Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Advent, 1. Dezember 2002
Predigt über Matthäus 21, 1-9, verfaßt von Ulrich Braun
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Die Statik der Hoffnung

Predigttext: Matthäus 21, 1-9
Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und eine Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen.
Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht (Sacharja 9, 9): "Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers."
Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf.
Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg.
Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!

Liebe Gemeinde!
Was haben wir gewartet! Hin durch den düsteren November, durch Rezession und finstere Insolvenz-Rekorde, durch den Pisa-Schock - und das in wirtschaftlichen und anderen Depressionen. Und jetzt ist mit dem ersten Licht am Adventskranz alles auf Erwartung gestellt. Warmes, tröstliches Leuchten erzählt im raren Tageslicht des verlöschenden Jahres davon, wie am allerverlassendsten Ort neues Leben beginnen wird. Aber das ist schon eine andere Geschichte.

Dieser Tage geht es um die Erwartung selbst. Das ist keine einfache Sache. Mindestens einen Teil ihres Wertes bezieht sie aus demjenigen, was sie erst in Aussicht stellt. Das macht die Sache heikel. Was ist nicht alles erzählt worden von einem neuen Konjunkturfrühling in diesem Herbst. Wie schnell blühende Hoffnung in glühenden Zorn umschlagen kann - auch davon wird bei unserer Predigtgeschichte zu reden sein.

Ob allerdings die Erwartung ihren Wert allein aus demjenigen bezieht, was sie in Aussicht stellt, ist mindestens eine Frage wert. Bis zu einem gewissen Grade muss es so sein. Wer große Erwartungen weckt, wird irgendwann für ihre Erfüllung einstehen müssen.

Unsere Predigtgeschichte erzählt davon. Jesus zieht unter dem Jubel des Volkes in Jerusalem ein. Der Fortgang der Geschichte wird vom Umschlagen der Stimmung zu berichten haben. Die Stimmung der Massen hat nun einmal eine komplizierte Statik. Am Ende wird vom Kreuz zu reden sein, an das der Begrüßte schon bald geschlagen wird. Aber auch das ist eine andere Geschichte.

Es bleibt indes schon jetzt die Frage: Wird die Zeit der Erwartung durch den möglichen Fortgang der Ereignisse ihres Wertes beraubt? Wenn die Antwort "Nein" lauten soll, werden wir Gründe für diese Sicht der Dinge finden müssen.

Im Herbst 1989 hatten sich erst einige, dann einige hundert, schließlich eine unübersehbare Menge von Menschen in die bundesdeutschen Botschaft in Prag geflüchtet. Mit ebenso unterschiedlichen wie wahrscheinlich schier grenzenlosen Erwartungen hatten sie die DDR verlassen. Warum auch den eigenen Hoffnungen Schranken auferlegen, wenn es doch darum geht, Grenzen zu sprengen?

In dieser Situation kam der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher in die tschechische Hauptstadt. Er wollte über den Stand der diplomatischen Verhandlungen informieren. Am Abend des 30. September trat er auf den Balkon des Palais Lobkovicz. Es wurde ganz still als er begann: "Ich bin heute gekommen", fing er an, "um Ihnen mitzuteilen" - atemlose Stille - " "dass heute Ihre Ausreise ...". Weiter kam er nicht. Die Wartenden hatten verstanden. Mehr brauchten sie nicht. Für den Moment gab es keine Grenzen.

Die Bilder der dann folgenden Tage und Wochen sind unterdessen gut aufbereitet beim Goethe-Institut oder bei Spiegel-TV zu beziehen. Sonderzüge, die die Leute von Prag über Dresden in den Westen brachten. Freuden- und andere Tränen, winkende Arme aus übervollen Reichsbahn-Zügen.

Das alles ist dreizehn Jahre her. Die damals Ausgereisten sind längst irgendwo angekommen. Ob sie auch dort angekommen sind, wohin sie es sich damals gehofft haben? Wer kann das sagen?

Irgendwo werden sie angekommen sein. Und sie werden weiter unterwegs sein. Durch düstere Novembertage, finstere Insolvenzen, durch wirtschaftliche und andere Depressionen.

