Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

4. Sonntag nach Epiphanias, 2. Februar 2003
Predigt über Markus 4, 35-41, verfaßt von Reinhard Weber
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Der schlafende Gott - Lebensnot und Erwachensglück

Wir glauben Gott als Schöpfer, Erlöser und Vollender der Welt. Das ist der Dreischritt des Glaubensbekenntnisses, welches Gott in dreifacher Bezüglichkeit, also in trinitarischer Weise auf Welt hin auslegt, Gott als den dreieinigen, als den drei in einen. Diese theologische Weltauslegung ist in der Gegenwart für die Mehrheit der Zeitgenossen obsolet, unnachvollziehbar, fremd und unverständlich geworden.

Wir erleben nämlich in der modernen Kultur primär nicht die dreifache Anwesenheit, sondern die einfache Abwesenheit Gottes, die Gottesverfinsterung, wie Martin Buber das genannt hat, seine Verborgenheit also, oder besser gesagt: seine scheinbare Unwirksamkeit, seine Anwesenheit in der Form der Abwesenheit, daß er sich aus der Welt zurückgezogen zu haben scheint, oder vielleicht auch: daß er aus ihr hinausgedrängt wurde, jedenfalls, daß er die Welt sich und ihren eigenen Gesetzlichkeiten überlassen und überantwortet hat, in ihr weder eine erklärende noch eine stabilisierende noch eine überschreitende Funktion einnimmt, ja nicht einmal als hilfreich-erfindungsreiche Kategorie taugt und allenfalls noch –wie Hegel das schon vor annähernd 200 Jahren gesagt hat- im Herzen einiger Individuen seine Altäre baut, aber sonst funktions- und wirkungslos geworden ist.

Das aber ist nicht lediglich eine moderne Erfahrung. Vielmehr zeigt uns die Geschichte von Mk 4 ihre auch antike, ja urchristliche Präsenz, jedoch in einer bestimmten Zuspitzung und Perspektive. Und auf die kommt es an!

Das ist ja überhaupt eine sehr merkwürdige, seltsame Geschichte, die wir da aufgezeichnet finden. Sie steht in den synoptischen Evangelien an dem Ort, wo Jesus aus der Gegend von Kapernaum kommt und hinüberfährt nach Tiberias in die Gegend von Gadara jenseits des Sees. Und auf dieser Fahrt da geschieht etwas, was bis heute an dieser geographischen Stelle gar nicht so selten vorkommt, nämlich daß einer dieser gefürchteten Fallwinde vom schneebedeckten Hermon im Norden herunterkommt und durch das enge Jordantal peitscht, ganz plötzlich und unvorhergesehen, und diesen sonst so angenehmen und eher stillen See aufmischt mit einer Gewalt, die man sich nur schwer vorstellen kann, nämlich so, daß es nur so kracht und donnert, wie bei einem Erdbeben (Seismos bei Mt), als ob sich der Schlund der Tiefe auftut und einen verschlingen will. Und die hochgehenden Wellen schlagen ins Boot und bedecken das Schifflein fast ganz. Wie eine Entfesselung der Urgewalten, der Urnot ist das, wo die Erde in ihren Festen ins Wanken gerät und der Himmel auf einen herabzustürzen und die zagenden Menschen unter sich zu begraben droht. Wer es einmal auf See hautnah erlebt hat, der weiß, wie sich das anfühlt, dieses Ausgeliefertsein an diese chaotischen Gewalten.

Und da passiert nun etwas ganz Eigenartiges und Seltsames: diese alterfahrenen Seeleute, wie sie zum Jüngerkreis Jesu gehören, dieser Petrus und sein Bruder Andreas, dann die Zwillinge Jakobus und Johannes, die Boanergessöhne, die machen Mäuschen, die machen gar nichts, die zittern bloß, die sind wie gelähmt, wie das Kaninchen vor der Schlange. Und der Jesus da mit im Boot, der macht auch nichts, der schläft bloß und vielleicht hat er sogar geschnarcht. Eine komische Situation. Ja, und dann werden die Jünger ein bißchen frech, wie das oft so ist, wenn die Leute sich hilflos fühlen: „He Meister, was machst du denn, merkst du denn gar nicht, was hier abgeht. Dir ist es wohl piepegal, wenn wir hier absaufen wie die Ratten; Mensch, nun tu mal was und hilf uns, bevor es zu spät ist!“ Und daraufhin wird dieser Jesus wach, steht auf und macht was, und dann ist Ruhe.

Eigenartig wie hart und schnörkellos Markus das noch erzählt hat.

