Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Predigtreihe zum Vater-Unser
von Klaus Bäumlin
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"Unser Vater im Himmel, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern."
Nydeggpredigt zu Matth. 6,12 am 25. November 2001

Was meint den Jesus, wenn er uns den Vater im Himmel um Vergebung unserer Schuld bitten heißt? Es ist wohl gut, wenn wir zunächst einmal darauf achten, was genau da steht. Ein Vergleich mit dem Lukasevangelium ist aufschlussreich. Das Unservater-Gebet findet sich auch bei Lukas, allerdings in einer kürzeren Fassung (Luk. 11,2-4). Dort lautet unsere Bitte so: "Erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist." "Unsere Sünden" heißt es bei Lukas, "unsere Schulden" bei Matthäus - wohlgemerkt" "unsere Schulden" - das Wort steht im Plural, und es ist eigentlich schade, dass heute in der ökumenischen Fassung des Unservaters, entgegen dem biblischen Text, das Wort in der Einzahl steht.

Das griechische Wort (opheilémata), das mit "Schulden" übersetzt ist, stammt ursprünglich aus dem Rechtsleben. Es meint sehr konkret das, was ich einem andern schulde. Dabei geht es meistens um eine finanzielle Schuld, um den Kredit oder das Darlehn, das mit ein anderer gegeben hat. Ich denke, es ist gut, wenn wir uns diesen konkreten, materiellen Sinn vergegenwärtigen. Vielleicht hat die fünfte Bitte des Unservaters tatsächlich auch etwas mit ganz materiellen Schulden, mit Geld zu tun.

Jesus ist ein Kind Israels. Sein ganzes Denken und Reden ist geprägt von der Tora, von den Weisungen und Geboten Gottes. Zu ihnen gehört die Regel des Sabbat- oder Erlassjahres. Im Buch Leviticus, im dritten Mosebuch (25,8ff.) ist sie beschrieben: Jedes 50. Jahr sollte den Israeliten als Erlassjahr gelten, in welchem ein allgemeiner Schuldenerlass in Kraft trat. Wer sich in den Jahrzehnten zuvor verschuldet hatte und sein Grundstück verkaufen oder verpfänden musste, er erhielt es im 50. Jahr wieder zurück. Seine Schuld war getilgt und erlassen. Dasselbe galt, wenn jemand verarmte und sich bei einem andern zur Leibeigenschaft verdingen musste. Bei Beginn des Sabbatjahrs musste er frei gelassen werden. Zudem galt in Israel das Zinsverbot. Für ein gewährtes Darlehen durfte man keinen Zins einfordern. Alle diese Bestimmungen hatten zum Ziel, dauernde Verschuldung, Verarmung und Abhängigkeit zu verhindern. Gewiss denkt Jesus bei der Bitte des Unservaters nicht nur an finanzielle, materielle Schulden - Gott gegenüber haben wir ja keine finanziellen Schulden. Aber ich bin überzeugt, dass er beim Nachsatz "wie auch wir vergeben unsern Schuldnern" auch an finanzielle Schulden denkt.

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"Unser Vater im Himmel vergib uns unsere Schuld". Es gibt Schulden, die wir nicht selber erlassen und vergeben können. Denn vergeben und erlassen würde doch bedeuten, den angerichteten Schaden wieder gut machen. Wer aber könnte wieder gut machen, was Menschen einander angetan haben an Unrecht, Leid und Gewalt? Wer könnte zum Beispiel gut machen, was der schwarzen Bevölkerung Afrikas zur Zeit der Kolonialisation von den weissen Eroberern angetan worden ist - die Vernichtung eigener Kulturen, das Elend der Sklaverei? Wer könnten gut machen, was vor sechzig Jahren den Juden und Jüdinnen in Europa widerfahren ist? Wer könnte die Schuld erlassen, durch die die Schweiz schuldig geworden ist, als sie jüdische Flüchtlinge über die Grenze in den sichern Tod zurückschickte? Da hilft keine spätere Entschuldigung und Einsicht.

Das Fatale ist, dass solche unvergebbare Schuld fortwirkt über Generationen, wie ein Tumor, der nach der Operation seine Ableger im ganzen Körper hinterlässt. Die koloniale Aufteilung des Schwarzen Kontinents ist noch heute eine der Ursachen für die nicht enden wollenden Bürgerkriege. Und der unlösbare, eskalierende Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern wäre so nicht entstanden, wenn die Juden nicht in Europa die Heimat verloren hätten.

