Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

4. Sonntag nach Epiphanias, 2. Februar 2003
Predigt über Markus 4, 35-41, verfaßt von Erik Høegh-Andersen (Dänemark)
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In den allerersten Versen der Bibel kann man lesen: "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser".

Man kann es vor sich sehen, das dunkle wogende Wasser, die Urtiefe, die sich so weit erstreckt, wie das Auge reicht. Aber über den Wassern schwebte der Geist Gottes. Ganz gottverlassen ist die Welt also nicht. In der Leere schwebt der Geist Gottes wie ein Vogel über seinem Nest, oder der Geist bläst über die Wasser wie eine milde Frühjahrsluft, die Wachstum und Leben ankündigt.

Das ist ein schönes Bild. Es steht in fast allen Übersetzungen der Bibel, die wir kennen. Aber es ist nicht sicher, ob dies die richtige Wiedergabe des hebräischen Textes ist. Es könnte nämlich genauso gut heißen: "Da war Finsternis über der Urtiefe, und der Sturm Gottes fegte über den Wassern". Dann handelt es sich nicht um eine milde Frühjahrsbrise, sondern um mächtige Kräfte, die losgelassen sind und die die Wasser zu einem vernichtenden und schäumenden Meer aufpeitschen.

Wir sind daran gewöhnt, daß der Geist über den Wassern schwebt, es könnte sich aber auch um ein fürchterliches Unwetter handeln. Und der Grund, daß beide Übersetzungen möglich sind, ist der, daß das hebräische Wort ruach einen sehr breiten Bedeutungsspielraum hat, es kann ein Lüftchen bedeuten, aber auch einen starken Sturm. Der Geist weht, wo er will, heißt es auch. Aber es macht also einen Unterschied, ob es sich um ein mildes Lüftchen handelt oder um einen gewaltigen Sturm, der das Land zerstört und das Meer aufpeitscht.

Als man 1980 in Dänemark begann, die Bibel neu zu übersetzen, war einer der großen Streitpunkte eben die Frage, ob der Geist Gottes über den Wassern schweben oder über sie wie ein Sturm hinwegfegen sollte. In der ersten Probeübersetzung, die 1985 erschien, ließen die alttestamentlichen Übersetzer einen Sturm Gottes über die Urtiefe fahren, und das führte wiederum zu einem Sturm von Reaktionen - von Leuten, die meinten, nun habe der Geist so lange, wie sie sich erinnern konnten, und noch länger, ruhig über den Wassern geschwebt, warum in aller Welt soll das nun in einen gewaltigen Sturm verwandelt werden? In der neuen Übersetzung, die 1992 autorisiert wurde, ließ man dann wieder den Geist lieblich über den Wassern schweben, wobei man jedoch unten auf der ersten Seite eine Anmerkung hinzufügte, die mitteilte, daß man den Vers auch so lesen kann, daß es sich um einen Sturm Gottes handelte.

Beide Lesarten sind also möglich, und ich möchte mich nicht für eine der beiden entscheiden. Aber ich finde, daß es faszinierend ist, daß derselbe Vers so unterschiedlich ausgelegt werden kann. Und ich meine, daß es nachdenklich macht, daß der Geist Gottes sowohl über uns als ein himmlisches Lüftchen schweben kann als auch uns wie ein fürchterlicher Sturm umwerfen kann.

Das gibt zu denken, weil es in der Tat den Erfahrungen entspricht, die wir in unserem Leben machen. Nicht nur unsre Erfahrungen mit dem dänischen Wetter. Das ist ja auch denkbar veränderlich und wechselhaft. Aber auch in bezug auf unsere Geisterfahrungen, die ja gerade von der ruhigen unmerklichen Bewegung im Gemüt bis zur Erfahrung mächtiger Kräfte reichen, die uns erfassen und mit denen wir nichts anfangen können.

Eines ist sicher: Ohne Geist geht es nicht. Ohne Geist kein Leben. Wir können zusammen reden, wir können zusammen zu Tische sitzen zu einem Fest - wenn kein Geist in dem ist, was wir sagen und worum wir zusammen sind, dann gehen wir unverändert wieder weg. Nichts hat sich dann in uns und zwischen uns bewegt. Das ist absehbar, das ist ohne Leben. Aber umgekehrt: Wo der Geist über uns schwebt, da geschieht es fast unmerkbar, aber befreiend, daß wir durch das Zusammensein emprogehoben werden. In dem grauen Dunst, in dem wir vielleicht ankommen, sehen wir kleine Lichtungen. Sorgen verziehen sich. Spekulationen verschwinden. Vergessene Gefühle werden geweckt. Und wir gehen auseinander, wenn nicht mit verklärtem Sinn, so doch mit einer gewissen Klarheit des Sinnes, einer Offenheit, einer Zuversicht, die wir vorher nicht hatten.