Und eins ist ja klar, so um 70/75 n.Chr., als Mk diese Geschichte erzählt, da ist dieses Schifflein ja schon selbstverständlich die Gemeinde, die Gemeinde Gottes, die frühe Christenheit. Das war ja als feste Metapher, als bekanntes Bild aus dem Judentum schon vorgegeben. Und diese Gemeinde Gottes, die ist eigentlich schon ganz vom Wasser bedeckt, von der sieht man schon nicht mehr viel. Die hat kaum noch eine erkennbare Gestalt, da ist keine wirkliche Form mehr, keine festgefügte Institution, da ist weithin nur noch innere und auch äußere Auflösung. Da geht es um das Überwältigtwerden durch die Chaosmächte. Um dieses Aufschäumen des Urchaos, welches die Welt von ihrem Grund her bedroht und stets um sie herumsteht, seit der Schöpfung her. Die Evangelien wollen also wohl sagen, daß wie die Welt als ganze so auch die christliche Gemeinde sich in dieser letzten Bedrohtheit vorfindet, in der es um Sein oder Nichtsein, um ihre Existenz oder ihren Untergang geht, und d.h. genauer: in der es um den schlafenden Gott geht, ob Gott oder das Chaos die Oberhand gewinnen und behalten, Gestaltlosigkeit oder Gestalthaftigkeit, ob in unserem Leben, in unserem Bemühen um den Staat, um die Ökonomie, um Krieg oder Frieden, um Bildung und Erziehung, um die Kirche und die Universität, um die Stadt und das Land, auch um uns selbst und unser unmittelbares soziales Umfeld und um die Wissenschaft, ob da gestaltende Exousia, Vollmacht oder gestaltzersetzendes Urmeer herrscht.

Phimotheti, „schweig stille“, der Terminus, der hier im Mund Jesu für sein herrschaftliches Wort gegenüber den aufgepeitschten Wassern gebraucht ist, das ist Exorzismusterminologie, Sprachform von Dämonenaustreibungsgeschichten! Es ist präzise das Wort für den Schweigebefehl an den auszutreibenden Dämon, welches Markus auch in 1,24 verwendet. Das gehört zur Topik, zum Inventar, also zu den üblichen Stilmitteln der Exorzismusgeschichten. Wenn Jesus hier das Meer bedroht und ihm Schweigen gebietet, dann ist das ein Exorzismus, den er durchführt, eine Dämonenaustreibung. Und in der Tiefe des ungründigen Abgrundes, da herrschen die Dämonen, da treiben sie ihr Unwesen. In der Unterwelt ist ihr Zuhause. Da sitzen Leviathan und Behemoth, die Widersacher Gottes schon bei der Schöpfung, denen er sie abringen und entwinden, die er binden und für eine Weile stillstellen muß, damit so etwas wie eine Welt, eine Weltordnung, eine geordnete Welt, die Lebensmöglichkeit bietet, überhaupt zustande kommen kann; in der babylonischen Schöpfungsmythologie, in der ja alles noch viel archaischer ist als im AT, was aber davon durchaus abhängig ist und überall noch die alten Vorstellungen durchschimmern läßt, ist da ja ganz deutlich, welchen furchtbaren Kampf der Stadtgott Marduk gegen das Urweltsungeheuer Tiamat und seine Gefolgsleute durchzufechten hat, um schließlich aus deren aufgeschlitztem Leib die Welt und aus ihrem Blut den Menschen zu schaffen.

Und das endzeitlich-apokalyptische Denken weiß, daß die in der Endzeit wieder loskommen und dann alles in die Anarchie stürzen, daß sie da ihre ganze Macht und ihren ganzen Schrecken entfalten und sogar die Gläubigen zum Abfall bringen, daß sie sich gegen Gott auflehnen werden. Darum geht es hier. Der See Genezareth, das ist so ein kleines Ausfalltor, wo die Tiefe an die Oberfläche stößt. Und wenn dann eines dieser dämonischen Urwelts- und Unterweltsungeheuer einmal einen kleinen Schnupfen hat und anfängt zu husten, dann rast der See und will sein Opfer haben, mit Wilhelm Tell gesprochen, dann merkt man es bei diesen urgewaltigen, riesigen Wesen eben bis an die Erdoberfläche, die gerät dann in Wallung, und die Wasser schlagen übereinander und sprengen die kleine menschliche Ordnung, fegen sie einfach hinweg; wir kennen das ja jetzt auch in Deutschland besser mit den Fluten.

