Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Weihnachtstag, 25. Dezember 2002
Predigt über Lukas 2, 7+12, verfaßt von Rolf Wischnath
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

"IN WINDELN GEWICKELT"
Predigt über die peinlichste Stelle der Weihnachtsgeschichte

Heute Morgen, liebe Gemeinde, will ich nur eben über eine Nebensache der Weihnachtsgeschichte predigen: über die Windeln. "Das ist doch nicht dein Ernst, dass du nur über die Windeln predigen willst!", hat mir ein naher Mensch etwas entgeistert entgegnet. "Doch", habe ich gesagt, "die sind jetzt dran. Und die Windel-Predigt hat vier Teile."

I EINE GESCHICHTE VOM ENDE HER

Die Sache mit den "Windeln" ist die peinlichste Stelle in der Weihnachtsgeschichte. Aber immerhin kommen sie zweimal vor. Da müssen sie wichtig sein: "Und wickelte ihn in Windeln", heißt es vom ersten Tun der jungen Mutter an ihrem Erstgeborenen. Und nicht etwa: "Da herzte sie das Kind und sang ihm ein Wiegenlied." Wäre das nicht weihnachtlicher gewesen, lieber Lukas, wenn Du es uns so erzählt hättest? "Und das habt zum Zeichen", sagt der Engel den Hirten auf dem Feld; und nun folgt die zweite Erwähnung jener Textilien: "Ihr werdet finden das Kind, in Windeln gewickelt" (V. 12). Wieso ist das ein Zeichen? Und auch noch das erste? In Windeln gewickelt findet man in der Regel jedes neugeborene Kind. Was soll's?

Wir begreifen es, wenn wir die Geschichte vom Ende her ansehen: die ganze Geschichte von ihrem Ende her, das meint: die Geschichte Jesu Christi insgesamt vom Ende her erschließen. Was heißt das?

Ich will es Ihnen an einer Erzählung aus unseren Tagen verdeutlichen, in denen auch Windeln vorkommen. Ilse Aichinger (geb. 1921), eine hervorragende Erzählerin der Gegenwart, hat sie geschrieben und "Spiegelgeschichte" genannt; und sie ist dafür mit einem Literaturpreis ausgezeichnet worden. In dieser "Spiegelgeschichte" rollt die Dichterin einen Lebenslauf von rückwärts auf:

Vom Augenblick der Bestattung an wird der Weg bis zur Geburt zurückverfolgt. Somit werden Anfang und Ende des Lebens - wie alles, was in einem Spiegel erscheint - vertauscht. Die Todesstunde wird zur Stunde der Geburt und die Stunde der Geburt zur Todesstunde. Der Sarg einer jungen Frau, die aufgrund einer misslungenen Abtreibung gestorben ist, wird aus dem Grab gehoben und der Kranz vom Sargdeckel dem jungen Mann, der mit gesenktem Kopf am Grab steht, zurückgegeben. Dann bewegt sich der Zug zur Friedhofskapelle, wo die Kerzen angezündet werden und der Vikar die Totengebete spricht. Gleich darauf fährt der Leichenwagen zum Spital. Man trägt den Sarg in die dortige Leichenhalle. Am nächsten Tag liegt die junge Frau in einem Krankenbett und beginnt zu atmen, schwer und tief. Sie bäumt sich auf und schreit nach ihrer Mutter. Später steht sie auf und legt sich zuhause zu Bett. Am siebten Tag jagen die Schmerzen sie auf den Weg zur Kurpfuscherin, die in der Nähe einer Kneipe wohnt. Alles ist hier schmutzig. "Mach mir mein Kind wieder lebendig!" schreit die junge Frau. Die Alte erschrickt und erfüllt den Befehl. Anschließend trifft sie den jungen Mann und fällt ihm in die Arme. Sie weiß, dass sie sich für immer von ihm trennen sollte, tut es aber nicht. Bevor er ihr sagt, dass er sie liebt, spricht er von jener alten Frau. Es kommt die Schulzeit. Ihre Mutter stirbt und kehrt ebenfalls ins Leben zurück. Doch das Schlimmste bleibt noch zu tun: das Sprechen und Gehen zu verlernen und schließlich in die Windeln gewickelt zu werden. Im Augenblick ihrer Geburt beugt sich ihr Vater über sie. "Es ist zu Ende, sie ist tot!" sagen die Umstehenden hinter ihr (Vgl. Ilse Aichinger, Spiegelgeschichte, in: Der Gefesselte, Erzählungen, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1967, S. 44-53). - Ilse Aichinger will mit dieser "Spiegelgeschichte" ihre Leserinnen und Leser verleiten zu einer intensiven Fragestellung nach dem, was Leben eigentlich ist. Ihre Antwort überrascht. Sie sagt, erst der Tod öffnet uns die Augen für den Wert und die Begrenztheit unseres Lebens.

