Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Reminiscere, 16. März 2003
Predigt über Markus 12, 1-12, verfaßt von Christoph Dinkel
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Liebe Gemeinde,

der heutige Predigttext steht in Markus 12 die Verse 1-12. Es ist das Gleichnis von den bösen Weinbauern, ein ziemlich finsteres Gleichnis, wie Sie leicht merken werden.

"Wenn Jesus zu den Menschen redete, gebrauchte er oft Gleichnisse. So erzählte er: „Ein Mann legte einen Weinberg an, zäunte ihn ein, stellte eine Weinpresse auf und baute einen Wachtturm. Dann verpachtete er den Weinberg an einige Weinbauern und reiste ins Ausland.

Zur Zeit der Weinlese beauftragte er einen Knecht, den vereinbarten Anteil an der Ernte abzuholen. Aber die Weinbauern schlugen den Knecht nieder und jagten ihn mit leeren Händen davon. Da schickte der Besitzer einen zweiten Boten. Auch den beschimpften sie und schlugen ihm den Kopf blutig. Den dritten Boten des Weinbergbesitzers brachten sie um. Immer wieder versuchte der Besitzer, zu seinem Ernteanteil zu kommen. Doch alle, die in seinem Auftrag kamen, wurden verprügelt oder sogar getötet.

Nun blieb nur noch einer übrig: sein einziger Sohn, den er sehr liebte. Ihn schickte er zuletzt. 'Vor meinem Sohn werden sie Achtung haben’, sagte er sich. Aber die Weinbauern waren sich einig: 'Jetzt kommt der Erbe! Den bringen wir um, und dann gehört der Weinberg endgültig uns.’ Sie ergriffen sie ihn, schlugen ihn tot und warfen ihn vor den Weinberg.

Was - meint ihr - wird der Besitzer des Weinbergs jetzt wohl tun? Er wird selbst kommen, die Weinbauern töten und seinen Weinberg an andere verpachten.

Habt ihr nicht in der Heiligen Schrift gelesen: "Der Stein, den die Bauarbeiter weggeworfen haben, weil sie ihn für unbrauchbar hielten, ist nun zum Grundstein des ganzen Hauses geworden. Was keiner für möglich gehalten hat, das tut der Herr vor unseren Augen.?"

Am liebsten hätten die Hohenpriester, Schriftgelehrten und führenden Männer des Volkes Jesus gleich festgenommen. Sie hatten verstanden, dass er in diesem Gleichnis von ihnen gesprochen hatte. Aber sie wagten sich nicht an ihn heran, weil sie vor dem Volk Angst hatten. So ließen sie ihn in Ruhe und gingen weg."
(Übersetzung: Hoffnung für alle - die Bibel, 2002)

(1.) Ein finsteres und gefährliches Gleichnis ist uns heute als Predigttext aufgegeben. Finster ist dieses Gleichnis ganz offensichtlich: Die Knechte des Weinbergbesitzers, die die Pacht eintreiben wollen, werden von den Weinbauern nacheinander gequält und ermordet. Dann wird der Sohn des Weinbergbesitzers um die Ecke gebracht. Schließlich greift der Besitzer selbst ein und lässt die bösen Weingärtner umbringen, um den Weinberg dann an andere weiterzuverpachten. Eine rundum unerfreuliche Geschichte ist das. Sie hat so gar nichts Tröstliches und Aufbauendes an sich.

Aber unser Gleichnis ist nicht nur finster. In der Geschichte des Christentums hat es sich auch als überaus gefährlich erwiesen. Schon in der Erzählung selbst werden die bösen Weingärtner mit den Hohenpriestern, den Schriftgelehrten und führenden Männern des jüdischen Volkes identifiziert. Denkt man diese Identifikation zu Ende, dann haben sie wie die bösen Weingärtner den Tod verdient, weil sie Jesus ablehnen, verfolgen und schließlich zur Hinrichtung an die Römer ausliefern. Immerhin wird in der Erzählung zwischen dem jüdischen Volk und seinen führenden Vertretern unterschieden. Das Volk steht auf Jesu Seite und aus Angst vor dem Volk lassen die führenden Vertreter Jesus vorläufig gewähren.

