Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Christnacht, 24. Dezember 2002
Lukas 2, 1-20, verfaßt von Christoph Dinkel
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"Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zurzeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt.
Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.
Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen.
Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war."

Liebe Gemeinde,

Weihnachten bewegt die Menschen. Zunächst sind es Maria und Josef, die in Bewegung gesetzt werden. Folgt man dem Bericht des Lukas, so zwingt sie ein kaiserliches Dekret zur Reise nach Bethlehem. Auf Marias fortgeschrittene Schwangerschaft wird keine Rücksicht genommen. Der Mutterschutz ist erst eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. In Bethlehem angekommen bleibt dem Paar nur der ärmliche Stall als Quartier, "denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge." Dort im Stall kommt das Kind zur Welt. Man mag es sich lieber gar nicht vorstellen, was Maria in diesen Tagen und Stunden durchgemacht hat. Das Neugeborene wird in Windeln gewickelt und in die Futterkrippe der Tiere gelegt. Welch ärmliche Verhältnisse! Romantisch ist das nur für diejenigen, die es nicht erleben müssen. Für die Beteiligten ist es eine Erfahrung größter Gefährdung und extremen Ausgeliefertseins. Nur knapp führt die Reise nach Bethlehem die werdende Familie an einer Katastrophe vorbei.

Weihnachten bewegt die Menschen. Die Hirten auf dem Feld bei Bethlehem hatten sich eigentlich auf eine ruhige Nacht eingestellt. Aber daraus wird nichts. Mitten in der Dunkelheit wird es hell. Der Engel Gottes tritt zu ihnen und sie werden von der göttlicher Klarheit umleuchtet. Für uns, die wir die Engelbotschaft schon kennen, ist der Auftritt des Engels erfreulich und schön. Für die Hirten ist er aber zunächst ein gewaltiger Schrecken. Strahlendes Leuchten ganz plötzlich mitten in der Nacht. Die Hirten "fürchteten sich sehr" - so beschreibt Lukas die Reaktion der Hirten auf den göttlichen Boten.

Aber es bleibt nicht beim Schrecken. Der Engel bringt die Freudenbotschaft: "euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids." Da löst sich die Erstarrung der erschreckten Hirten und sie geraten in Bewegung. Zueinander sagen sie: "Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat." Eilig brechen die Hirten auf. Sie finden "Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen." Die Erwartung der Hirten wird nicht enttäuscht. Der nächtliche Aufbruch hat sich gelohnt. Was sie vom Engel vernommen und im Stall gesehen haben, hält die Hirten weiter in Bewegung: "Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war." Die Hirten vom Feld bei Bethlehem werden zu den ersten Boten der Christusbotschaft. Die Hirten halten die weihnachtliche Bewegung in Gang. Sie sind die Evangelisten der ersten Stunde.

Weihnachten bewegt die Menschen, aber nicht nur die Menschen. Auch die Engel im Himmel geraten an Weihnachten in Bewegung. Zunächst ist es nur ein Engel, der vom Himmel herab aufs Hirtenfeld nach Bethlehem kommt. "Fürchtet euch nicht!", sagt der Engel. "Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird". Doch kaum hat der eine Engel seine Botschaft verkündet und den Hirten den Weg zum Kind gewiesen, da hält es auch die übrigen Engel nicht mehr. Das ganze Engelsheer setzt sich in Bewegung und bevölkert das Hirtenfeld von Bethlehem. Die Menge der himmlischen Heerscharen tritt auf, alle guten Geister Gottes sind mit dabei. Sie bilden einen Chor, der die Welt mit himmlischem Gesang erfüllt. Sie loben Gott, der die Welt verwandelt und in seinem Sohn den Frieden bringt: "Ehre sei Gott in der Höhe" singen die Engel und sie verkünden den Frieden Gottes "bei den Menschen seines Wohlgefallens". An Weihnachten setzt sich der ganze Himmel in Bewegung. Und die Bewegung des Himmels erfüllt die Erde und verbreitet Klarheit und Frieden.

Weihnachten bewegt die Menschen. Maria, die Mutter Jesu, wird in besonderer Weise bewegt. Was die Hirten wohl Maria und Joseph erzählt haben? Von dem Engel werden sie berichtet haben, von dessen Botschaft, dass der Heiland der Welt in Bethlehems Stall geboren ist. Den Lobgesang des Engelsheeres mussten sie wohl kaum erwähnen. Denn die Engel werden auch über dem Stall von Bethlehem gesungen haben. Wenn sie schon vom Himmel herabgekommen sind, dann haben sie sich das eigentliche Ereignis auf keinen Fall entgehen lassen. Vielleicht haben die Engel im Stall ein wenig leiser gesungen als auf dem Feld, aus Rücksicht, um das Neugeborene nicht zu stören. Aber da das Kind im Stall ohnedies aus der himmlischen Sphäre stammte, war es mit Engelsgesang wahrscheinlich schon vertraut. Er war keine Störung, sondern ein Stück himmlischer Heimat inmitten des unwirtlichen Stalls.

