Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

4. Advent, 22. Dezember 2002
Predigt über Lukas 1, 46-55, verfaßt von Reinhard Schmidt-Rost
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Und Maria sprach:

Meine Seele erhebt den Herrn,
und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes,

denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.

Denn er hat große Dinge an mir getan,
der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.

Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht
bei denen, die ihn fürchten.

Er übt Gewalt mit seinem Arm
und zerstreut die, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.

Er stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.

Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen.

Er gedenkt der Barmherzigkeit
und hilft seinem Diener Israel auf,

wie er geredet hat zu unsern Vätern,
Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit.

Liebe Gemeinde,

eine junge Frau singt ein Lied, ein Lied, das zum Schlager geworden ist.

So oft wie dieser Text vertont, mit Musik ausgestaltet wurde, - da kommt kein Schlager von heute mit, auch wenn er noch so oft als Oldie aus den Sechzigern oder Siebzigern in den Hitlisten auftaucht, ob von den Beatles, den Rolling Stones, den Bläck Föss - oder das Neueste von Madonna.

Mit dem Magnificat der Maria können sie alle nicht mithalten. Unverbraucht wirken die Worte dieses Liedes immer wieder, wie neu - und die Melodien, die man dazu erfunden hat, werden gerne gesungen, die von Vivaldi genauso wie von Felix Mendelsohn-Bartholdy oder das Magnificat aus Taizé. Auch ein klassischer Hit wie das Weihnachtsoratorium von J. S. Bach, das auf Weihnachtsmärkten und in Kaufhäusern unüberhörbar weiterklingt, ist gerade mal 250 Jahre alt, - jung, im Verhältnis zu diesem alten Schlager.

Lied 588

Eine junge Frau singt, aber dieser Schlager ist ganz gewiß keine Schnulze aus dem Musikantenstadl oder aus der Volkslieder-Hitparade, kein romantisches Lied über die Schönheit der Heimat, der Wälder, der Berge, des Rheines oder des Weines, sondern ein kritisches Chanson, ein Protestlied gegen Ungerechtigkeit, Unfrieden und Zerstörung der Schöpfung ... zeitlos und doch ganz konkret.

Er übt Gewalt mit seinem Arm
und zerstreut die, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.

Er stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.

Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen.

Wer viel in der Bibel liest, kennt diese Verse und weiß, wie sperrig sie sind. Diese Sätze lassen sich nicht so einfach in die Wohnstube des eigenen Weltbildes transportieren. Die Gegensätze von arm und reich, von mächtig und ohnmächtig sind zwar typisch für unsere Welt, aber sie sind gerade für den christlichen Glauben besonders anstößig: Solche Gegensätze widersprechen dem Geist der Versöhnung, den Jesus gepredigt hat.

Die aber, die die Bibel kaum kennen oder wenig von ihr erwarten, ziehen die Augenbrauen hoch und sagen: Gut, dann handelt doch mal danach, ihr Christen! Dann stoßt die Gewaltigen vom Thron - oder erbarmt euch der Armen!

Aber sehen wir einmal davon ab, dass sich tatsächlich viele Menschen um Bedürftige kümmern, weil sie in der Bibel von Christus und seinem barmherzigen Gott gelesen haben, - der Aufruf zum politischen Umsturz in dieser Welt kann sich nicht auf dieses Lied berufen, das wäre ein grobes Mißverständnis: Das Magnificat handelt von Gott, es erzählt, daß Gott handelt, nicht die Menschen, Gott schafft das Lebenswichtige in der Welt. Mit menschlicher Macht ist nichts getan, jedenfalls nichts, was letztlich dem Leben dient. Das ist ein Einspruch gegen alle Gewaltanwendung auf eigene Rechnung und eigene Faust, ein Einspruch gegen alle Selbstherrlichkeit.

Es ist ein Irrtum, nicht nur einiger Kritiker der Kirche, sondern erst recht von beträchtlich vielen Anhängern des christlichen Glaubens in Geschichte und Gegenwart: Sie verwechselten und verwechseln die Beschreibung von Gottes Handeln - er stößt die Gewaltigen vom Thron - mit ihrem eigenen Handeln:

"Wenn Gott die Gewaltigen vom Thron stößt, dann könnt, ja dann müsst ihr oder dann müssen wir das auch machen", - so haben es viele verstanden und manche denken noch immer so. Das steht aber nicht da, weder im Magnificat, noch überhaupt in der Bibel; vielmehr genau das Gegenteil: Die eigenmächtige Gewalt von Menschen führt immer neu zu Mord und Totschlag, seit Kain und Abel. Kreuzzüge waren menschliche Machtpolitik genauso wie jede andere Gewalttat. Wenn Menschen Vergeltung üben, dann findet Vertrauen keinen Wurzelboden; aber ohne solchen Boden kann sich eine humane Kultur gar nicht entwickeln:

