Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Christvesper, 24. Dezember 2002
Predigt über Lukas 2, 14, verfaßt von Martin Hein
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"Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens."

Es ist still geworden um uns, liebe Gemeinde. Endlich! Die Geschäftigkeit der letzten Tage und Stunden weicht allmählich dem Gefühl, daß nun alles getan ist, was zu tun und vorzubereiten war. Auch in uns selbst wird es ruhig. Der Glanz der vielen Lichter in der Kirche verzaubert uns. Wir treten ein in eine andere Welt und geben uns ihr hin. Unsere Ohren öffnen sich, unsere Herzen weiten sich. Wir hören die vertrauten Worte von der ersten Heiligen Nacht und ahnen: Jetzt ist Weihnachten - und mehr noch: So könnte es bleiben, so schön! Momente der Ewigkeit mitten in unserer Zeit sind das, wenn der Friede Gottes nicht nur von den Engeln verkündet, sondern bei uns spürbar wird: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens." Dann wissen wir: Das ist eine einzigartige, eine wunderbare Botschaft für das Leben der Welt.

Botschaften gibt es viele. Tagtäglich sind wir einer nicht mehr überschaubaren Zahl von Meldungen ausgesetzt: Zeitung, Radio, Fernsehen, Internet liefern sie uns frei Haus. Ihre Absender haben dabei alle möglichen unterschiedlichen Interessen. Wer kann das überhaupt noch aufnehmen, gewichten, einordnen und verarbeiten? Wir sind mit Botschaften überfüttert, doch unsere Sehnsucht nach verläßlichem Wissen und tragfähiger Orientierung bleibt dabei ungestillt.

Das gilt gegenwärtig besonders für uns in Deutschland. In den vergangenen Wochen ist das Stimmungsbarometer deutlich gesunken. Die allgemeine Gemütslage ist schlecht. Dafür gibt es Gründe: Vieles, was wir in den vergangenen Jahrzehnten schätzen und nutzen lernten - sicheres Auskommen im Alter, soziale Sicherheit im Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit -, kommt auf den Prüfstand und wird in Frage gestellt. Dies alles ist gepaart mit einer höchst unsicheren Weltlage, die uns durchaus Angst und Schrecken einjagt. Niemand wollte es bestreiten: Das sind ernste Probleme! Unsere Welt, unser Land und unsere Gesellschaft stehen vor erheblichen Herausforderungen.

Wir hören solche Meldungen fast jeden Tag. Doch wie gehen wir mit ihnen um? Mit einiger Sorge sehe ich, wie sich mehr und mehr gespielte Aufgeregtheit breit macht: Daran sind nicht nur die Botschaften aus Politik und Wirtschaft und die Medien schuld. Es gibt bei uns eine Neigung, alles, was uns negativ betreffen könnte, gleich als Katastrophe aufzufassen. In die berechtigten Sorgen im Blick auf die Zukunft mischen sich bedenkliche Töne des Selbstmitleids ein: "Wir sind betrogen worden - von denen da oben", heißt es nun. Die Schuldigen sind schnell ausgemacht, wir selbst aber halten uns heraus mit der Auskunft: "Da kann man doch nichts machen!" - und regen uns dennoch auf.

Mitten in dieser Fülle schlechter Nachrichten, in der wir uns derzeit zu verlieren drohen, leuchtet auch an diesem Heiligen Abend die Weihnachtsbotschaft auf. Sie hat es schwer, gegen uns anzukommen und bei uns anzukommen. Und dennoch: Alle Meldungen, die uns ängstigen oder ärgern, sind nichts gegen diesen einen einzigen Satz, daß Gott uns in der Geburt Jesu seinen Frieden schenkt. Unsere Welt, die von einem wirklichen Frieden weit entfernt zu sein scheint, unsere ruhelose, sensationsgierige Gesellschaft, wir selbst - hin und her gerissen, wie wir sind - haben diese Botschaft nötig. Denn sie ist es, die unserem Leben die alles entscheidende Ausrichtung gibt und sicheren Halt schenkt.

Die Weihnachtsbotschaft der Engel blendet das Dunkel der Welt nicht einfach aus. Im Gegenteil! Sie richtet sich von jeher an Menschen, die von Sorgen erfüllt sind: vom Kampf um die nötige menschliche Achtung und Anerkennung, um ein erträgliches Miteinander, um das tägliche Auskommen. Schon damals in der Nacht zu Bethlehem galt diese Botschaft einer wenig friedlichen und kaum gerechten Welt: Zuerst hörten sie die Hirten, Leute ohne jedes gesellschaftliche Ansehen und ohne jeden Einfluß. Denen war längst klar, daß sie im Wettstreit der Mächtigen wenig ausrichten würden. Aber ausgerechnet zu ihnen kommt die Menge der himmlischen Heerscharen und sagt ihnen, was auch wir glauben sollen: Der Frieden auf Erden bricht an, weil Himmel und Erde zusammengehören. Gott erfüllt beide. Wir Menschen mit unseren Ängsten und Unzulänglichkeiten, unserem Versagen und unserer Schuld sind ihm so viel wert, daß er sich zu uns auf den Weg macht und uns nahekommt. Er begegnet uns freundlich und liebevoll in dem Kind mit Namen Jesus, um uns aus unserer Selbstverstrickung zu befreien, damit endlich Frieden wird auf dieser Welt.