Später in der Geschichte der Kirche war man nicht mehr so genau im Unterscheiden. Man hat das ganze jüdische Volk mit den bösen Weingärtnern identifiziert und daraus geschlossen, dass es den Tod verdient hat. Unser Gleichnis von den bösen Weingärtnern diente in der Geschichte der Kirche immer wieder zur Rechtfertigung von Judenhass und Judenverfolgung. Deshalb ist es ein gefährliches Gleichnis. Es lässt sich missbrauchen und es wurde missbraucht. Eine verhängnisvolle Spur führt von unserem Gleichnis zu den Judenpogromen des Mittelalters und zu den Gaskammern der Nationalsozialisten. Wenn wir über das Gleichnis von den bösen Weingärtnern nachdenken, dann müssen wir uns dieser fatalen Wirkungsgeschichte bewusst sein. Ganz gewiss wollte der Erzähler des Gleichnisses nicht die Verfolgung und Ermordung des jüdischen Volkes erreichen. An solche Folgen konnte zur Zeit Jesu niemand denken. Aber wir Heutigen dürfen die Wirkungen des Gleichnisses und seine Opfer nicht vergessen. Und wir müssen uns selbst hüten vor falschen Identifikationen und leichtfertigen Schuldzuweisungen.

(2.) Das Gleichnis von den bösen Weinbauern ist finster und gefährlich. Aber stammt es überhaupt von Jesus? Diese Frage stellt sich einem, weil vieles in diesem Gleichnis merkwürdig konstruiert wirkt. Bei genauem Hinsehen drängt sich die Idee auf, dass hier wohl ein später Anhänger Jesu versucht hat, Jahre nach Jesu Tod das Geschick Jesu und der biblischen Propheten in ein Gleichnis zu pressen. Dabei hat er vielleicht auf ein Gleichnis Jesu zurückgreifen können. Vielleicht hat ihm als Vorlage aber auch das Weinberglied aus dem Buch des Propheten Jesaja genügt, das wir vorhin als Schriftlesung gehört haben.

Die meisten Forscher gehen jedenfalls davon aus, dass das Gleichnis so, wie wir es in der Bibel haben, nicht von Jesus stammt. Für diese Meinung spricht auch das erzählerisch mäßige Niveau des Gleichnisses. Die Gleichnisse Jesu sind sonst sehr raffiniert gebaut, sie enthalten überraschende Wendungen und originelle Konstellationen. Nirgends sonst versucht Jesus einen schon bekannten Sachverhalt wie das Schicksal des Sohnes Gottes und der biblischen Propheten in eine Allegorie zu verwandeln wie es im Gleichnis von den bösen Weingärtnern geschieht. Und zuletzt: Was ist das für ein Weinbergbesitzer, der geistig so beschränkt ist, einen Knecht nach dem anderen von den Weinbauern misshandeln und abschlachten zu lassen, und der dann seinen Sohn in den Tod schickt, obwohl er jederzeit selbst machtvoll nach dem Rechten hätte sehen und seine Pacht eintreiben können. Figuren von solch unwahrscheinlichem Unverstand hat Jesus sonst jedenfalls nicht erfunden.

(3.) Was sollen wir nun mit diesem Gleichnis von den bösen Weingärtnern anfangen? Es hat auf den ersten Blick nichts Erfreuliches und Aufbauendes an sich. Wir haben gesehen, dass es, gewiss ungewollt, der Judenverfolgung den Weg bereitet hat. Und schließlich müssen wir annehmen, dass es wohl gar nicht von Jesus sondern von einem Späteren stammt, noch dazu von einem mit begrenztem erzählerischen Talent. Insgesamt also keine guten Voraussetzungen für eine positive Aneignung dieses Gleichnisses. Nun steht das Gleichnis aber in der Bibel und ist uns als Predigttext aufgetragen. Irgendetwas an diesem Gleichnis hat es vergangenen Generationen also so wertvoll gemacht, dass sie es an uns weitergegeben und uns als Predigttext anempfohlen haben. Diesen von uns noch unentdeckten Seiten des Gleichnisses möchte ich nun nachgehen.