Und die Meinung des Textes ist nun, daß die Kirche Jesu Christi genau derjenige Teil in der Welt ist, der immer wieder neu und jeden Tag in dieser letzten Bedrohtheit da ist, und zwar in der Bedrohtheit durch diese Welt und ihre chaotischen Tendenzen ebensosehr wie in der Bedrohtheit für diese Welt. In diesen zwei sich ergänzenden und miteinander korrespondierenden Bedrohtheiten steht sie, die sind ihr aufgegeben. Dazwischen droht sie zerrieben zu werden und unterzugehen.

Denn, sie ist nicht für sich selbst da, sie ist für die Welt da, auf die hin hat sie sich als Kirche Jesu Christi auszulegen, die ist ihr anheimgegeben. Denn diese Welt, so wie sie ist, die ist nicht in der Lage und fähig, sich diesen gestaltenden, lebensermöglichenden, zur Schönheit und zum Glück, zur Ordnung und zur Gestalt führenden Impuls selber zu geben. Im Gegenteil, die Welt gibt sich immer wieder den chaotischen, zersetzenden, auflösenden Kräften preis, mit ihrer latenten Tendenz zum Abgrund, zum Unterweltlichen. Die Welt und der Mensch sind von sich selber so bedrohlich wie bedroht. Die können sich nicht von sich selbst her und durch sich selbst bannen und aus dem Sumpf ziehen. Diese Kraft kann ihnen nur gleichsam wie von außen zukommen.

Warum ist das so? Weil dieser letzte Impuls Gott heißt, und Gott ist nicht Welt. Der ist ihr Zuvor und ihr Danach, ihr Grund und ihr Horizont, der ist ihre Vollendlichkeit, und als solcher ist er ihre Inständigkeit, ihr innerster Kern, ihr bewegendes Prinzip! Darum kann die Welt nicht aus sich da sein, sie zehrt in ihrem Sein immer von dem, was sie selber nicht ist. In ihr, wenn sie sich selbst überlassen wird, gewinnen immer wieder die chaotischen Mächte die Oberhand. Das Wesen der Welt nämlich ist, das wissen alle Religionen, sich selber und andere mit sich selbst und durch sich selbst zu bedrohen. Das ist auch das Wesen des Menschen. Wenn er existieren will, dann muß er nicht nur vor sich selber und seinen chaotischen Tendenzen geschützt werden, dann muß ihm auch ein schöpferischer Impuls von außen imputiert, eingeflößt werden.

Dieser Impuls, das ist der Gott, der sein Haus baut über den Fluten, über dem Tosen und Brausen des Meeres, über der Urgewalt der alles überschwemmenden und in ihren Sog hinabreißenden Tiefe. Dieser Gott ist der Grund der Möglichkeit von Leben und Gestalt, und Leben ist Gestalt. Und Gestalt ist Schönheit und ist die Geordnetheit des Lebendigen. Und das ist das Thema dieser Geschichte!

Und damit handelt sie von dem schlafenden Gott!

Denn nun ist eben dieses kleine Kirchenschifflein, dieses Christenboot beinahe ganz von Wasser bedeckt. Und wenn man sich das heute in dieser Gesellschaft mit der Kirche so ansieht, dann muß man ja wohl sagen, na ja, das Evangelium, das hat ja wohl recht. Auch wenn das Kirchenschiff der Großkirchen auf den ersten Blick noch einigermaßen dick und fett aussieht, so treibt es doch sehr steuerlos und desorientiert durch die Wellen des Zeitgeistes hindurch, die überall hineinschwappen, hin- und hergeschaukelt und innerlich schwankend und hohl, stets von geistiger Auszehrung bedroht. Wenn man sich das mal kritisch ansieht, was die Christen heute noch an Fähigkeit und Autorität und Möglichkeit und Vollmacht haben, der Welt in ihrer Not zur Gestaltwerdung zu verhelfen, dann ist das ja gleich Null. Immer rennen sie irgendwelchen aktuellen Tagesparolen hinterher und versuchen, wenigstens in irgendeinem Teilbereich noch ihre Notwendigkeit zu erweisen, natürlich – und doch nimmt kaum einer davon Notiz. Man belächelt eher diese mehr komisch als effektiv wirkenden Bemühungen, die ja vielleicht gut gemeint sein mögen, aber was bringen sie schon anderes als das Übliche? Was wird denn an gestaltetem Leben von der Kirche noch an die Universität, die Wissenschaft, die Politik, die Wirtschaft, das Militär, die Familien, die Kommunen, das Land, das Volk weitergegeben!? Also, das Schiff ist ziemlich weitgehend von Wasser bedeckt. Das ist unübersehbar deutlich, jedenfalls für die, welche nicht die dreifache Affenhaltung einnehmen.

