Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

2. Sonntag nach Weihnachten, 5. Januar 2003
Predigt über Psalm 84 und Lukas 2, 41-52, verfaßt von Erik Høegh-Andersen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Der dänische Dichter Hans Christian Andersen spricht in seinem Vaterlandslied über Dänemark von dem Vaterland, wo man zu Hause ist, wo man seine Wurzeln hat, der Ort, der für einen die Welt bedeutet. Wenn man ein solches Lied singt, so deshalb, weil es gut ist, einen Ort zu haben, wo man zu Hause ist, wo man hingehört mit allem was in uns ist.

Eine Heimat, das ist ein Ort, wo man sich nicht erst erklären muß oder seine Existenzberechtigung beweisen muß. Das ist ein Ort, wo man selbstverständlich hingehört. Eine Geborgenheit, auf die man zurückkommen kann. In einer guten Familie kann man sich weit umher bewegen. Frei kann man als Kind den ganzen Tag spielen und neue, unbekannte, vielleicht gefährliche Dinge entdecken, aber die Familie bleibt, was sie ist. Man kann immer zu ihrer Geborgenheit zurückkehren. Wenn man sich verlaufen hat, ist die Tür nicht geschlossen. In einer Familie gibt es natürlich Regeln, nach denen man sich richten muß, aber auch eine Liebe, die uns annimmt so, wie wir sind.

Das Bewußtsein von einer Heimat, einem Ort, wo wir selbstverständlich hingehören, ein solches Bewußtsein haben wir wohl alle in uns. Nicht notwendigerweise als etwas, was wir uns selbst deutlich machen könnten, vielleicht nur als ein Gefühl. Vielleicht nur als eine Sehnsucht zurück zur Kindheit, ein Heimatgefühl, das längst verschwunden ist.

Denn die Familie, in der man aufgewachsen ist und wo man durch seine Eltern das Leben und die Welt kennenlernt, wo man sich in ihnen spiegelt und in ihrer Geborgenheit ruht - dieses Haus muß man natürlich irgendwann verlassen und sich von ihm lösen. Man kann nicht immer in Geborgenheit hinter den Mauern des Elternhauses leben. Es gehört vielmehr zum Erwachsenwerden hinzu, daß man sich allmählich in einem größeren Zusammenhang sieht als den seiner Familie. Es gehört dazu, daß man sich selbst als einen Menschen unter vielen sieht, in einer Welt, die unüberschaubar und groß ist.

Die Frage ist nun: Können wir die Geborgenheit wiederfinden, von der die meisten von uns eine Erinnerung haben? Haben wir wirklich in uns ein Gefühl, daß wir hier zu Hause sind? Ist diese Welt ein Ort, wo wir uns geborgen fühlen? Können wir vielleicht wie der Psalmist im Alten Testament sagen: Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir? Oder fühlen wir uns heimatlos - ohne Gewißheit von einer Liebe, die immer die Tür offen hält und die uns umarmt und trägt, wenn wir da sind und uns nicht selbst tragen können?

Die Erzählung des Lukas vom zwölfjährigen Jesus im Tempel handelt u.a. von diesen Dingen. Jesus wuchs auf in Nazareth. Das war seine Heimat. Wir hören nicht viel, wie es ihm dort erging. Kurz vor dem Abschnitt dieses Predigttextes steht, daß er wuchs und stark wurde, voller Weisheit, und Gottes Gnade war bei ihm. Aber wir müssen damit rechnen, daß eigentlich nichts Ungewöhnliches in dem war. Jesus wuchs auf wie jeder anderer Junge, mit all der Geborgenheit und Freiheit und Sorglosigkeit, die ein Kind in seiner Familie erfährt.

Aber eine Familie ist nicht dazu da, daß wir immer in ihr bleiben sollen. Die Familie, die wir als Kinder kennenlernen, müssen wir verlassen, um uns in einer anderen und größeren Familie zu finden. Dies geschah mit Jesus im Tempel in Jerusalem. Da fühlte er sich zu Hause in einer großen unendlichen Welt, die die Welt Gottes ist. "Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in dem, was meines Vaters ist!" sagt er zu Joseph und Maria, als sie ihn endlich finden. Vorher waren drei Tage vergangen, wo sie nach ihm gesucht haben in immer größerer Sorge und Angst. Sie haben sich natürlich alles mögliche Schreckliche vorgestellt, was ihm zugestoßen sein konnte. Welche Eltern würden das nicht tun? Aber als sie da stehen und ihm vorwerfen: "Mein Sohn, warum hast du das getan?, zeigt er als das Selbstverständlichste von aller Welt, wo er zu Hause ist. Er ist nicht weggelaufen. "Warum habt ihr mich gesucht? Ich bin ja da, wo ich hingehöre, bei meinem Vater, und da ist Geborgenheit und Freiheit wie bei Euch zu Hause."