Manchmal schwebt der Geist über uns, und das gute Leben wächst in uns, aber so verborgen und so tief in uns, daß wir es gar nicht merken. Manchmal dringt der Geist Gottes in die letzten Ritzenen, und wir spüren eine Klarheit, eine Frische, die wir nicht gespürt haben. Und manchmal ist der Geist Gottes wie ein Sturm, der an uns rüttelt. Und dennoch - wenn wir uns hingeben und in den Wind stellen, dann gibt es nichts, das so viel Kraft gibt, wie sich durch den Wind zu kämpfen und sich von Kräften durchpusten zu lassen, die größer sind als wir selbst. Das ist es, was Grundtvig in einem Lied einmal sagen läßt, daß er die Stürme des Lebens der stillen Ruhe des Grabes vorzieht.

Und dann kann der Geist Gottes wie ein Sturm sein, bei dem wir das gefühl haben, gleichsam entwurzelt zu werden. Wir geraten außer Fassung. Wir irren umher. Wir wissen nicht mehr, wer wir sind. Wir sind auf schwankenden Boden. Wir können das Dasein nicht mehr überschauen. Es geschieht selten, daß es so in unserem Leben stürmt, aber es geschieht. Für einige geschieht es. Das kann seinen Grund haben in der Liebe, in der Trauer, im Glauben oder im Mangel an Glauben. Und die Stürme können prachtvoll sein und großartig, aber auch gewaltig und zerstörerisch und uns mit unbezähmbarer Angst erfüllen.

Es gibt Stürme, die wir vielleicht am liebsten vermeiden möchten, aber sie gehören dennoch mit dazu. Das Leben wäre ohne sie nicht das, was es ist. Es könnte sich nicht grundlegend verändern. Es wäre ärmer, banaler, wenn es nicht hin und wieder Stürme gäbe, die an uns rüttelten. Obwohl es auch furchtbare Stürme gibt, die unser Leben zerstören. Ich erinnere mich daran, daß ich bei einem Essen mit Leuten, die ich nicht kannte, meine Faszination über den Orkan zum Ausdruck brachte, der am 3. Dezember vor einigen Jahren wütete. Daß es in unserer wohlgeordneten und wohlorganiserten Gesellschaft dennoch möglich war, daß ein kleiner Orkan Chaos und Verwirrung stiften konnte. Abgesehen davon, daß ich etwas Angst hatte, daß die kleine Birke in meinem Garten auf uns fallen würde, war es imponierend, die enorme Kraft des Windes zu spüren und zu sehen. Mir gegenüber aber saß eine Frau, die meine Faszination nur schwer teilen konnte. Ihr Mann war Besitzer mehrerer recht großer Wälder, die meisten mit Fichten bepflanzt. Aber durch den Sturm knickten die Fichten um wie Streichhölzer. Ganze Waldareale waren einfach zerstört. Nach fast einem Jahr war noch immer nicht aufgeräumt, und das Holz ließ sich höchstens noch als Brennholz verwenden.

So können Stürme auch sein, auch die Stürme des Lebens. Es gibt Menschen, die durch Scheidungen, Trauer, Krankheit so viel Furchtbares durchmachen, das etwas in ihnen zerbricht. Es kracht. Sie kommen da nicht so heil durch, wie sie vorher waren. Es gibt Stürme, die so furchtbar sind, daß wir nur hoffen können, ihnen niemals ausgesetzt zu werden. Und dennoch - auch noch solchen Stürmen gibt es Möglichkeiten zu leben. Nicht dasselbe Leben. Aber es gibt vielleicht andere Dinge, die wir nun bemerken. Es gibt neue Wege, die sich zeigen. Es gibt Seiten des Lebens, auf die wir nun Wert legen und die wir vorher nicht gesehen haben. Um nun im Bild zu bleiben: In den zerstörten Fichtenplantagen geschieht nun dies, daß Himbeeren, Brombeeren und viele andere Büsche und Pflanzen aufwachsen, und die wild wachsenden Büsche er möglichen ein Vogel- und Tierleben, für das in dem wohlgeordneten Wald kein Platz war. Der Sturm ist zwar zerstörerisch, aber er schaft auch den Boden für neues und anderes Leben.