Wir sollen erkennen, dass alles, was wir tun und erleben, in Wahrheit längst überschattet ist vom Ende. Alles bringt uns - ob wir es wollen oder nicht - dem Ende näher. Und zum ersten Mal in unserem Leben fällt dieser Schatten, wo man uns Menschen windelt bald nach der Entbindung unserer Mütter - Ent-Bindung von uns. Denn in diesem Augenblick werden wir erstmalig eingebunden. Unser nackter Leib wird zum ersten Mal eingekleidet. Die Blöße wird bedeckt. Und das fängt mit den Windeln an. Sie müssen fest sitzen und gut halten. Neugeborene sollen sich allein daraus nicht befreien können. Sie können sich ihren Windeln nicht entwinden. Windeln sind unsere ersten Fesseln. Und das war damals in Bethlehem noch augenfälliger, als es noch keine Wegwerf- oder Baumwollwindeln gab. Sondern "Windeln" das waren zur Zeit Jesu, was sie heute noch großenteils etwa in Russland sind und als was sie Lukas auch wörtlich bezeichnet: "Binden" für den ganzen Leib - genauer beschrieben: ein quadratisches Tuch (meist aus Leinen) mit einem 6m langen Wickelband, in das das Neugeborene in früh-jüdischer Zeit während der ersten sieben Tage fest eingewickelt wurde. Erklärt wurde dieser Brauch damit, dass auf diese Weise man die Kinder zugleich anerkannt und sich zu eigen gemacht hat, und dass - so fest und eingebunden - ihre von Schwangerschaft und Geburt krummen Glieder gerichtet würden.

Solcherart eingewickelt Säuglinge sehen auf Bildern aus wie verschnürte Päckchen. Und man ahnt, was für eine Tortur ihnen damit zugemutet wurde. Und sogleich assoziieren wir - wenn wir daneben die Bilder der letzten Einbindung von Menschen sehen - etwas, was sich beim Windeln wie ein Schatten ankündigt: dass man uns alle einmal ein letztes Mal einkleiden und einbinden wird und wir dann alle wieder so passiv und hilflos sein werden wie beim ersten Windeln, dass dann andere zum letzten Mal unsere Blöße bedecken, bevor wir in Sarg und Grab gelegt oder auf den Weg ins Feuer der Krematorien oder in die Tiefe der Meere geschickt werden.

Und nun entdecken wir, warum in der Weihnachtsgeschichte die Windeln genannt werden, gleich zweimal, denn "Doppelt genäht hält besser." Lesen wir Jesu Lebensgeschichte [wie die von Ilse Aichinger auch als "Spiegelgeschichte"] vom Ende der Evangelien her, dann fällt es wie Schuppen von den Augen:

Auch am Ende des Lebens Jesu steht die letzte "Einbindung", eine letzte "Wickelung": Wie am Anfang des Weges der Maria nach Bethlehem zur Niederkunft, so taucht auch am Ende von Jesu Lebensweg ein Mann auf mit Namen "Josef". Nun ist es "Josef aus Arimathia". Wie vom Vater Jesu heißt es auch von ihm: "Er war ein guter und gerechter Mann" (Lukas 23, 50). "Dieser ging zu Pilatus und er ging gegen Abend" - nämlich an einem anderen "Heilig Abend", am Abend des Karfreitag -, "und Joseph erbat sich vom römischen Landpfleger Pilatus den toten Leib Jesu. Und er nahm ihn vom Kreuz ab, wickelte ihn in Binden aus Leinen und legte ihn in eine ausgehauene Gruft, worin noch niemand gelegen hatte" (V. 53). So war die Grablegung Jesu, seine letzte Bindung. Und unübersehbar sind die Parallelen zur Weihnachtsgeschichte: Auch hier die "Bindung" - "in Windeln gewickelt" -, und auch hier eine kleine "ausgehauene Gruft, worin noch niemand gelegen hatte": die Futterkrippe am Geburtstag jenes Toten war nichts anderes als eine kleine ausgehauene Vertiefung in den Steinen des Stalls: "und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge."

II DIE WINDELN - DAS ENTHÜLLENDE ZEICHEN

Nackt kommen wir auf die Welt. Und dann sind wir alle in den ersten Momenten, kaum der dunklen Höhle in der Mutter entronnen, gebunden worden: gewickelt und gewindelt. Und so gehen wir einmal wieder von der Welt. So werden wir alle, ohne uns nur einen Moment dagegen wehren zu können, auch zu unserem Beschluss eingebunden - und abgewickelt. Die Art und Weise unserer ersten und letzten Körpermomente und der ersten und letzten Taten, die Menschen an unserem Körper tun, enthüllen, wer wir Menschen sind in unserer nackten, hilflosen Kreatürlichkeit. Und dafür sind die "Binden", hier "Windeln" genannt, "Zeichen" - enthüllende Zeichen.

Die Art und Weise unserer letzten Momente auf dieser Erde und die letzten Taten, die Menschen an uns tun, enthüllen endlich und unwidersprechlich, was aus uns Menschen wird in unserer Hinfälligkeit und Sterblichkeit, in unserem Sein zum Tode, dem jeder und jede von uns auch mit diesem Tag und in dieser Stunde nun wieder näher ist, als er oder sie es je waren. Auch dafür sind die "Binden" - heute von uns "Letztes Hemd" genannt, bekanntlich hat es keine Taschen -, "Zeichen", Zeichen der Enthüllung.

"Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden, das Kind in Windeln gewickelt." Man muss das hören, Schwestern und Brüder, in seiner unfeierlichen Härte. Auch die ersten Zuhörer der Weihnachtsgeschichte haben das sofort begriffen und verstanden, als sie zweimal hörten von diesem Kind: "in Windeln gewickelt." Auch sie kannten ja die Geschichte jenes Erstgeborenen von ihrem Ende her.

Und sie kannten noch mehr: nämlich ein Wort aus dem jüngsten Buch des griechischen Alten Testaments, aus dem Buch der sog. "Weisheit Salomos", wo sogar dem König Salomo - dem reichsten und prächtigsten, dem erfolgreichsten und üppigsten, dem begehrtesten und potentesten aller Könige Israels ein Wort der Einsicht in den Mund gelegt wird: ein Wort, das man sich heute im Mund und im Herzen all der Erfolgreichen und Reichen, der Prächtigen und Üppigen, der Potenten und Potentaten unserer Zeit und unseres Landes wünschte, so sie denn auch für sich in Anspruch nehmen, weise - lebens-weise! - zu sein. In diesem Wort des weisen Salomo wird betont, dass auch der Erfolgreichste und Reichste, dass selbst der König ein Mensch ist wie alle anderen auch und dass auch er der Windeln nicht entbehren konnte und wird:

"Auch ich bin ein sterblicher Mensch wie alle anderen,
Nachkomme der ersten, aus Erde gebildeten Menschen.
Im Schoß der Mutter wurde ich zu Fleisch geformt,
zu dem das Blut in neun Monaten gerann
durch den Samen des Mannes
und die Lust, die im Beischlaf hinzukam.
Geboren atmete auch ich die gemeinsame Luft,
ich fiel auf die Erde, die Gleiches von allen erduldet,
und Weinen war mein erster Laut wie bei allen.
In Windeln und mit Sorgen wurde ich aufgezogen.
Keiner der Könige hat einen anderen Anfang des Daseins.
Ein Eingang aller zum Leben, gleich auch der Ausgang."
[Weisheit Salomos 7, 1-6]

So enthüllend und so weise ist das Zeichen der Heiligen Nacht, das erste Zeichen der Weihnacht vor allen anderen - vor Krippe und Stern, vor Christbaum und Kerzen, vor Gänsebraten und Geschenken, vor "Jauchzet, frohlocket" und "Stille Nacht, heilige Nacht", vor dem "holden Knaben im lockigen Haar" und dem "schlaf in himmlischer Ruh" - vor all diesem ist dieses Zeichen uns Menschen enthüllend: "Und sie wickelte ihn in Windeln"! "Und das habt zum Zeichen!"

III DIE WINDELN - DAS VERHÜLLENDE ZEICHEN

Aber nun heißt es ja, dass ER in Windeln gewickelt wurde. ER: Jesus Christus - von IHR: Maria, der von Gott Auserwählten. ER: Der Erstgeborene der Maria, der ganz zu Gott gehört, ja der, in dem Gott selber Mensch wird. Mein Gott, Gott in Windeln gewickelt? Merken wir das noch, was für eine unerhörte Botschaft in diesem Zeichen verhüllt ist?

Liebe christliche Gemeinde, hätten wir doch bloß noch etwas von dem Entsetzen, das zum Beispiel den Theologen und Prediger Marcion im zweiten Jahrhundert gepackt hat, als er über diese Geschichte nachdachte und zu predigen hatte. Der Mann hatte ein ausgesprochenes Gespür und einen tief religiösen Sinn für die Jenseitigkeit und alles übersteigende Herrlichkeit Gottes, er hatte Geschmack und Sinn für das Unendliche und Fromme und Erhabene, das doch auch heute Abend wieder so viele Menschen in den Kirchen suchen. Diesem Marcion waren die Armut und Niedrigkeit, das Elend und die Zweifelhaftigkeit der Geburt Christi in Stall und Krippe ein entsetzlicher Anstoß. Und so hat er in seinen Gemeinden die Weihnachtsgeschichte, ja gleich alle Kindheitsberichte des Lukas und Matthäus einfach abgeschafft. Er lässt Christus an heiligem Ort, gleichsam in der damaligen Oberkirche / Klosterkirche, nämlich in der Synagoge von Kapernaum zum ersten Male in die Welt kommen - mit einem Scheinleib und einem allem Irdischen abholden Sinn. Und man überliefert von ihm den Ruf: "Schafft endlich die Krippe fort und die eines Gottes unwürdigen Windeln!" (1)

Die Kirche hat ihn zum Ketzer erklärt und ihn als Irrlehrer ausgeschlossen. Bereits der Bischof Polykarp schleuderte ihm die schrecklichen Worte entgegen: "Ich kenne dich, du Erstgeborener des Satans!" Aber den Anstoß des Entsetzens und der Fragen des Marcion hat die Kirche nicht beseitigen können: Gott in Windeln? Unsäglich! Wie das denn? Bei Martin Luther finden wir den Protest dagegen aufgenommen, wenn er einmal predigt: "Der Türke (also ein Muslim) spricht (zum Christen): Da wirst du mich nicht überreden, dass der soll ein Gott sein, der da von einem Weibe geboren wird, lässt sich herab vom Himmel legen neun Monat in den Leib Marien der Jungfrau ......" - und nun sagt Luther etwas über die Windeln und das, was das Kind darein macht, aber es ist in einer solchen Ausdrucksweise gesagt, dass ich es nicht wage, es hier zum Heiligen Festtag in dieser lutherischen Kirche vorzulesen (2), es würde zum Skandal; aber der Reformator fährt so fort, dass ich es weiterlesen darf: "Darnach stirbt er am Kreuz als ein Dieb und Schelm! Soll das ein Gott sein?"