Doch wir brauchen bei den Schulden, die wir selber nicht erlassen können, nicht einmal an diese grossen geschichtlichen Zusammenhänge zu denken. Wir sind ja auch da in unserem eigenen kleinen Leben. Versäumtes und Unterlassenes, feiges und bequemes Wegschauen und Sich-draus-Halten, wo mutiges Eingreifen nötig gewesen wäre, schweigen, wo man das rechte Wort hätte sagen müssen, leichtfertiges Rede, wo man hätte schweigen müssen, eigennützige Entscheide, gleichgültiges und unbedachtes Verhalten - so viel Verkehrtes. Und manches davon ganz ohne böse Absicht und manchmal auch ohne dass wir uns dessen bewusst waren. Und doch haben wir damit andern Menschen geschadet und können den Schaden oft nicht wieder gut machen. Und schliesslich: Was wir mit der Schöpfung, der Natur anrichten, die Gott uns anvertraut hat - kein Mensch kann es wieder in Ordnung bringen, und es wird uns und unsere Kinder und Enkel noch heimsuchen. Und auch hier: Wir wollen es ja gar nicht. Aber wir stehen mitten drin in diesem grossen Schuldzusammenhang, sind mitbetroffen, mitbeteiligt, können uns aus ihm nicht befreien, Paulus, der radikale Tiefdenker, hat es einmal so geschrieben: "Das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will." (Röm. 7,18f)

Die Bitte "Vergib uns unsere Schuld" ist eine ganz grosse, weit gespannte Bitte. Wer sie betet, weiss um das, was wir nicht gut machen, nicht in Ordnung bringen können. Er weiss um die angerichteten Schäden im Grossen und Kleinen, die wir nicht beheben, nicht heilen können. Das kann nur Gott, der Schöpfer, der Vater im Himmel. Wenn wir ihn bitten "Vergib uns unsere Schuld", dann bitten wir ihn, das zu tun, was nur er tun kann: das Buch der Menschengeschichte auftun und es neu schreiben, die Verlorenen und Vergessenen ans Licht bringen, die durch Menschenschuld und Unrecht Gedemütigten und Geplagten rehabilitieren, den Fluch in Segen verwandeln, die Wunden heile, die Tränen trocknen, die Toten ins Leben rufen und die ganze Schöpfung erneuern. Einen neuen schöpferischen Akt traut und mutet die Bitte ihm zu - so umfassend wie die erste Schöpfung "im Anfang". So weit ist der Horizont, in den Jesus mit dem Unservater-Gebet unser Leben und unsere Erde hineinstellt.

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Aber damit sind wir nun nicht etwa aus unserer eigenen Verantwortung entlassen."Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unsern Schuldigern vergeben." Wie auch wir! Die Toten können wir nicht lebendig machen, das geschehene Unrecht nicht wieder gut machen, die geschehene Geschichte nicht revidieren. Aber die Menschengeschichte und die Menschengeschichten, die heute geschehen, an ihnen können wir mitschreiben und mitwirken.

Und da kommen jetzt die Geld- und Wirtschaftsfragen wieder ins Spiel - ganz im Sinne es alten Sabbatjahres in Israel. Wir können die Forderung nach einem Erlass der astronomisch hohen Schulden der Länder unterstützen, deren Zinslast alles, was wir an Entwicklungshilfe leisten, bei weitem übersteigt. Wir können mit unserem eigenen Geld mithelfen, Verschuldung und Abhängig-keiten zu verringern. Wir können unser Geld so anlegen, dass es zwar nicht die höchste Rendite einbringt, dafür aber Projekte unterstützt, die vielen Menschen Boden unter die Füsse geben, Arbeitsplätze schaffen und Lebensperspektiven geben.

Auch die heutige Kollekte ist ein kleines Beispiel, wie wir Schuld vergeben können. Sie ist für die Sozialarbeit im Regionalgefängnis Bern bestimmt und gibt den dort tätigen Sozialarbeitern die Mittel, um mit den Untersuchungs- und Strafgefangenen die Freizeit sinnvoll zu gestalten. Menschen, die schuldig geworden und dadurch selber ins Elend geraten sind, geben wir damit ein kleines Zeichen, dass sie nicht vergessen und abgeschrieben sind, dass es auch für sie noch etwas anderes gibt als nur Vergeltung und Strafe.