Aber wir wissen nie, was geschieht, wenn es stürmt. Wir wissen nicht, in welcher Verfassung wir auf der anderen Seite wieder herauskommen. Und wenn wir draußen auf dem Meer sind, wissen wir nicht, ob wir untergehen oder uns hindurchretten, so daß wir eines Tages wieder festen Boden unter den Füßen haben. Deshalb läßt es sich nicht vermeiden, daß wir bei gewissen Stürmen Angst bekommen, so wie die Jünger.

Sie befanden sich, wie wir gehört haben, draußen auf dem See Genezareth. Angeblich einer der ruhigsten und harmlosesten Gewässer. Das Wasser liegt mit einer hellen, blanken Oberfläche, und am Ufer ist es sehr flach. Aber wenn man weit hinauskommt, dann gibt es unermeßliche Tiefen, und manchmal kommt es draußen auf dem stillen See zu gewaltigen Stoßwinden, die von den Bergen kommen. Und dann ist der See mit einem Mal mächtig in Aufruhr. Der Sturm peitscht die Wellen auf, und es ist bestimmt nicht ungefährlich, wenn man mit einem Boot da draußen ist.

So gewaltig können die Stürme über uns hereinbrechen. So plötzlich könne sie sich in unserem Leben einfinden. Und wir wissen nicht, was wir tun sollen. Wir können nicht anderes als in unserer Angst Gott anrufen, daß er bei uns ist und uns da hindurch hilft. Aber wie wir da durch kommen, das wissen wir nicht. Wir wissen nicht, ob sich der Glaube als eine Planke zeigt, die wir ergreifen können, oder ob wir in Angst und Untergang versinken.

Wir wissen nur, daß das mitten im Sturm geschieht, dort, wo uns schwindlig wird und der Untergang droht, dort geschieht es, daß wir hindurchgetragen werden. Dort zeigt Gott sich als die tragende Macht, die uns, ohne daß wir es richtig erklären können, wieder an Land bringt. So wie dies den Jüngern widerfuhr. Sie hatten draußen auf dem tiefen See erfahren, daß letztlich Gott die Macht hatte, den Sturm zu zähmen und sie aus dem Unwetter zu erretten, in das sie geraten waren.

Das ist das schöne an dieser kleinen Erzählung. Sie erkennt unsere Angst an und zeigt uns zugleich Gott als den, der in der Angst bei uns ist und uns aufrecht erhält. Ja gerade im Sturm können wir Gott als die unabweisbare und tragende Macht aller Dinge erfahren.

Deshalb sollen wir nicht bloß an Land bleiben, um dem Wellengang des Daseins und das Brausen des Windes zu entgehen. Auch die Stürme sollen wir nicht vermeiden. Ohne die Stürme des Lebens und das windige Wetter des Geistes würde unser Leben zu einem stillstehenden und toten Leben. Wir sollen vielmehr mutig und zuversichtlich in See stechen über das unendliche Meer des Daseins. Wir sollen hin und wieder merken, wie uns schwindlig wird. Wir sollen die Stürme brausen hören - und dennoch wissen, daß Gott da ist als der, der uns hält, wenn wir es selbst nicht mehr schaffen.

Das ist natürlich nicht etwas, was wir so ohne weiteres lernen können. Das ist etwas, was wir stets erfahren müssen, mit dem wir unser ganzes Leben lang kämpfen müssen. Der große Glaubensheld Grundtvig, der wie gesagt die Stürme des Lebens der Ruhe des Grabes vorzog, erschauerte dennoch stets vor den Stürmen, die ihm bevorstanden. Selbst als alter Mann, zuversichtlich und abgeklärt, graute ihm vor der Reise in die bodenlose Tiefe des Todes. In seinem allerletzten Gedicht, als er fast 90 Jahre alt war, schreibt er von der furchtbaren Stürmen und dem bodenlosen Untergang.

Aber in der Angst vor den Stürmen, wo alles Leben zugrunde geht, hat Grundtvig dennoch in sich eine grundlegende Zuversicht, daß Gott am Ruder steht, und daß er uns auf der letzten Fahrt in den himmlischen Hafen der Ewigkeit geleiten wird.

Der Geist kann friedvoll über den Wassern schweben, und der Sturm Gottes kann über die Wasser fegen. Aber es gehört zum Menschsein, daß man es wagt, in See zu stechen und sich auf das tiefe Meer treiben zu lassen von den brausenden Winden und den Stürmen engegenzufahren, wenn sie kommen. Das können wir tun, weil Gott bei uns ist und uns hält draußen in den Tiefen des Daseins.

Erik Høegh-Andersen
Prins Valdemarsvej 40
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Tel. ++ 45 - 39 65 43 87
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