Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

2. Advent, 8. Dezember 2002
Predigt über Lukas 21, 25-33, verfaßt von Maria Widl
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

" Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen, und auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein über das Toben und Donnern des Meeres. Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über die Erde kommen, denn die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Dann wird man den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf einer Wolke kommen sehen. Wenn all das beginnt, dann richtet euch auf, und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe.
Und er gebrauchte einen Vergleich und sagte: Seht euch den Feigenbaum und die anderen Bäume an: Sobald ihr merkt, dass sie Blätter treiben, wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. Genauso sollt ihr erkennen, wenn ihr all das geschehen seht, dass das Reich Gottes nahe ist. Amen, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis alles eintrifft. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen." (Lk 21,25-33)

Moderne Menschen haben kein gutes Verhältnis zu apokalyptischen Ereignissen, wie sie hier angedeutet sind. Schließlich hat uns Hollywood schon etliche Male miterleben lassen, welche Schrecknisse dabei auf die Menschen kommen. Kriegswahnsinn wie in Apokalypse Now oder Weltuntergangsszenarien wie in Amargeddon lassen den Kinobesucher in Dolby Surround-Qualität erzittern. Keiner würde dabei daran denken, "sein Haupt zu erheben", weil "die Erlösung nahe" ist. Im Gegenteil: Wir erwarten eine heldenhafte Rettergestalt, einen übermenschlich starken und souveränen Erlöser á la James Bond, damit die Welt noch einmal davon kommen kann.

Diese Hoffnung ist eng mit der Erfahrung verbunden, dass es der Mensch selbst ist, der diese Untergangsszenarien herbeiführt. Unser Schicksal liegt nicht zuerst in Gottes, es liegt in des Menschen Hand. Die modernen Bedrohungen gehen nicht von der Natur, sie gehen vom Menschen aus. Und selbst große Naturkatastrophen hängen eng mit der Un-Art zusammen, in der der Mensch die Natur in den letzten 100 Jahren bedrängt und missbraucht hat, von der Klimaveränderung durch Erderwärmung bis zur Verseuchung der Meere (wie zuletzt wieder vor der Küste Spaniens) und mögliche atomare Super-GAUs. Menschen, die in diesen Zusammenhängen davon reden, Gott würde die Menschheit durch solche Katastrophen hindurch zu einer höheren Bewusstseinsstufe führen, werden zurecht als gefährliche Sektierer angesehen. Die Apokalypse muss ein Tabu bleiben, damit sie nicht irgendeine Macht aus religiösem Fanatismus leichtfertig herbeiführt.

Wieso lesen wir dann einen solch befremdlichen und bedrohlichen Text ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit, wo wir eine friedlich-heimelige Stimmung suchen? Der Text spiegelt die Situation der Urgemeinde und ihre Naherwartung. Die ersten Christen waren davon überzeugt, dass ihnen in Jesus Christus das Reich Gottes ganz nahe gekommen war. Ihr Meister und Herr war in Auferstehung und Himmelfahrt zum Vater zurückgekehrt und würde sehr bald wiederkommen, um sein Erlösungswerk zu vollenden und die Seinen zu sich zu holen.

Doch es kam anders, als erwartet. Für Gott sind tausend Jahre wie ein Tag, er unterliegt nicht unseren Vorstellungen von Zeit. So hat sich die Kirche nach und nach darauf eingestellt, dass es bis zur Wiederkunft Christi offenbar etwas länger dauert. Um all die Ereignisse nicht zu vergessen und sie inmitten des kurzen Erdenlebens gegenwärtig zu halten, hat sie das Kirchenjahr eingerichtet: Heilsgeschichte im Rhythmus der Jahreszeiten. Der Advent am Beginn der dunklen und kalten Jahreszeit lässt uns spüren, wie unwirtlich die Welt sein kann. Wir zünden Kerzen an, weil sie Licht, Wärme und Behaglichkeit verbreiten. Als ChristInnen bringen sie uns neu in Erinnerung, dass wir das Kommen Gottes erwarten, der das eigentliche Licht unseres Lebens ist.

Bevor wir es uns in dieser Vorstellung allzu bequem machen, erinnert unser Text daran, dass das Kommen Gottes mit großen Erschütterungen verbunden ist. Das Reich Gottes ist inmitten des normalen menschlichen Alltags wie ein Erdbeben und eine Sintflut zugleich. Es erschüttert all unsere Vorstellungen davon, was ein gutes Leben ist. Normalerweise suchen Menschen nach Reichtum, Macht und Ansehen. Sie versprechen ein gutes Leben in der Welt, die den Spielregeln nach dem paradiesischen Sündenfall gehorcht. Ihre Kehrseite sind Ausbeutung, Selbstherrlichkeit und Ignoranz, mit denen wir einander das Leben zur Hölle machen können.

ChristInnen ist zu wünschen, dass ihnen das Reich Gottes mit seinen ganz anderen Spielregeln nahe gekommen ist, sodass es ihnen nahe geht und sie nicht mehr loslässt. Es ist ein Leben in Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, mit gelassener Arbeit und in freudiger Lebensbalance trotz aller Mühen und Brüche des Lebens. Gerade die vorweihnachtliche Zeit mit ihrer Hektik, ihrem Konsumdruck und der Arbeitslast des Jahresabschlusses ist ein guter Test dafür, wie nahe einem das Reich Gottes und seine Spielregeln bereits gekommen sind.

Für diejenigen, denen sich die Freuden der Kinder Gottes erschließen, ist das Kommen seines Reiches keine Bedrohung, keine Erschütterung, kein Weltuntergang. Es ist wie die freudige Erwartung auf den Frühling, wenn die ersten Blätter sprießen, wie es unser Text andeutet. Es ist wie ein kleines Kind, das alle Herzen durch seine unschuldige Hilflosigkeit zu bewegen vermag, wie wir es zu Weihnachten feiern werden.

Möge ihnen das Reich Gottes in dieser Adventszeit nahe kommen; so oder so!

Univ.- Doz. Dr.habil. Maria Widl
Pastoraltheologin in Wien
wissenschaftl. Leiterin des Pastoraltheologischen
Instituts der Pallottiner in Friedberg (Bay)
E-Mail: maria.widl@utanet.at

 


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