Ja, dass das Gott ist, meine Schwestern und Brüder, verhüllt in den Windeln: Das ist das Wunder, das unausschöpfliche und darum immer wieder zu verkündigende Wunder der Heiligen Nacht: "In unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewge Gut." Gott wird Mensch, "dir Mensch zugute" - in ihm, dem Windelkind -; er kriecht uns unter die Haut.

Und hier kann ich Martin Luther reden lassen, ohne auch nur ein einziges Mal zu stocken und zu stammeln, wo er den Trost des verhüllten Weihnachtswunders entfaltet:

"Derhalben hat sich unser lieber gnädiger Gott im Himmel, aus unaussprechlicher Liebe und Barmherzigkeit gegen das menschliche Geschlecht, viel näher in diese elende, vom Teufel verachtete, geplagte und auf höchste geschändete Natur getan, und ist viel tiefer in unser Fleisch kommen, denn der Teufel hineinkommen kann. Der Teufel mag einen Menschen besitzen und martern, aber er kann dennoch nicht ein persönlicher Mensch werden, die Naturen bleiben allweg geschieden; aber durch diese fröhliche Geburt dieses Kindleins, ist der ewige Gott in eine Person mit unserer menschlichen natur vereinigt, und ist der Sohn wahrhaftig unser Fleisch und Blut ...."

Und dafür sind die Windeln eben auch das Zeichen: Gott ist solidarisch mit uns - selbst in den peinlichen Kalamitäten unseres Lebensbeginns und erst recht in den hochnotpeinlichen Kalamitäten, in der höchsten Not unseres Leidens und unseres Sterbens. Dass es Gott ist, der so geboren wird, der so selbst den Weg aller menschlichen Natur auf sich nimmt, in Entäußerung und Erniedrigung, in Krankheit, Pein und Tod, das verhüllen die Windeln, das verhüllen sie gerade da, wo viele Maler der christlichen Kunst sie am Kreuz des Karfreitags noch einmal gemalt haben: um die Hüften des Gekreuzigten, wo wir doch genau wissen, dass die Römer diesen Sklaventod so widerwärtig "gestalteten", dass sie den Gekreuzigten nicht nur das Leben, sondern auch alle Ehre und Selbstachtung nahmen, indem sie sie nackt und schamlos zur Schau stellten und ans Holz schlugen. Und es waren damals wie heute nur wenige, die im gaffenden Volk bei solchem Schauspiel sich zum Zeichen ihrer Scham und Schande das Haupt verhüllten.

IV DIE WINDELN - DAS BEDEUTENDE ZEICHEN

Liebe Gemeinde, haben die "Windeln Jesu" eine Bedeutung - für Dich und mich, für uns? "Nun denke," fragt Luther, "was mögen's für Tüchlein gewesen sein, da Maria ihn einwickelt; vielleicht ihre Schleyer, oder was sie hat mögen entbehren an ihrem Leibe. Dass sie aber in Josephs Hosen sollte ihn gewickelt haben, als man zu Aachen (im Dom als Reliquien) weiset, das lautet allzu lügerlich und leichtfertig. Es sind wohl Fabeln, der wohl mehr in aller Welt sind." Keine Fabel, liebe Gemeinde, und auch nicht im Dom zu Aachen oder Trier als Reliquien zu besichtigen, sondern heute und hier zu hören und zu glauben ist dies, worauf die Windeln deuten:

Seit dieser Nacht, in der der Sohn Gottes geboren und gewickelt wurde, gehört jeder Mensch unserem Gott. Keiner und keine ist ihm so fern gerückt, dass Gott in der Solidarität mit diesem Wickelkind, mit dem Mann vom Kreuz - ihm oder ihr, Dir und mir - nicht auch noch die Deutung sagen könnte - nämlich die Liebeserklärung: Du Menschenkind gehörst auch zu mir, - und Dich habe ich lieb, gerade Dich, Dich auch.