"In meines Vaters Haus" oder "dem, was meines Vaters ist", so heißt es in den verschiedenen Übersetzungen.- Der Sinn ist natürlich grundlegend derselbe. Jesus ist dort, wo er hingehört. Mir gefällt am besten die Übersetzung "in meines Vaters Haus", weil dies deutlich die Parallele zeigt zu der Familie, an die wir alle zurückdenken und an die wir uns erinnern. Und "meines Vaters Haus", das ist natürlich nicht nur der Tempel, auch wenn es auch dort ist. Der Tempel, die Kirche, das Haus Gottes oder unseres himmlischen Vaters, das ist dort, wo wir uns an Gott wenden und sein Wort hören, zugleich ist es auch ein Bild der unendlichen Welt, in der wir uns befinden.

Die Vorstellung von dieser Welt als einem Haus Gottes bedeutet, daß wir hier in diesem wunderbaren, aber unüberschaubaren und unsicheren Leben dennoch tief geborgen sind in der Liebe Gottes. Wir sind nicht nur dem Zufall und dem Chaos ausgeliefert, sondern Gott ist uns nahe, wo wir auch sind.

Und das bedeutet, wenn wir die Welt als ein Haus ansehen, daß die Welt ein Ort ist, an dem wir stets Neues endecken und neue unbekannte Räume finden können. Da gibt es dunkle Keller und Kammern und große helle Raume, dort gibt es heimliche Dachkammern und Wendeltreppen und Säulengämge, von denen man nicht weiß, wo sie hinführen. Und geschieht es, daß wir uns dennoch zu verirren scheinen, dann wissen wir, daß Gott wie das Licht in der Finsternis ist und daß er uns den Weg zu den hellen Räumen zeigt, wo es ein freudiges Wiedersehen gibt und wir als die gesehen werden, die wir sind.

Es war stets der Traum oder die Sehnsucht der Menschen, in der Welt in der Weise zu wohnen. "Wie lieb sind mir deine Wohnungen, Herr, meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott", heißt es im 84. Psalm. "Wohl denen, die in deinem Hause wohnen; die loben dich immerdar. Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln. Sie gehen von einer Kraft zu anderen, und schauen den wahren Gott in Zion".

Welch ein starkes und wunderbares Gefühl, hier zu Hause zu sein, in einem Haus zu wandern und zu leben, das Gottes ist. Sich beschützt wissen im Angesicht von Herrlichkeit und Kraft. Und es ist diese vertrauensvolle Hingabe an die Welt als Haus Gottes, die wir auch in der Erzählung des Lukas lernen sollen.

Eine Familie ist ein Ort, an dem man sich nicht verstellen kann, sondern genau so ist, wie man ist. Eine Familie ist ein Ort, an dem die Tür nicht verschlossen ist. Auch wenn wir einen Fehler nach dem anderen begehen, werden wir nicht der Finsternis draußen überlassen. Eine Familie ist ein Ort, wo wir nach der Angst und den Gefahren des Alptraums dennoch wissen, daß es einen höheren Schutz gibt, der die Hand über uns hält.

Und schließlich - daß die Welt das Haus Gottes ist, das bedeutet daß auch alle anderen dort zu Hause sind. Auch die, die im Hause meiner Kindheit vielleicht als gefährlich und fremd erschienen und von denen ich mich fernhalten zu sollen meinte. Denen begegne ich nun als Menschen, die wie ich Kinder unseres himmlischen Vaters sind, und so bin ich mit ihnen verbunden und sie mit mir.