(4.) Lassen wir uns auf die im Gleichnis angelegte Allegorisierung ein und identifizieren den Besitzer des Weinbergs mit Gott, dann kann man dessen Verhalten auch als Ausdruck großer Gutmütigkeit betrachten. Dem Weinbergbesitzer liegt viel daran, die Pächter auf friedlichem Weg für sich zu gewinnen. Immer wieder schickt er seine Boten. Immer wieder erhalten die Weinbauern eine neue Chance. So betrachtet erzählt das Gleichnis von der Geduld Gottes. Das Ziel des Gleichnisses ist es dann, die Zuhörer zu warnen, dass die Geduld Gottes auch einmal ein Ende, ein schreckliches Ende haben kann. So verstanden ruft uns unser Gleichnis also zur Umkehr und zur Buße auf. Und damit knüpft es an das Weinberglied des Propheten Jesaja an, der mit seiner Erzählung sein Volk im 8. Jahrhundert vor Christus ebenfalls zu Umkehr aufrief.

Unser Gleichnis mahnt uns, die Geduld Gottes nicht überzustrapazieren, sondern die zahlreichen von Gott gewährten Chancen endlich zu ergreifen und zu nutzen. Langmut und Geduld Gottes sind keine unbegrenzten Ressourcen, auf die man jederzeit zurückgreifen kann. Es gibt ein zu spät und mit den Folgen des zu spät muss man dann leben.

Umkehr und Buße und die Chancen, die Gott gewährt, ergreifen – was dies für Ihr oder für Euer Leben bedeutet, weiß ich im Einzelnen nicht. Jede und jeder von Ihnen und Euch muss sich das selbst überlegen. Es kann um Beziehungen gehen, die gefährdet sind, und wo die letzte Chance zur Rettung besteht. Es kann um ein wichtiges Gespräch, um eine versöhnende Geste gehen. Es kann erforderlich sein, Verantwortung wahrzunehmen, wo man bislang nachlässig war. Es kann nötig sein zu verzeihen oder im Gegenteil auch nötig sein, endlich mutig zu widersprechen, wenn Menschen Freunde, Mitschüler oder Fremde klein gemacht und erniedrigt werden.

Es gibt ein zu spät und die Folgen von verpassten Chancen können katastrophal sein. Immer wieder, so stand es in diesen Tagen in der Zeitung zu lesen, wurde das Jugendamt in Saarbrücken darauf hingewiesen, dass eine Frau das ihr anvertraute Pflegekind quält und misshandelt. (Quellen: Stuttgarter Zeitung, Spiegel Online, Saarbrücker Zeitung Online) Schließlich konnte erreicht werden, dass das Pflegekind, ein Junge, in eine andere Pflegefamilie kam. Dort fasste er nach einem Jahr allmählich Vertrauen und erzählte, was ihm wiederfahren ist. Er selbst wurde von einer Bande von Kinderschändern vielfach sexuell missbraucht und von seiner Pflegemutter zur Prostitution gezwungen. Aber noch schlimmer: Der Junge berichtete von seinem Freund Pascal, der seit eineinhalb Jahren als vermisst gilt. Er wurde, wie man inzwischen weiß, von der Kinderschänderbande bei ihrem Treiben ermordet. Trotz mancher einschlägiger Hinweise und Warnungen war das Jugendamt nicht eingeschritten. Die Pflegemutter, die den Kindsmissbrauch organisierte, war über drei Jahre sogar als Jugendschöffin tätig, auch in mehreren Sexualstraffällen.

Es gibt ein zu spät und das zu späte Handeln des Jugendamts in Saarbrücken hat Pascal das Leben gekostet, so ist jedenfalls der derzeitige Informationsstand. Wenn die bekannt gewordenen Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft und die Recherchen der Journalisten tatsächlich zutreffen, dann haben hier Menschen in ihrem Amt katastrophal versagt. Es gibt ein zu spät und das kann tödlich sein.