Das ist die Geschichte, Gott schläft - es geht kein Impuls von Gestalthaftigkeit mehr von ihm aus. Er hat sich abgewendet und ruht desinteressiert auf seinem Kissen hinten am Heck, während vorne der Bug schon untertaucht.

Das ist die Situation: die Wellen schlagen ins Schiff und Gott schläft! Alles wird pitschnaß, und das stört ihn gar nicht. Er merkt nichts, und anscheinend will er auch gar nichts merken. So könnte die Geschichte auch weiter- und zuendegehen, wenn sich die Jünger nicht dann doch aufraffen würden und anfangen würden, ihn zu rütteln und zu schütteln: „Mensch, Gott, los, wach auf, siehst du denn nichts, komm hoch und tu endlich was!“

Das ist schon eine erstaunliche Angelegenheit, ein eindrückliches Bild, der schlafende Gott im Chaos von Kirche und Welt! Dieser herrlich und unbekümmert schlafende Gott! Und dann diese Jünger mit ihrem aus der Lebensnot geborenen Geschrei!

Und das ist es eben, das ist der Schlüssel zu dieser Geschichte, das ist der Skopos, der Kern: dieser Gott ist ein Gott, der darauf wartet, daß wir hingehen und rufen: „Mensch, Gott, Gott, Mensch, mach doch endlich was, du siehst doch, wie es mit uns steht!“ Ja, sonst macht er nichts, sonst schläft er weiter. Und dann geschieht nichts, vielleicht allerlei, aber doch nichts. Und das ist das Eigenartige an der Gottheit dieses Gottes, daß er mit seiner Gottheit darauf wartet, daß er gerufen wird, vom Menschen gerufen wird. Das ist ja von uns wohl immer wieder sehr schwer zu begreifen, daß er nun einmal nichts tun will, es sei denn, er sei gerufen. Aber das ist ja wohl doch der Kern nicht nur der vielen Männer und Frauen in der Geschichte der Kirche, sondern auch und gerade des biblischen Zeugnisses selbst, nämlich daß das Gebet der Mittelpunkt des Glaubens an diesen Gott ist, daß dieser Gott sich verändern läßt: deus est mutabilis quam maxime heißt es bei Luther, also daß er sich bewegen läßt, daß er eine Geschichte hat, unendlich wandelbar ist, aber als der Treue, daß heißt in der Ständigkeit seiner Wiederanknüpfung an sich. Daß das Gebet eben auch Gott verändert, das ist das Eigentliche. Ohne das Gebet schläft Gott weiter bis zum St. Nimmerleinstag. Und wir sind dazu da, ihn zu wecken, d.h. ihn zur Gestalt zu erheben. Das ist das Gebet, das ist dasjenige Phänomen, was mit Gebet gemeint ist; nicht einfach nur das Dahersprechen von frommen Formeln, nicht einfach nur die kultische Verrichtung, nicht einfach nur das persönliche Zwiegespräch mit dem Erhabenen, das alles auch, ja, aber entscheidend ist und darauf läuft unsere Geschichte zu: Gott zur Gestalt zu erheben, ihn Gott sein lassen und d.h. Grund und Grenze von Welt und Ich. Dem dient das Geschrei der Jünger: „Hej, du, nun komm und steh auf und mach was. Es ist höchste Eisenbahn!“ Die Lage ist ja auch zum Schreien! Und wenn es die Christen nicht tun, dann werden bald die Steine schreien, und für den, der zu hören versteht, fangen sie ja auch schon an. Also die schreienden Jünger, sie verhelfen ihm, diesem Gott dazu, das zu sein, was er ist, nämlich der auf die Welt hin auszulegende Garant von Sein und Leben und Schönheit und Freude.