Auch ohne besondere Umstände ist die Geburt eines Kindes ein zutiefst bewegendes Ereignis für die Eltern. Wenn dann noch eine weite Reise, die Geburt im Stall und das Gewimmel von Hirten und Engeln dazukommen, dann kann man ahnen, was Maria, Joseph und das Kind in dieser Nacht erlebt und an Höhen und Tiefen durchgemacht haben. Und doch fand Maria die Ruhe, mit den Hirten zu reden und auf ihre Worte zu hören. "Maria aber", so heißt es, "behielt alle diese Worte [der Hirten] und bewegte sie in ihrem Herzen."

An Weihnachten bewegen sich nicht nur Menschen und Engel, auch die Worte und Herzen geraten in Bewegung. Ein ganz eigener Zauber breitet sich an Weihnachten aus. Ganz am Rande der damaligen Zivilisation, beim jüdischen Volk, von römischen Besatzungstruppen geschundenen, mitten im Elend des Stalls und nur mit einigen ärmlichen Hirten als Zeugen beginnt mit der Geburt des göttlichen Kindes die Welt neu zu werden. In der Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des Neugeborenen strahlt diese andere Welt auf, auf die die Menschen warten, die Welt ohne Krieg und Hass, die Welt ohne Hunger und Unterdrückung, die Welt, in der Kinder behütet groß werden können, die Welt ohne Angst und Terror, die Welt voller Liebe und Frieden. All das scheint im Stall von Bethlehem auf, ganz zart und vorsichtig, sehr unscheinbar und in jeder Hinsicht gefährdet. Aber Marias Herz wird davon ergriffen und verwandelt. Und auch die Hirten geraten in Bewegung und breiten das Wort von dem Kind aus. Der Anfang der neuen Welt ereignet sich weitab aller Zentren. Aber es ist der Anfang der Welt Gottes.

Weihnachten bewegt die Menschen. Auch Sie haben sich von Weihnachten in Bewegung setzen lassen. Seit Wochen waren Sie, wart Ihr unterwegs, um Geschenke zu besorgen und das Fest vorzubereiten. Und jetzt, wo alles vorbereitet und verpackt ist, sind Sie zum Gottesdienst in die Kirche gekommen. Die Bewegung von Weihnachten hat auch Sie ergriffen und hierher in den Gottesdienst geführt. An Weihnachten werden wir hineingenommen in die Geschichte von der Geburt des Heilands. Mit den Hirten zusammen gehen wir nach Bethlehem und sehen das Kind in Windeln gewickelt und in der Krippe liegen. Wir hören auf den Gesang der Engel und stimmen mit ein in den Gesang ihrer Lieder. Und nun ist die Frage, ob sich auch unser Herz vom Kind in der Krippe und von der Botschaft der Engel in Bewegung setzen lässt. Lassen wir uns anstecken von Gottes neuer Welt? Vertrauen wir diesem kleinen, gefährdeten und zerbrechlichen Anfang im Stall von Bethlehem?

Weihnachten bewegt die Menschen. Weihnachten bewegt Maria und Joseph. Sie brechen nach Bethlehem auf, um den Heiland zur Welt kommen zu lassen. Weihnachten bewegt die Hirten. Sie verlassen ihre Herde, sie eilen zum Kind im Stall und erzählen allen die Botschaft von der Geburt des göttlichen Kindes. Weihnachten bewegt die Engel. Sie hält es nicht im Himmel, sie erfüllen die Erde mit ihrer Klarheit und ihrem Gesang und verkünden große Freude allem Volk. Weihnachten bewegt ganz besonders Maria. Sie spürt, wie in ihrem Kind die Hoffnung der Welt lebendig wird. Weihnachten bewegt die Menschen. Auch wir sind heute ein Teil der Geschichte und der Bewegung von Weihnachten. Wir singen mit den Engeln und stehen mit den Hirten an der Krippe im Stall von Bethlehem. Und es ergeht dabei an uns die Frage: Sind wir bereit, unser Herz zu öffnen und bewegen zu lassen von Gottes zarter, verwandelnder Macht? Lassen wir uns bewegen von Weihnachten?

Amen

Predigtlied: EG 37, 1-4, Ich steh an deiner Krippen hier

Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer, Privatdozent
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
E-Mail: christoph.dinkel@arcor.de


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