Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Sylvester, 31. Dezember 2002
Predigt über Lukas 12, 35-40, verfaßt von Andreas Lindemann
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

"Laßt eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen, und seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen wird von der Hochzeit, damit, wenn er kommt und anklopft, sie ihm sogleich auftun.

Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. Und wenn er kommt in der zweiten oder in der dritten Nachtwache und findet's so: selig sind sie.

Das sollt ihr aber wissen: Wenn ein Hausherr wüßte, zu welcher Stunde der Dieb kommt, so ließe er nicht in sein Haus einbrechen.

Seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meint."

Liebe Gemeinde,

zwei Bilder sind es, die uns hier vor Augen gestellt werden. Zwei kleine Szenen. Beide erzählen von einem Hausherrn; und beide beziehen sich dabei auf die Zeit der Dunkelheit, auf die Nacht. Der eine der beiden Herren ist nicht zu Hause; aber seine Dienerschaft wird aufgerufen, bei seiner Rückkehr dienstbereit zu sein, und wäre es auch tiefste Nacht. Der andere der beiden Hausherren ist zu Hause. Aber er ist besorgt, es könnte ein Einbrecher kommen. Er würde sich gern schlafen legen; aber er fürchtet, der Einbrecher werde sich dies zunutze machen.

Zwei kleine Szenen - zwei nur mit wenigen Strichen angedeutete Bilder. Wir wollen uns das erste dieser Bilder ein wenig ausmalen. Vielleicht sehen wir ein Schloß vor uns, oder eine größere Villa, jedenfalls das Anwesen eines wohlhabenden Mannes. Er führt, wie man so sagt, ein großes Haus. Er gebietet über eine zahlreiche Dienerschaft; die sorgt für Ordnung und Sauberkeit. Es gibt eine Köchin oder einen Koch; ebenso Menschen, die den Garten pflegen.

Aber der Hausherr ist gar nicht da. Denn er hat die Einladung zu einer Hochzeitsfeier erhalten und hat sich auf den Weg gemacht. Schon am frühen Morgen ist er losgefahren. Jetzt ist es Abend geworden, die Nacht ist hereingebrochen. Wann wird der Hausherr zurückkommen? Der Weg ist weit, die Wege sind schlecht. Könnte es sein, daß er die ganze Nacht über wegbleiben wird?

Die Dienerschaft überlegt: Müssen wir auf die Rückkehr des Herrn warten? Können wir uns nicht schlafen legen? Wir haben doch Anspruch auf unsere Nachtruhe.

Nein, sagt da einer von ihnen: "Laßt eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen, und seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen wird von der Hochzeit, damit, wenn er kommt und anklopft, sie ihm sogleich auftun."

Wer ist es, der so redet - und noch dazu in so altertümlicher Sprache? Vielleicht ist es ein ganz Übereifriger. Einer, der einen guten Eindruck machen möchte. Vielleicht aber auch einer, der sich daran erinnert hat, daß der abwesende Hausherr ein anspruchsvoller Mann ist. Ein Chef, der zwar gut zahlt, der dafür aber von seinen Leuten auch ständige Dienstbereitschaft erwartet. Der es jedenfalls als völlig selbstverständlich ansieht, daß man ihm auf sein Klopfen hin sofort öffnet. Und daß ihm sogleich Essen und Trinken serviert wird, wenn ihn danach gelüstet. Und wäre es auch in tiefster Nacht. So einer ist dieser Hausherr. Da ist es doch wohl besser, wach zu bleiben und auf seine Rückkehr zu warten.

Natürlich - dies ist ein Bild. Oder, wie es gleich anschließend heißt: es ist ein Gleichnis. Der Evangelist Lukas will nicht berichten, eine Gruppe von Hausangestellten habe darüber debattiert, ob man besser auf die Rückkehr des Hausherrn wartet oder ob man es riskieren kann, doch schon ein wenig zu schlafen.

In der Lutherbibel steht über unserem Textabschnitt die Überschrift "Vom Warten auf das Kommen Christi". Der Hausherr, von dem hier gesprochen wird, ist Christus. Der, der dieses Gleichnis erzählt, ist Jesus selber. Und die wartenden Diener, das sind die Jünger. Aber wir könnten auch sagen: Das sind wir. Wir sind gemeint, wenn Jesus sagt: "Laßt eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen." Wir sollen bereit sein, Christus angemessen zu empfangen.