Alle Kultur, alles menschliche Zusammenleben baut auf dem labilen Gleichgewicht von Mißtrauen und Vertrauen. Wer aber bringt die Menschen dazu, ihrer Angst um sich selbst Herr zu werden, die angeborenen und anerzogenen Selbsterhaltungs- und Selbstverteidigungstriebe zu bezwingen, Gewaltordnungen wie die Blutrache, also Selbstverteidigungsregeln von Sippen zurückzudrängen? Nur dann hat die Menschheit - zumal heute in der unermeßlichen Zahl von 6 Milliarden Erdbewohnern - überhaupt eine Zukunft auf dieser Erde. Dass auch die gegenwärtig weltbeherrschende Politik den Gedanken an eine Friedensordnung ohne menschliche Gewalteingriffe nicht denken will, erfüllt viele Menschen mit großer Sorge, müßte nicht gerade die Führungsmacht im christlichen Abendland aus der Geschichte lernen und auf dieses Lied hören; es ist schon eigenartig, aber auch traurig, dass ein ehemaliger Präsident dieser Weltmacht soeben den Friedensnobelpreis erhielt, wäre der amtierende Präsident nach der altrömischen Devise handelt: Si vis pacem para bellum: Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor.

Gewiß, wir müssen damit rechnen, dass jeder und jede auch unter uns zunächst um sich selbst besorgt ist, das auch Staaten und Völker nicht auf wachsendes Vertrauen, sondern auf Kontrolle aller möglichen Gegner setzen; das Vertrauen, dass Gott es in unserem Leben wohl machen wird, ist uns nicht in die Wiege gelegt. Und so bemühen sich Familien, Stämme und Völker nicht von ungefähr seit Menschengedenken, also seit es Kultur auf dieser Erde gibt, um Einrichtungen, um Verabredungen und Verträge, die den Selbsterhaltungstrieb des einzelnen in verträgliche Bahnen lenken.

Die Bibel ist voll von Rechtssätzen und Erzählungen, die den zerstörerischen Selbstbehauptungswillen in gute Bahnen lenken wollen, gerade auch da, wo sie die Katastrophen des Egoismus breit ausmalt: Die ganze Königsgeschichte Israels wird nicht als Heldenepos oder als Erfolgsstory erzählt, sondern ungeschminkt als abschreckendes Beispiel: Nur wenn die Könige so weise waren, ihre Macht aus Gottes Gnade abzuleiten, dann blieb ihr Regiment human! Alles andere endete in Schrecken, Blut und Mord, auch im Königshaus Davids - schon bei David selbst.

Aber auch die eigene Erfahrung könnte uns stutzig machen: Ist nicht jeder Gedanke an Vergeltung ein Hemmschuh, ein Bremsklotz, ein Ankerreiz im Gehirn, der das freie Denken behindert: Wer sich auf sein Recht fixiert, gerade auch da, wo es ihm zusteht, der verliert die innere Freiheit seines Denkens; er kann nicht mehr auf all das achten, was das Leben immer noch reich macht auch wenn er nicht bekommt. Aber man kann sich nicht so leicht von quälenden Gedanken lösen, wenn einem Unrecht geschehen ist.

Darum macht das Magnifikat Gott groß, Maria dankt Gott, weil nur er die Gedanken der Vergeltung auflösen kann! Dieser Gedanke - Gott stürzt die Gewaltigen von ihren Thronen, Gott will nicht, dass die Menschen mit Gewalt übereinander herrschen, dieser Gedanke bringt recht eigentlich den Umsturz, und zwar eben in Gedanken - und damit auch in den Herzen der Menschen. Man entthront nur mit dem Herzen richtig, würde der "kleine Prinz" jetzt sagen; aber es ist schwer, dem Vertrauen den Vortritt zu lassen vor dem Mißtrauen, es ist eine schwierige, eine riskante Vorleistung.

Liebe Gemeinde,
Die junge Frau, Maria, war zunächst einfach ganz Ohr, hörte, was zu ihr gesagt wurde; sie hatte staunend auf die Erscheinung geschaut, die sie sah, was sollte sie auch viel anderes tun? Reformprogramme entwerfen? zum Beispiel für bessere Bildung ihres Kindes, oder wenigstens für eine finanzielle Grundversorgung der Eltern? Wohl kaum, sie war eine einfache Frau aus dem Volk, keine Mutter Teresa, keine heilige Elisabeth! Eine Heilige, eine ganz Besondere wurde diese Maria ja erst durch das Geschehen, in das sie nun verwickelt wurde, und sie schaut zu und beschreibt, was sie durch diese Vision hindurch sieht.

Und während sie ihr Erlebnis in Worte zu fassen versucht, verschwimmen ihr Vergangenheit und Zukunft ihres Volkes mit ihren persönlichen Wünschen zu einer großen Einheit:

Wie sie es von ihren Vorfahren gehört hat, so hofft sie auch für ihre eigene Zukunft; Gottes Fürsorge wird sich seinem Volk immer wieder zuwenden, wie im Anfang damals, beim Auszug aus Ägypten, so wird es sein von Generation zu Generation, von den Eltern zu den Kindern und wieder zu den Kindern: Immer wieder werden Kinder geboren und sie werden das Zeichen sein, dass Gottes Güte noch nicht zuende ist, das er seine Freundlichkeit in der Gestalt immer neuer Menschen auf die Erde schickt. Gott wirkt nicht in Donner und Blitz, durch Gewalt und Tod; er spendet Leben, er wirkt schöpferisch im Heranwachsen von Kindern, durch die immer wieder gute Hoffnung wächst.