Windeln als Liebeserklärung? Ja, die eigenartigen Windeln sind im Speziellen Deutezeichen dafür, dass Gott auch unseren Leib meint und liebt, einen Leib, der in dieser Welt - so die Umstände nur grässlich genug sind - "preisgegeben ist allen Erniedrigungen, Schamlosigkeiten, ja Folterungen, mit denen Menschen ihresgleichen in ein nur noch dahingestrecktes, preisgegebenes, sich ängstigendes, zitterndes Stück Fleisch verwandeln können; aber es wird seit dieser ‚Nacht' auch gelten, dass Menschen fortan nicht mehr leben und geboren werden aus dem Begehren des Mannes und dem Verlangen des Blutes, sondern allein aus Gott; kein Mensch ist fortan mehr des anderen Untertan, Produkt und Eigentum, ein jeder ist seit dieser ‚Nacht' von ‚Bethlehem' auf ewig Eigentum und Kind des ewigen Königs" (Eugen Drewermann).

Ein "ewiger König" in Windeln? Bei meiner Arbeit zu dieser Predigt habe ich von dem katholischen Theologen Joachim Kügler (Bonn) eine Arbeit gelesen, in der er nachweist, dass es im Alten Ägypten von den Pharaonen die volkstümliche Redewendung vom "Herrschen auf der Windel" gab. Damit sollte ausgesagt werden: Dieser Pharao oder jener Großfürst, dieser Potentat oder jener Volksherrscher, der war so lange und so erfolgreich dran, dass es von ihm heißen konnte, er habe schon "aus den Windeln heraus" und "auf der Windel thronend" in Weisheit regiert. "Von Kindesbeinen an", würden wir sagen. Oder: "Der hat schon als Kind die Weisheit mit Löffeln gefressen." Oder: "Es war ihm schon in die Wiege gelegt." Aber der Ausdruck vom Pharao, der schon "auf der Windel regiert" habe, meint noch weitaus mehr: Er spricht von einer subjektiv wahrgenommenen Genialität des jeweiligen Herrschers schon in Windeltagen. Gegen dieses selbstherrliche Überschnappen von Menschen, gegen einen solche Personenkult spricht die Weihnachtsgeschichte, indem sie anders von den Windeln des Königs Jesu Christi spricht. Kein Wort verlautet von diesem Kind. Und am Ende vor den Potentaten und Diktatoren seiner Zeit schweigt er wieder. Denn seine Herrschaft geschieht im Zeichen des Kreuzes, der Erniedrigung, der Solidarität und einer Liebe, die den Tod aus Liebe nicht scheut. - Und wir haben schon gehört, dass dann danach die "Windeln", die "Binden" noch einmal eine Rolle spielen, als sie nämlich abgerollt werden, um den einzurollen und einzubinden, der für uns - auch für dich und mich - gestorben ist.

Ja, da noch einmal "die Windeln", "die Binden aus Leinen"? Ist das ihre letzte Rolle? Ich glaube nicht:

In der Ostergeschichte des Lukas wird berichtet, dass die Frauen, (unter ihnen zwei Marien) die bei der Grablegung am Heilig Abend des Karfreitag zugeschaut haben, zwei Tage später, am ersten Tag der Woche "am frühen Morgen zur Gruft kamen" - übrigens wohl genau zu der Zeit, zu der am Weihnachtsmorgen nach jener Geburtsnacht - die Männer, die Hirten bei der Krippe in Bethlehem ankommen - dass also die Frauen zu dieser Zeit in die Gruft gehen. Und es heißt: "Als sie aber hineingingen, fanden sie den Leib des Herrn Jesus nicht." Und dann folgen fast dieselben Worte wie in der Weihnachtsgeschichte: "Es begab sich aber, ....., siehe, da traten zwei Männer in klarem Gewand zu ihnen. Und sie fürchteten sich. Die Männer aber sprachen zu ihnen: Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?" (Fast möchte man hier hinzufügen: "Siehe, wir verkündigen euch große Freude!") "Er ist nicht hier, sondern er ist auferweckt worden" (Lukas 24, 5).