Kennen wir dieses starke Gefühl, daß diese Welt Gottes ist? Erleben wir jeden neuen Tag als einen unbekannten Raum, den wir entdecken sollen und von dem wir lernen sollen, je nach dem, was wir dort antreffen? Fühlen wir, daß wir hier wirklich leben können und uns bewegen trotz aller Unsicherheit und Gefahr, und zugleich wissen, daß wir von allen Seinen von Gott umgeben sind? Können wir, wenn wir das Chaos und die Wirren dieser Welt in Betracht ziehen, an dem Gedanken festhalten, daß Gott uns nahe ist und mit uns von Tag zu Tag wandert? Ja, haben wir in uns ein so grundlegendes Vertrauen dazu, daß Gott da ist, daß wir nicht als das fürchten müssen, was uns sonst noch zustoßen kann?

Oder haben wir das Gefühl verloren, in einer Heimat zu sein oder jedenfalls auf dem Wege zu einer solchen? Ist eine Heimat nur etwas, an das wir nostalgisch zurückdenken? Die meisten von uns haben vermutlich kleine Welten, in denen wir uns zu Hause fühlen. Menschen, von denen wir wissen, wer sie sind, denen wir vertrauen und auf die wir zählen können. Die meisten von uns haben Stätten der Geborgenheit, an denen wir festhalten, so lange wir können.

Aber im Großen, lebe ich da in der Gewißheit, daß ich letztlich eine Heimat habe? Einen Ort, wo ich gesehen und als der angenommen werde, der ich bin? Die Frage stellt sich wenn nicht sonst, so jedenfalls, wenn ich am Ende des Weges angekommen bin: Halte ich dann krampfhaft an den letzten nahen Dingen fest, die da sind? Klammere ich mich an das Heimatliche, das noch geblieben ist - aus Angst vor dem, was kommt? Oder wage ich es, mich dem Unbekannten zu übergeben, dem Tode, in der Gewißheit, daß ich nun erst recht nach Hause komme. Auf dem Wege in eine Welt, wo ich von Anfang bis zu Ende zu hause bin und die meine eigenen Welten hier nur unvollständig widerspiegeln. Ja, weiß ich mich dann auf dem Wege zu einer Heimat, wo alles neu und selbstverständlich zugleich ist? Wo ich mit Wundern und Wiedererkennen zugleich sehe? Wo die Fremdheit dieser Welt vorbei ist, aber mir alles vertraut, erklärt ist? Wo alles, was ich weiß und gesehen habe, im Lichte der Liebe verklärt ist? Wo ich "mit Freuden rede dort im Licht und singe in frohem Reigen" (Grundtvigs Lied "Den signede dag", dt. "Den seligen Tag mit freue wir ..")

Oder lauern hinter allem das Nichts und die Finsternis? Handelt es sich nur um eine scheinbare, zwischenzeitliche Heimatlichkeit, die wir hier vielleicht spüren? Denn letztlich verschwindet alles und wird zu nichts.

In der Kirche, im Evangelium, im Vertrauen und Glauben Jesu ist eine grundlegende Gewißheit, daß wir in der Welt Gottes sind, und diese Welt uns als eine Heimat gegeben ist. Jesus war drei Tage lang weg von Joseph und Maria. Sie suchten nach ihm, aber er war bei seinem himmlischen Vater. Später hören wir, wie er zu Tode gekreuzigt wurde, drei Tage ist er im dunklen Reich des Todes, aber am dritten Tage sehen sie ihn wieder. Da war er im allerfinstersten Raum der Angst, des Bösen und des Todes gewesen. Das bedeutet, daß wir nicht dahin kommen können, wo die Tür sich für uns für immer schließt und wir der Finsternis dort überlassen bleiben. Sondern Gott ist bei uns in der Finsternis, und im Hause unseres himmlischen Vaters ist immer ein Weg zum Licht. Dort ist eine Liebe, die uns folgt, auf uns wartet und uns annimmt als die, die wir sind. Und wenn wir das wissen, dann ist alles so, wie es sein soll, und nichts kann uns mehr ernsthaft schaden.

"Wie lieb sind deine Wohnungen, Herr! "
"Ein Tag in deinen Vorhöfen
ist besser als sonst tausend."
"Wohl denen, die in deinem hause wohnen;
die loben dich immerdar."

Amen

Erik Høegh-Andersen
Prins Valdemarsvej 40
DK-2820 Gentofte
Tel. ++ 45 - 39 65 43 87
e.mail: erha@km.dk


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