Im Garten des Palais Lobkovicz hat man dem Freiheitsrausch ein Denkmal gesetzt. Der Tschechische Künstler David Cerny hat einen Trabi auf Stelzen gestellt. Der steht dort zum Zeichen, dass Zäune überstiegen und Tore geöffnet werden können.

Es ist sogar ein Brettspiel mit dem etwas umständlichen Titel "Flucht in die deutsche Botschaft in Prag" auf den Markt gekommen. Spielfiguren sind kleine Plastiktrabis. Mit ihnen muss man die Fallen von Volkspolizisten und Grenzern überwinden. Auf dem Würfel prangt statt des Sechsers ein Konterfei von Genscher. Wirft man dies, berechtigt es zum direkten Zug ins Ziel. Es heißt Freiheit.

Man wird nicht leugnen können, dass sich manche Hoffnung an der Wirklichkeit zurechtgeschliffen hat. Aber das ist eine andere Geschichte. Ganz energisch würde ich jedoch leugnen, dass deswegen jene Momente, in denen es keine Grenzen mehr gab, ihren Wert verloren hätten.

Unsere Predigtgeschichte erzählt ihren Moment, in dem es keine Grenzen gibt, nicht außerhalb all der anderen Geschichten, in die sie mündet. Zugleich aber erzählt sie ihn als die Erfüllung lang gehegter Hoffnungen selbst. "Tochter Zion, freue dich!" hatte der Prophet Sacharja ausrufen lassen. Gut fünfhundert Jahre lang war die Statik dieser Hoffnung allen erdenklichen Belastungen ausgesetzt. Mit dem Einzug Jesu in Jerusalem wird der Moment besungen, an dem es keine Grenzen mehr gibt. Er ist da.

Über die Verse des Advent baut sich die Geschichte von der Geburt an einem scheinbar gottverlassenen Ort auf. Es ist eine andere Geschichte, und doch ist sie mit unserer heutigen verbunden. Über den Einzug in Jerusalem gelangt Jesu Weg nach Golgatha. Das ist eine andere Geschichte, aber unsere heutige mündet in sie ein.

Wo Geschichten weitergehen, führen sie durch düstere Novembertage, wirtschaftliche und sonstige Depressionen, durch Freuden- und durch andere Tränen. All das vergegenwärtigt sich in dem einen Moment, in der Erwartung. Und zugleich hebt dieser Moment sich über jeden möglichen Fortgang der Geschichte hinaus. So lebt in ihm schon die Ahnung, dass die Geschichte auch in Golgatha nicht enden kann.

Johann Sebastian Bach hat das in einem Choral des Weihnachtsoratoriums ausgedrückt. Mit Pauken und Trompeten hat er den Anfang gesetzt. So etwa müsste die Begleitmusik zum Einzug Jesu in Jerusalem klingen. Und dann lässt Bach den Chor singen: "Wie soll ich dich empfangen" - nicht triumpfal, sondern auf die Melodie von "O Haupt voll Blut und Wunden".

Es sind viele Geschichten, in die unsere Predigtgeschichte mündet. In die Weihnachtsgeschichte von der Geburt an scheinbar gottverlassenem Ort und in die Passion. Und sie führt - wie Menschengeschichten es eben tun - durch Traurigkeit und Herzeleid. Doch wäre es am Ende ganz falsch, von dem warmen, tröstlichen Licht des Advent zu schweigen, in dem all die anderen Geschichten so gut aufgehoben sind.

Deshalb: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, / eu'r Herz zum Tempel zubereit'. / Die Zweiglein der Gottseligkeit / steckt auf mit Andacht, Lust und Freud; / so kommt der König auch zu euch, / ja Heil und Leben mit zugleich. / Gelobet sei mein Gott, / voll Rat, voll Tat, voll Gnad.

Amen

Ulrich Braun
Pastor in Göttingen-Nikolausberg
eMail: ulrich.braun@nikolausberg.de

 


(zurück zum Seitenanfang)