Liebe Gemeinde,
Eine junge Frau, ein paar Monate sind es noch bis zur Geburt ihres ersten Kindes, voller Erwartung, zwischen Befürchtungen und Hoffnungen schwankend: Wird mein Kind gesund sein? werde ich ihm eine gute Mutter sein können? Und: Was wird aus ihm werden?
Mag sein, daß da farbige Hoffnungsbilder in die Seele fließen, dass eine Mutter von ihrem Kind Großes erhofft: Wird mein Kind zum Wohl der Welt wirken können, wird es vielleicht sogar zum Heil der Welt beitragen? Müßte nicht irgendeinem Menschen einmal dies gelingen: Dass er oder sie das Heil der Menschheit herbeiführt?!

In jedem Fall erweckt die Ankunft eines Kindes in den Erwachsenen Hoffnungen auf Besserung unter den Menschen; trotz aller Enttäuschungen in der Geschichte der Menschheit, - ein neugeborenes Kind erweckt immer wieder diese Hoffnung: Das Zusammenleben der Menschen könnte anders werden, freundlicher, gütiger vertrauensvoller; das ist schließlich die einzige Überlebenschance für jedes Kind, dass die Erwachsenen sich ihm zu liebe als vertrauenswürdig erweisen; Kinder können ohne Vertrauen nicht leben, weil sie Verträge noch nicht einhalten können - und wehren können sie sich sowieso nicht, jedenfalls nicht mit Gewalt. An Kindern wird es immer wieder sichtbar: Ohne Vertrauen gibt es kein Leben, und deshalb ist es für die Menschheit überlebensnotwendig, dass sich das labile Gleichgewicht von Mißtrauen und Vertrauen, zu dem wir Menschen allenfalls fähig sind, halten lässt, wenigstens den Kindern und damit unserer Zukunft zuliebe.

Liebe Gemeinde!
Ein neugeborenes Kind ruft den Eindruck wach, als sei eine heile Welt möglich, weil es nur in einer heilen Welt wachsen kann. Deshalb berührt es merkwürdig, dass sich die Wissenschaften heute so viel mehr um eine Wiederholung gleicher Wesen, um Reproduktion bemühen, als um die Stabilisierung von Vertrauen. Wenn kein Kind mehr durch Kriegseinwirkung verhungert, dann erst sollte die Reproduktionsmedizin ihre Versuche fortsetzen.

Sollte es einen Menschen geben, der die Erwartungen der Menschen auf eine endgültige Schonung wach halten könnte? Den müßte man allerdings unbedingt klonen, damit es seinem Doppelgänger vielleicht gelänge ..., aber lassen wir die Ironie.

Wir wissen, daß kein Mensch der Welt ein für allemal stabilen Frieden und reine Gerechtigkeit bringen kann, wir erreichen - schwankend zwischen Angst und Vertrauen - immer nur vorläufige Friedensschlüsse, wir erleben und erleiden immer nur ein labiles Gleichgewicht zwischen Vertrauen und Mißtrauen.

Auch Jesus, der Mensch, hat den Menschen nichts anderes gebracht als Gedanken, aber eben diese lebenspendenden Gedanken: Die Welt kann durch Gewalt nicht für alle gleichzeitig lebenswerter und freier werden, auch wenn sie für einige sicherer werden sollte, andere würden und werden für das Sicherheitsbedürfnis der Stärkeren geopfert. Jesus von Nazareth hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um dem Gedanken des Vertrauens gegen alles Mißtrauen in die Welt zu bringen - und die Mächtigen seiner Zeit haben - erwartungsgemäß - auf die Herausforderung mit Gewalt reagiert. Die aber, die auf die schöpferische und lebensspendende Kraft von Vertrauen hoffen, sagen: Christus sei nicht im Tod geblieben, er wirke unter uns mit seinem Geist, mit seinem Gedanken von der schöpferischen Kraft der Barmherzigkeit, sie allein könne die Welt als lebenswerte bewahren und fördern.

Lukas hat diese Botschaft von Christus verstanden, sonst hätte er nicht gleich am Anfang seines Buches ein so markantes und provokantes Lied Maria, der Mutter des Jesus von Nazareth, in den Mund gelegt, es ist eine Vorschau auf Predigt und Wirkung Jesu geworden - und zugleich auf unser Leben: Nur die schöpferische Kraft der Barmherzigkeit, die Kindern aus der Hilflosigkeit zur Selbständigkeit verhilft, ermöglicht überhaupt Leben, auch unter uns erwachsenen Menschen. Gott schenke es uns, dass wir zur Verbreitung von Vertrauen beitragen dürfen, das ist das wichtigste Erbe für alle Menschen, die nach uns kommen. Es ist das schönste Weihnachtsgeschenk.

Amen.

Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost
Universität Bonn
r.schmidt-rost@uni-bonn.de


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