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Die Bitte um Vergebung der Schuld ist dem Matthäusevangelium so wichtig, dass es ihr- als einziger Bitte des Unservaters- noch einen Kommentar hinzufügt: "Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer himmlischer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben." (Matth. 6,14f.) Wir können Gott nicht um Vergebung bitten, wenn wir nicht selber aus der Vergebung leben und sie weitergeben. Wer Gott um Vergebung für seine Schuld bittet, dem wird Vergebung und Schuldenerlass zur Lebensmaxime.

Und da sind wir wieder bei dem grossen Thema, da wir schon bei den ersten vier Unservater-Bitten entdeckt haben: Jesus ruft uns und ermächtigt uns, mit dem Vater im Himmel gemeinsame Sache zu machen, für das gleiche Ziel zu leben und zu wirken, das auch sein Ziel ist: eine erneuerte und versöhnte Welt, eine Welt, in der der Teufelskreis von Schuld, Vergeltung und Angst durchbrochen wird durch Vergebung. Indem Jesus uns das Unservater beten lehrt, macht er uns zur Verbündeten des himmlischen Vaters, zu Mitschöpfern und Mitschöpferinnen einer erneuerten Erde.

In eine Welt, in der gerechnet und abgerechnet wird, in der man einander die Schulden aufrechnet, und die Schulden samt Zinsen bis zum letzten Rappen bezahlt werden müssen, in eine Welt, in der man einander gegenseitig die Schuld zuweist und mit Strafe, Vergeltung und Rache reagiert- in diese Welt hinein ruft uns Jesus, damit wir Vertrauen investieren, jedem Menschen eine Chance geben, Vorurteile abbauen, uns nicht verbittern lassen, uns nicht resigniert zurückziehen.

So viele Möglichkeiten, liebe Gemeinde, Unrecht gut zu machen, Schaden zu verhindern! So viele Möglichkeiten, Sorge zu tragen zu den Menschen, zur Natur, zu Tieren und Pflanzen. So viele Möglichkeiten, dem Leben zu dienen, so viele Möglichkeiten, Schuld und Schulden zu tilgen und zu vergeben! So viele Möglichkeiten, mitzuschreiben und mitzuwirken an einer Menschengeschichte, die frei wird von Schuld und Angst! So viele Möglichkeiten, mitzuwirken an der neuen Schöpfung, um die wir den Vater im Himmel bitten, die wir ihm zutrauen und zumuten - und die er uns zutraut und zumutet!

Du Gott voller Erbarmen, Du legst uns nicht fest auf unsre Schuld, lässest uns nicht hilflos zappeln im Netz der zwischenmenschlichen und weltweiten Schuldverstrickungen. Du sprichst uns frei.

Hilf uns, die Freiheit, die Du uns schenkst, zu leben. Gib uns Einsicht, Kraft, Mut und Phantasie, dass wir beiseite räumen, was Menschen am Leben verhindert. So wie Du uns vergibst, lass auch uns einander vergeben. Erlöse uns von den Vorurteilen, auf die wir andere festlegen. Gib uns Worte, die nicht lähmen, sondern aufrichten. Gib uns Blicke, die nicht kränken, sondern Mut machen. Lass uns die in Schutz nehmen, über die schlecht geredet wird. Lenke unsere Sorge auf die, die nicht zurechtkommen, die einen Menschen brauchen, der ihnen zuhört und sie versteht. Du befreist uns aus Schuld und Angst. Lass auch uns einander befreiend, wohltuend, heilend begegnen.

Jesus, Du bist unser Friede. Gib uns Deinen Geist, damit sich in unserem Leben Geschichten von Vergebung und Friede ereignen - Zeichen, dass Gottes Reich im Kommen ist. Mit den Worten, die Du uns geschenkt hast, beten wir mit Dir und miteinander.

Unser Vater im Himmel...

Klaus Bäumlin
Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Nydegg in Bern.
E-Mail: klaus.baeumlin@mydiax.ch


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