Dieses Geschreis bedarf dieser merkwürdige Gott offenbar, um an der Welt zu sich selbst zu kommen, d.h. sich als Gott zu erweisen. Das will er von uns haben, und dann ist er auch da, dann kommt er auch. Unser Zeugnis von Gott ist also dieses Geschrei zu Gott, und das muß kein Krawall sein, das kann ganz still sein und sich unter tausend Formen verstecken. Das muß gar nichts Verbales sein, das kann auch einfach die Form sein, unter der wir unser Leben führen. Aber wir müssen ihn berufen, mitten in der Welt und mitten im Leben, sei es beim Fahrradfahren oder beim Frühstücken oder beim Lesen oder beim Latein-Übersetzen, oder beim Vokabel- und Formeln-Lernen, beim Studieren, beim Denken, oder beim Brot backen und beim Kochen und beim Tennisspielen und beim Wandern und ich weiß nicht wo, da ist es, da kann es sein, daß er um uns herumsteht und wir in ihm. Das ist das Gebet, ihn in der Welt wahrzunehmen, ihn darin groß machen, ihn aus seiner Verborgenheit zu erheben, ihn aufzurütteln, ihm zu helfen, für die Welt da zu sein, sich ihrer anzunehmen und ihrer Not und Hilflosigkeit und Schwäche und Verkehrtheit. Das ist das Geschrei, Gott aufzuwecken von seiner Schläfrigkeit und ihn in der Welt als Gott zu erheben. Das ist die Lebendigkeit des Lebens. Ihn aus unserer Lebensnot heraus zu wecken und zu erheben, und die Lebensnot ist nicht nur die Bedrängnis durch Krankheit und Tod, und Unfall, und Gefahr und Scheitern im Examen oder Angst vor Arbeitslosigkeit usw., nein das ist auch und gerade das Dunkel des gelebten Augenblicks und das „Finstrer ist im alltäglichen Leben als nach des Herbstes hellzuckenden Blitzen“, dieses ganze Versäumen, weil wir ihn, den Grund und die Grenze und den Horizont unseres Lebens in diesem Leben nicht wahr-nehmen. Das ist ja unsere Hauptnot, nicht wahr, diese Not der Notlosigkeit. Und darum schreien wir ja auch nicht mehr. Und darum sieht es ja auch so aus, wie es aussieht. Und darum gehen ja von unseren Kirchen und von der Christenheit hierzulande so wenig Impulse aus, trotz Kirchentag und allen möglichen Events. Weil der Ruf nicht mehr erhoben wird. Ja, da bleibt Gott stumm. Überall wird organisiert und geplant und gemacht, und es wird darüber das Rufen vergessen, weil wir wohl glauben, wir könnten das alles selbst machen. Oder haben wir noch gar nicht wirklich entdeckt, daß das Boot schon voll Wasser ist. Das kann auch sein.

Aber wenn man in dieses Weltgeschehen heute hineinschaut, dann ist es wohl so, daß Gott wieder einmal schläft. Und das bedeutet dann auch, daß wir Christen uns unserer Exousia, unserer vollmächtigen Aufgabe an Gott nicht mehr bewußt sind, daß wir unsere Aufgabe nicht erkennen, daß wir Gott nicht rufen, damit er in unser Leben eintritt und seine Herrlichkeit über dem Chaos der Urflut aufscheint. Um dieses Aufscheinen geht es! Und da sind wir gefragt. Unser Glaube ist da gefragt. Mitten aus unserer Lebensnot heraus den Gott zu erwecken und ihn aus dem Dunkel des gelebten Augenblicks heraus zu verherrlichen, ihn zu erheben und groß zu machen. Darin ereignet sich das Glück unseres eigenen Erwachens, das ist nämlich das Erwachen zum Geheimnis unseres eigenen Lebens. Wenn wir diesen Gott rufen und ihm eine Gestalt geben, wenn wir ihm zur Wahrnehmung seiner Gottheit verhelfen, ihn durch unseren Glauben aus der Tiefe seiner Verborgenheit erlösen und ihm zu weltlicher Gestalt verhelfen, dann werden wir selber zum Leben erweckt, weil dann der Glanz dieses Gottes über unserem Leben aufscheint. Das ist das Eintreten in das Mysterium dieses Gottes in der Welt. Das ist ja das Staunen der Jünger über diesen Jesus, dem die Wellen gehorchen: wer ist denn dieser? Dieses Aufscheinen seines Glanzes im erweckenden Erwachen. Daß wir Gott, dem nackten Gott, ein Gewand geben in dem Geheimnis unseres Lebens, unter welchem er seine Blöße verbergen und seine Gottheit enthüllen kann, in welchem er wird, was er ist – der Künftige, der uns in seine Kunft hineinnimmt als die von ihm Herkünftigen, daß wir sein weltliches Kleid werden als dazu Bestimmte von allem Anfang her, das ist die ungeheure Kraft unseres Christenglaubens, die sich sogar noch in halben Verdunklungen bewährt und -wenn auch undeutlich- beim weltlichen Dichter ausspricht:

Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:

Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gib mir Gewand.

Hinter den Dingen wachse als Brand,
daß ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.

Laß dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muß nur gehen. Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land, das sie das Leben nennen.

Du wirst es erkennen
An seinem Ernste.

Gib mir die Hand.

Amen.

PD Dr. Reinhard Weber
Rudolf-Bultmann-Str. 4
35039 Marburg
Tel. 06421-969111
Fax: 06421-969399
weber@esg-marburg.de



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