Und dann heißt es schließlich in dieser Ostergeschichte: "Diese Worte aber kamen ihnen vor wie leeres Gerede, und sie glaubten ihnen nicht. Petrus jedoch machte sich auf" - so wie die Hirten sich in der Weihnachtsnacht "aufmachten" - "und lief zur Gruft" - so wie die Hirten damals "eilend kamen" -; "und wie Petrus sich hineinbeugt in die Gruft" am Ostermorgen - so wie die Hirten sich über die Krippe gebeugt haben am Weihnachtsmorgen - da heißt es - zum letzten Mal bei Lukas werden sie nun erwähnt: "Und Petrus sieht nur die leinenen Binden daliegen" (Lukas 24, 12). Sieht sie und weiß und glaubt: Mein Gott, das Kind in der Krippe, der Tote vom Kreuz - ER lebt!

"Und das habt zum Zeichen."

Amen.

Anmerkungen:
(1) Überhaupt empfand Marcion den Menschen als in seiner Schwachheit, Hilflosigkeit und Sterblichkeit als elendes Geschöpf. Seinen Akt der Fortpflanzung betrachtete er als etwas Abscheuliches, das den Menschen dem Vieh ähn-lich mache, und wodurch "im Mutterleib aus den abscheulichen Zeugungsstoffen ein Fötus zusammenrinnt, durch denselben Unrat neun Monate ernährt wird, vermittels der Schamteile ans Licht kommt und unter Possen großge-füttert wird." (Walter Nigg, Das Buch der Ketzer, Zürich 1986, S. 71 (Diogenes Taschebuch).

(2) Nämlich: "Gott scheißt und pisst in die Wiegen .....".

KIND IN WINDELN FÜR UNS

Er wurde ein Kind,
damit du zum vollen Mannesalter reifen könntest;
er wurde eingewickelt in Windeln,
damit du herausgewickelt werden könntest
aus den Netzen des Todes;
er war auf Erden,
damit du unter den Sternen seiest;
er hatte keinen Platz in der Herberge,
damit du viele Wohnungen im Himmel haben könntest.
Reich war er und wurde arm für uns.
Seine Armut ist unser Reichtum,
seine Schwäche unsere Kraft.
Für uns ist er arm,
in sich ist er reich.
Du siehst mit den Augen,
dass er in Windeln liegt;
dass er aber Gottes Sohn ist,
das siehst du nicht.

Ambrosius, Bischof von Mailand (339 - 397)

Ipse siquidem homo factus est, ut nos dii efficeremur.
Er selbst ist nämlich zum Menschen gemacht, damit wir zu Göttern gemacht würden.

Athanasius [Oratio de incarnatione]

Dagegen Luther:

Nos sibi conformes facit et crucifigit, faciens ex infelicibus et superbis diis homines veros, idest miseros et peccatores. Quia nos sibi conformes facit et crucifigit, faciens ex infelicibus et superbis diis homines veros, idest miseros et peccatores. Quia enim ascendimus in Adam ad similitudinem die, ideo descendit ille in similitudinem nostram, ut reduceret nos ad nostri cognitionem.

Er macht uns sich gleichförmig und kreuzigt uns, indem er aus unglücklichen und stolzen Göttern wahre Menschen macht, das heißt, Elende und Sünder. Weil wir nämlich in Adam in die Gottähnlichkeit aufsteigen [Anspielung auf den Sündenfall Adams aufgrund der Verlockung der Schlange im Paradies: "Ihr werdet sein wie Gott!"], deshalb steigt er herab in unsere Ähnlichkeit, damit er uns zurückführe zur Erkenntnis unserer selbst.

Generalsuperintendent Dr. Rolf Wischnath
Seminarstraße 38
03044 Cottbus
generalsuperintendent.cottbus@t-online.de


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