Ist das nicht eine merkwürdige Aufforderung? Gerade heute, gerade an diesem Abend, eine Woche nach Weihnachten? Die Zeit des Wartens auf Christus, das war doch die Zeit des Advents. Und die ist doch längst vorbei. Christus ist bereits gekommen. "Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr" - so haben wir es in der Weihnachtsgeschichte gehört, und so haben wir es auf die eine oder andere Weise auch gesungen. Warum werden wir heute schon wieder dazu aufgerufen, auf ihn zu warten?

Schon die ersten Christen warteten auf das Kommen Christi. Sie waren davon überzeugt, Christus, der gekreuzigte und auferstandene Herr, werde bald wiederkommen. Vom Himmel her, in Herrlichkeit; endgültig, als der Richter und Retter. Am Jüngsten Tag, der das Ende aller Geschichte und das Ende aller Zeit ist. "Von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten", so sagen wir es in unserem Glaubensbekenntnis. Die ersten Christen lebten in einer "Naherwartung". Sie meinten, sie selbst würden das Kommen Christi, den jüngsten Tag, den letzten aller irdischen Tage, unmittelbar selber erleben. Und deshalb müßten sie ständig darauf vorbereitet sein.

Deshalb verzichteten manche von ihnen darauf, sich in der Welt einzurichten. Sie vermieden es, Verantwortung in der Welt zu übernehmen; sie weigerten sich, an morgen zu denken. Denn sie glaubten, ein solches "morgen" werde es gar nicht geben.

Es ist klar: In solch einer Naherwartung kann man nicht lange leben. Das geht schon im normalen Alltagsleben nicht. Jemand verspricht uns: "Morgen besuche ich dich", oder: "Am Sonntag rufe ich dich an", oder: "Am nächsten Ersten bekommst du dein Geld ganz bestimmt zurück". Doch der Tag vergeht, und der Besuch ist nicht gekommen. Der Sonntag verstreicht, und der Anruf ist ausgeblieben. Der neue Monat hat begonnen, und von meinem Geld habe ich noch keinen Cent zurückerhalten. Es fällt uns dann schwer, solchen Versprechungen künftig noch zu vertrauen, wenn wir einmal gemerkt haben, daß sie nicht eingehalten wurden.

In unserem Glauben ist es nicht anders. Wir leben nicht so, als rechneten wir täglich mit dem Kommen Christi. Als stünde der Jüngste Tag unmittelbar bevor. Sondern wir planen unser Leben auf Zukunft hin - manchmal auf Jahre, bisweilen sogar auf Jahrzehnte hinaus. Und wir erwarten, daß auch die Politik, daß die Gesellschaft, daß nicht zuletzt auch die Kirche Vorstellungen hat von der Zukunft. Zwar wissen wir: Es kann schon morgen zu Ende sein. Ich weiß, daß ich mein Leben nicht in der Hand habe. Aber das zu wissen ist etwas anderes als die Erwartung des endzeitlichen Kommens Christi.

Der Evangelist Lukas hat sein Evangelium zu einer Zeit geschrieben, als bei den frühen Christen die Erwartung eines baldigen Kommens Christi schon nachgelassen hatte. "Und wenn er kommt in der zweiten oder in der dritten Nachtwache und findet's so: selig sind sie." Das meint: Es lohnt sich, zu warten. Die Dienerschaft des Hausherrn, die Gemeinde Jesu Christi, soll wach bleiben. Das ist die Mahnung des Lukas.

Aber was bedeutet das für uns? Wir haben doch noch nie so etwas wie eine Naherwartung des Jüngsten Tages gehabt, die nun korrigiert werden müßte. Geht uns die Mahnung des Lukas also überhaupt etwas an? Können wir etwas mit ihr anfangen an diesem Abend?

Wir stehen an der Schwelle eines Jahreswechsels. Wir blicken zurück auf das nun schon so gut wie abgelaufene Jahr 2002. Wir haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Es gab Schönes, und es gab Trauriges. Wir wurden enttäuscht, aber wir hatten auch Anlaß zur Freude und Dankbarkeit. Und es gab Ereignisse, da lag beides ganz nahe beieinander - so wie bei der Hochwasserkatastrophe an der Elbe, bei der sich eine ungeahnte Hilfsbereitschaft von Menschen zeigte. Nun haben wir Erwartungen an das vor uns liegende Jahr 2003. Das mögen Hoffnungen sein. Vielleicht auch Befürchtungen, sogar Ängste. Vielleicht haben wir uns bestimmte Ziele gesteckt, die wir erreichen möchten. Vielleicht haben wir im abgelaufenen Jahr aber auch gemerkt, daß es Ziele gab, die wir endgültig aufgeben mußten.