In Augenblicken wie diesen hier in der Kirche möchten wir das glauben! Es wäre fast zu schön, um wahr zu sein: eine Welt ohne Kriege, Kriegsdrohungen und Massenvernichtungsmittel, eine gerechte Verteilung der Güter, die unsere Erde immer noch im Überfluß bietet, eine Gesellschaft, in der Worte wie "Solidarität", "Respekt" und "Aussöhnung" nicht zu Unwörtern werden! Das wäre ein Stück "heile" Welt, Erfüllung unserer Hoffnung und unserer Träume.

Die Weihnachtsbotschaft sagt uns, daß diese heile Welt kein Phantom ist, sondern mit Jesu Geburt begonnen hat. Gott meint es gut mit uns, in diesen Worten läßt sich zusammenfassen, was Weihnachten für uns bedeutet. Er nimmt uns als seine Geschöpfe in unserer Sehnsucht nach Frieden und Glück ernst. Und er tut das, indem er uns als verantwortungsvolle Menschen achtet und von uns erwartet, daß wir sein großes Geschenk annehmen. Weihnachten fängt "oben" an, gewiß, bei Gottes Ehre - aber gewinnt hier "unten" auf Erden Gestalt. Das Weihnachtsgeschehen ist von Anfang an darauf angelegt, uns einzubeziehen: Wie schon die Hirten werden auch wir aus der bloßen Betrachterrolle herausgeholt. Die Botschaft der Engel vom Frieden auf Erden will geglaubt und dann, soweit es in unseren Kräften steht, auch getan werden.

Weil Gott an uns Wohlgefallen hat, weil er uns liebt, erfahren wir eine große Freiheit von den Sorgen und Ängsten, die uns bedrücken. Und wir gewinnen Phantasie und Kraft, uns mitten in dieser Welt dafür einzusetzen, daß Gottes Frieden zu allen Menschen gelangt. Wer die Geburt Jesu an Weihnachten feiert, hat Hoffnung! Und wer Hoffnung hat, weiß auch zu handeln. Es wäre darum ein Zeichen unseres Unglaubens und unseres mangelnden Vertrauens gegenüber Gott, wollten wir angesichts aller anstehenden Aufgaben verzagen oder gar resignieren.

Fangen wir doch, um uns nicht gleich entmutigen zu lassen, ganz klein an - so wie Gott in Bethlehem auch. Der Bogen spannt sich dann wie von selbst immer weiter. Das Zusammenleben etwa mit anderen Menschen in Partnerschaft, Ehe und Familie ist ein täglicher Ort der Einübung und der Bewährung des Friedens, wo doch heutzutage die Tendenz nahe liegt und es anscheinend leichter ist, aneinander vorbei zu leben und - wie es so bitter heißt - in lauter kleine Ich-AGs zu zerfallen.

Den Frieden Gottes aber können wir nie allein für uns haben. Er verweist uns stets in die Gemeinschaft mit anderen Menschen! Weil das so ist, hört die Verheißung vom Frieden auf Erden auch nicht an unseren eigenen Grenzen auf. Schon damals in der Heiligen Nacht ging sie weit über das kleine Dorf Bethlehem hinaus. Sie galt mit den Hirten zugleich allen Menschen, an denen Gott Wohlgefallen hat - weltweit! Dabei ist es geblieben. Die Weihnachtsbotschaft ist eine wahrhaft ökumenische Botschaft. Sie umfaßt die ganze Erde und verbindet uns in der Verantwortung füreinander. Die Wirklichkeit Gottes in Jesus Christus begegnet der Wirklichkeit unserer Welt - auch dort, wo wir selbst kaum Hoffnung haben. Bethlehem hat viele Namen: Irak und Tschetschenien heißen sie, Afghanistan, Israel und Palästina, Simbabwe, Nordirland oder Baskenland. Im Licht von Weihnachten erkennen wir den notvollen Zustand der Welt - und zugleich die große Zukunft, die ihr verheißen ist.

Wenn wir der Weihnachtsbotschaft voller Ernst und Freude vertrauen, dann geht es also um viel mehr als um eine schöne, aber kurzlebige Verzauberung der Welt im Schein der Kerzen. Es geht um das Heil und das Wohl der Welt! Noch immer ist die Weihnachtsbotschaft unverbraucht wie in jener ersten Nacht, noch immer ist sie die entscheidende Nachricht der Weltgeschichte. Sie betrifft uns auch heute, sie bewegt uns, etwas dazu beizutragen, daß das friedliche Zusammenleben gelingt, sie schenkt uns mitten in den Unsicherheiten und Bedrohungen, denen wir uns ausgesetzt fühlen, Zuversicht für unser eigenes Leben und für unsere Welt.

Die großen Worte der Engel stärken und begleiten uns. So kann es bei uns Weihnachten werden: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens."

Und der Friede Gottes, der alles menschliche Begreifen übersteigt, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.

Bischof Dr. Martin Hein, Kassel
e-mail: bischof@ekkw.de


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