Unser Gleichnis von den bösen Weingärtnern will uns auf unsere Verantwortung hinweisen und uns mahnen, dort, wo wir stehen, unsere Pflicht als Christenmensch zu tun. Zum Glück haben unsere Versäumnisse und unser Versagen in den meisten Fällen keine so tragischen Konsequenzen wie in dem geschilderten Fall. Aber in dem Bereich, in dem wir verantwortlich sind, ist uns unser Nächster anvertraut und wir haben darauf zu schauen, dass er nicht missachtet wird, sondern dass es ihm, so weit es in unserer Macht steht, gut geht.

Du sollst nicht töten – so lautet das fünfte Gebot, das die Konfirmandinnen und Konfirmanden bei der Vorbereitung auf die Konfirmation auswendig lernen. Martin Luther hat das Gebot in zweifacher Weise erklärt: Zum einen will uns das Gebot daran hindern, „dass wir unserem Nächsten an Leib und Leben keinen Schaden noch Leid tun.“ – Das ist die negative Seite des Gebots. Für Luther hat das Gebot aber auch eine positive Seite. Mit dieser fordert es uns auf, unserem Nächsten „zu helfen und ihm beizustehen in allen Nöten und Gefahren“, wie Luther erklärt. Es ist nicht damit getan, dass wir selbst unserem Nächsten nichts Böses tun. Es kommt auch darauf an, dass wir das Wohlergehen unseres Nächsten, so weit wir das können, fördern.

(5.) Noch ein anderer Aspekt unserer Erzählung von den bösen Weingärtnern verdient es, positiv hervorgehoben zu werden. Zur Erklärung des Gleichnisses verweist der Jesus der Erzählung auf ein Wort aus Psalm 118 (Verse 22f): „Der Stein, den die Bauarbeiter weggeworfen haben, weil sie ihn für unbrauchbar hielten, ist nun zum Grundstein des ganzen Hauses geworden. Was keiner für möglich gehalten hat, das tut der Herr vor unseren Augen.“

Auch dieser Hinweis auf den Psalm passt am ehesten in die Zeit nach Jesu Tod. Denn mit diesem Psalm versuchen die frühen Christen zu begreifen und zu erklären, was ihnen an Ostern Wunderbares widerfahren ist. Der ermordete Jesu, oder auf der Ebene der Allegorie des Gleichnisses, der ermordete Sohn des Weinbergbesitzers bleibt nicht im Tod. Der Plan der bösen Weingärtner, sich das Erbe unter den Nagel zu reißen, scheitert. Gott lässt seinen Sohn nicht im dem Verderben. Gott gibt die Menschen, das Leben, seine Schöpfung und das Reich Gottes nicht auf. Dort, wo wir als Menschen nur das Scheitern und den Tod, das Elend und die Vernichtung sehen, da schafft Gott neue Möglichkeiten. Angesichts des grausamen Todes Jesu am Kreuz ist das eigentlich nicht zu glauben. Dass auf Karfreitag dennoch Ostern folgt, ist ein Wunder Gottes und im Glauben an dieses Wunder der Liebe Gottes kann uns das Gleichnis von den bösen Weingärtnern und das Wort aus den Psalmen bestärken.

Angesichts des Leidens in der Welt, angesichts der Millionen ermordeter Juden, angesichts des Leids der missbrauchten Kinder und angesichts der Todesqualen des kleinen Pascal fällt es schwer von Ostern und vom Vertrauen in Gottes Liebe zu sprechen. Vollmundige Hoffnungsbekenntnisse wirken hier allzu leicht zynisch. Aber vielleicht kann man es so sagen: Dass der Stein, den die Bauarbeiter verworfen haben, bei Gott zum Grund- und Eckstein werden kann, dass der gequälte Christus bei Gott ein neues, unzerstörbares, ewiges Leben erhält, das kann uns ermutigen, auch die ermordeten Juden, auch die gequälten und missbrauchten Kinder, auch den ermordeten kleinen Pascal der Liebe Gottes anzuvertrauen und für sie zu beten. Das ist das eine, was wir tun können, und das ist nicht viel. Das andere, was wir tun können, ist auf Gottes Gebot zu achten: Du sollst nicht töten, das heißt: Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten an Leib und Leben keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und ihm beistehen in allen Nöten und Gefahren. Amen.

Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer, Privatdozent
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
christoph.dinkel@arcor.de




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