Spielt dabei die Erwartung des endzeitlichen Kommens Christi eine Rolle? Vermutlich nicht. Wir können gar nicht so leben, als meinten wir, morgen werde das Ende aller Zeit da sein. Aber eben weil das so ist, deshalb gilt die Aussage des Lukasevangeliums gerade heute, am Übergang zu einem neuen Jahr, auch uns. Denn eben dies will der Evangelist Lukas seinen Leserinnen und Lesern, den Menschen damals ebenso wie uns heute, vermitteln: Wir sollen die uns gewährte Zeit verstehen als eine uns von Gott geschenkte Zeit. Wir dürfen und wir sollen diese Zeit durch unser Tun füllen. Das ist gemeint, wenn in dem Gleichnis gesagt wird, die Dienerschaft solle wachen bis zum Kommen des Herrn.

Was aber wird dann geschehen? Wird der Hausherr den Dienern seine Befehle erteilen? Wird er verlangen, daß seine Wünsche erfüllt werden? Wird er fordern, daß die Diener ihren Dienst tun, als wäre es heller Tag?

Hier erfährt das Bild vom Hausherrn, dessen Rückkehr auf sich warten ließ, eine völlig überraschende Wendung: "Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen."

Wir haben richtig gehört. Was hier geschildert wird, das ist eine wahrhaftig verkehrte Welt. Der Herr als Diener! Und der Diener nicht mehr als Knecht, sondern als geehrter Gast. Die normale Erwartung wird auf den Kopf gestellt. Der Gedanke an das Kommen Christi soll bei uns nicht Furcht auslösen, sondern zuversichtliche Hoffnung. Das Vertrauen auf eine von Christus geschenkte Zukunf soll uns nicht lähmen, sondern es ermutigt uns zu aktivem Handeln.

Wir erinnern uns: Derjenige, der im Lukasevangelium diese Worte spricht, ist Jesus selber. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der geschichtliche Mensch Jesus wirklich jeden einzelnen dieser Sätze wortwörtlich so gesprochen hat. Entscheidend ist: Hier wird uns eine Zusage gemacht, der wir bedingungslos vertrauen dürfen. Wir hören eine Verheißung, die auch morgen gilt. Die unsere Zukunft bestimmen soll - wie lang auch immer die Zeit sein mag, die uns zukünftig bestimmt ist. Wir wissen: Unser Leben, unsere Welt als ganze, hat ein Ziel. Wir kennen nicht Datum und Stunde. Aber wir kennen den Namen: Jesus Christus.

Das zweite der von Jesus gezeichneten kleinen Bilder, das kurze Gleichnis vom Dieb in der Nacht, unterstreicht dies: "Wenn ein Hausherr wüßte, zu welcher Stunde der Dieb kommt, so ließe er nicht in sein Haus einbrechen. Seid auch ihr bereit. Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meint."

"Seid bereit" - das bedeutet wiederum nicht, daß wir an jedem Tag so zu leben hätten, als sei dies der letzte aller Tage. Und schon gar nicht wird uns gesagt, wir sollten das Kommen des Menschensohns fürchten. Denn dieser Menschensohn ist keine uns unbekannte Rätselfigur. Dieser Menschensohn ist kein anderer als jener Mensch Jesus von Nazareth, dessen Geburt wir zu Weihnachten dankbar gefeiert haben. Mit seinem Kommen will uns Christus nicht eine böse Überraschung bereiten. Der Jüngste Tag droht uns nicht als Schreck in der Morgenstunde oder als ein plötzliches Sturmklingeln um Mitternacht. Die Wachsamkeit, die uns auferlegt wird, soll nicht mit Furcht verbunden sein, sondern mit Hoffnung. Nicht mit ängstlicher Sorge, sondern mit freudiger Erwartung.

Am letzten Tag des Jahres ist es üblich, auf das Vergangene zurückzublicken. Der Evangelist Lukas lädt uns an diesem Abend aber eher dazu ein, nach vorn zu sehen. Er verheißt uns, daß wir der Zusage glauben dürfen, der kommende Christus wolle unser Diener sein. Im Abendmahl, das wir gleich miteinander feiern wollen, empfangen wir dafür bereits einen Vorgeschmack. Denn in diesem Mahl wird jene Wirklichkeit vorbereitet, die auf uns wartet: "Er wird sich schürzen und wird uns zu Tisch bitten und kommen und uns dienen." Das ist gewißlich wahr. Amen

Prof. Dr. Andreas Lindemann, Bethel
Lindemann.Bethel@t-online.de


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