um dieses Reich, in dem die Armen mehr gelten als die Reichen, sollen wir beten! Schon eigenartig, was Jesus uns zumutet. Denn verglichen mit der grossen Mehrheit der Menschen auf der Erde gehören wir zu den Reichen.

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Viertes Beispiel. Das Reich, das weit mächtiger ist als jeder Staat und das seine eigenen Gesetzmässigkeiten hat, ist der globale Markt, in dem wir alle, ob wir wollen oder nicht, mitspielen müssen. Es ist ein Reich, das keine Rücksicht nimmt auf den Lebensbedürfnisse der grossen Mehrheit der Menschen und keine Rücksicht nimmt auf die Natur. Es konzentriert Reichtum und Macht auf einige Wenige. Es produziert Heerscharen von Arbeitslosen. Es marginalisiert Millionen von Menschen, stürzt sie in immer tieferes Elend. Es ist von unheimlicher, umweltumspannender zerstörender Gewalt und provoziert die wahnsinnige Gegengewalt von Leiten, die nichts zu verlieren haben. Jesus aber preist die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, die Friedensstifter und di um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden - ihnen werde das Reich Gottes gehören. Und er selber gehörte zu denen, die keine Gewalt ausübten. Er hat mit keiner Gewalt paktiert, weder mit der menschenverachtenden von oben noch mit der terroristischen Gegengewalt von unten. Vielleicht, liebe Gemeinde, beginnen wir zumindest an dieser Stelle zu verstehen, welche Befreiung und Erlösung es wäre, wenn die Bitte um das Kommen des Gottesreiches in Erfüllung ginge.

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Das zu verstehen, fällt uns wohl beim letzten Beispiel, das ich nennen möchte, viel schwerer. Es ist die Familie. Sie ist wie kaum ein anderes, unser Reich, unser ganz persönliches, eigenes Reich. Die Familie gibt uns Geborgenheit in der Zeit. Sie ist unser Zuhause. Ihr gilt unsere erste Sorge. Für sie leben wir. In wie manchem Lebenslauf anlässlich einer Abdankung ist der Satz zu hören: "Seine Familie war ihm das Wichtigste", oder: "Sie war immer zuerst für ihre Familie da." Jesus aber, als seine Mutter und seine leiblichen Geschwister nach ihm fragten, liess ihnen ausrichten: "Wer ist meine Mutter und meine Geschwister" Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise sassen und sprach: "Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder. Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter." (Mk 3,31-35) Und als sie ihn fragten, wie das mit den verheirateten Männern und Frauen im Reich Gottes sein werde, gab er zur Antwort: In der Auferstehung werde man nicht mehr verheiratet sein, da sei die Ehe kein Thema mehr. Ich nehme an, Jesus hat dabei an die vielen, vielen Menschen gedacht, denen das Glück von Ehe und Familie versagt ist, oder denen beim Thema Ehe und Familie eher ums Klagen und Weinen ist. Er selber war ja dann auch in erster Linie anzutreffen in der Gesellschaft von solchen, um die sich sonst niemand kümmerte und um die man einen weiten Bogen machte. Sie waren seine Freunde, Freundinnen. Mit ihnen feierte er fröhliche Bankette. Zu ihnen zählte er sich. Er gab ihnen die Gewissheit, dass sie im Reich Gottes willkommen sind.

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Also, liebe Gemeinde, können, wollen wir wirklich im Ernst beten "Dein Reich komme!" Geht das nicht gegen unsere ureigenen Interessen? Vielleicht kann man das wirklich nur im Ernst beten, wenn man entweder zu denen gehört, die in unseren Reichen das Nachsehen haben - oder wenn man ein Gespür hat für die Widersprüche und Abgründe unserer Reiche; ein Gespür für ihre Ungereimtheiten, ihre Schattenseiten und Ungerechtigkeiten, für das Potential an versteckter und offener Gewalt und Zerstörung, das von ihnen ausgeht, ein Gespür für das Leid, die Not und die Tränen, auch die Friedlosigkeit, den Hass und die Verzweiflung, die sie erzeugen.

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Aber ist es denn nicht eine blanke Illusion, auf ein Reich zu hoffen und zu warten, das alle unsere Reiche überflüssig und bedeutungslos werden lässt - ein Reich, welches Leben in Fülle, in Gerechtigkeit und Frieden für alle bringen wird? Ist dieses Reich nicht schiere Utopie, etwas, was nie einen Ort haben wird? Wann wird es denn kommen, das Reich Gottes? Diese Frage haben sie schon Jesus gestellt. Und seine Antwort: "Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man's beobachten kann. Auch wird man nicht sagen: Da - hier ist es! Oder: Dort ist es! Das Reich Gottes ist mitten unter euch." (Lk 17,21) Und er hat es verglichen mit einem Senfkorn: "Einmal auf die Erde gesät, obschon kleiner als alle Samen auf der Erde, aber einmal gesät, steigt es auf und wird grösser als alle Kräuter und treibt Zweige so gross, dass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können." (Mk 4,31f.)

Wenn wir also im Ernst beten "Dein Reich komme!", liebe Gemeinde, dann sind wir bereits involviert in sein Kommen, mit beteiligt und mit verantwortlich, dass unser Beten in Erfüllung geht. Das Unser-Vater-Gebet verändert etwas in uns selbst. Es nimmt uns in die Pflicht und richtet unser Leben aus. Es inspiriert uns zu neuen Spielregeln, zu neuem Verhalten, es ermutigt uns, uns an neue Ordnungen zu halten, andere, als sie in unseren eigenen Reichen gelten. Mit seinem Gleichnis vom Senfkorn ermutigt uns Jesus. Wir können selber dabei sein bei der Erfüllung der Bitte um das Kommen des Gottesreichs. Unter uns, mit uns beginnt es sich zu erfüllen in kleinen Anfängen. So viele Möglichkeiten und Gelegenheiten, seine Spielregeln auszuüben. In der Politik bei der Abstimmung über Gesetze; in unserem Umgang mit dem Geld; mit unserem Versuch, über allem Erschrecken über terroristische Gewalttaten deren Ursachen zu verstehen; mit unserer Weiterung, in den Chor derer einzustimmen, die nur nach Rache und Vergeltung schreien; mit unserer Weigerung auch, andere Religionen pauschal zu verurteilen; als Väter und Mütter, Grossväter und Grossmütter, die über ihren eigenen Kindern und Enkeln die verlassenen Kinder der Erde nicht vergessen - so viele Möglichkeiten, liebe Gemeinde, dabeizusein, lebendige Zeugen zu sein für die Erfüllung der Bitte "Dein Reich komme!"

Denn wie sollten wir das Grosse, Ganze, das kommen soll, erwarten und darum bitten, wenn wir nicht auf die kleinen Anfänge achten, in denen es schon aufscheint und da ist!

(Der zweite Teil des Eingangsgebets stammt von Anton Rotzetter)

Klaus Bäumlin
Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Nydegg in Bern
E-Mail: klaus.baeumlin@mydiax.ch


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