Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Okuli, 23. März 2003
Predigt über Lukas 9, 57-62, verfaßt von Charlotte Hoenen
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Liebe Gemeinde!

Jesus mutet denen, die ihm folgen wollen, eine Menge zu. Er verlangt eine Lebensweise, die räumliche und zeitliche Beweglichkeit, Single-Existenz und aktives persönliches Engagement fordert. Es klingt für mich so, dass er eine jugendliche Lebensweise im Blick hat, für die Ungebundenheit und der Bruch mit der Tradition kennzeichnend sind. Für unsere heutige Zeit scheint diese Lebensweise aktuell, weil die Wirtschaft eine ähnliche Beweglichkeit von allen, die Arbeit haben und suchen, verlangt. Dagegen regt sich bei mir Widerstand.

(1) Widerspruch

Ich gehöre zur älteren Generation und weiß es zu schätzen, an einem Ort angekommen zu sein und ein Zuhause zu haben. Ich bin froh, nicht mehr dauernd aufbrechen zu müssen, zur Arbeit und zu neuen Verpflichtungen. Als ich jung war, habe ich darüber gelächelt, dass sich die Alten auf ihr eigenen Bett freuten und nicht so weit und nicht so lang wegreisen wollten.

Inzwischen lese ich auch die Todesanzeigen in der Zeitung anders, intensiver, weil ich feststelle, wie viele aus meinem Jahrgang sterben. Der eigene Tod wird vorstellbar und rückt näher, seitdem die eigenen Eltern begraben worden sind. Ihre Gräber sind mir wichtig; dass ich die Toten den Toten überlasse und mich nicht um sie kümmere, erscheint mir unvorstellbar, nicht menschenwürdig.

Das Altwerden lebt vom Rückblick auf Vergangenes. Sobald ältere Menschen zusammensitzen, kommen sie ins Erzählen. Ihre Erzählgemeinschaft ist eine Erinnerungsgemeinschaft: wie es damals war: in meinem Umfeld spielt die DDR eine wichtige Rolle, weil es sie nicht mehr gibt. Gerade der Abschied, der sich damit verbindet, ist wichtig, vor allem dauert er lang. Der Film „Good by – Lenin“ ist auch ein Versuch, im Rückblick Erlebtes in der DDR aufzuarbeiten.

(2) Nachfolge und Reich Gottes

Die Nachfolge-Worte Jesu sind für mich Zumutungen. Aber sind sie nicht auch für junge Menschen Herausforderungen, auf die man sich nicht so einfach einlassen kann? Oder gelten sie nur ausschließlich für die Jünger von damals, die mit Jesus nach Jerusalem gingen, um den Weg seines Leidens und Sterbens zu begleiten? Aufforderungen, die nach Jesu Tod keinen Sinn mehr haben?

Doch die Christen haben nach Jesu Tod und Auferstehung den Ruf „Folge mir!“ beibehalten und im übertragenen Sinn verstanden. Sie waren von der Botschaft Jesu betroffen und entschieden sich für die Nachfolge in seinem Namen sowohl unter Beibehaltung ihrer Lebensverhältnisse wie mit deren Veränderung durch Enthaltsamkeit, Besitzlosigkeit und missionarische Verkündigung – das wurden besondere Formen christlicher Frömmigkeit, die nicht alle Christen übernehmen mussten.

Jesus hat den Nachfolgeruf mit dem Reich Gottes verbunden. Die Verkündigung des Reiches Gottes (V.60) und die Eignung dafür (V. 62), verlangen Ernst und Entscheidung sowie die Lebensweise des „Menschensohnes“ (V. 58). Dieses Reich Gottes, das Jesus angesagt hat und das mit ihm beginnt, wächst über die Krise seines Todes hinaus bis zur Vollendung am Ende der Zeiten, auf die der Auferstehungsglaube hofft. Das Reich Gottes ist die Verheißung des Lebens, die Befreiung von der Todesbedrohung und der Sinnlosigkeit, der Weg in Freiheit und Wahrheit – ein Vorgang, der in das eigne Leben und Handeln umgesetzt sein will. An drei herausfordernden Beispielen soll sich der Widerspruch entzünden und Einsichten gewonnen werden.

(3) Drei Beispiele

V. 57 und 58: „Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“

Da kommt jemand von sich aus und will Jesus folgen, wohin er auch geht! Dazu muss er sich auf die Lebensweise des Menschensohnes einlassen. Der Menschensohn hat eine zukünftige Vollmacht, am Ende der Zeit die Welt zu richten – das besagt dieser Titel. Ob das der angehende Jünger und Jesu Begleiter verstanden haben? Wenn sie sich für Jesu Nachfolge entscheiden, dann entscheiden sie sich für die Lebensweise des Menschensohnes. Er hat kein festes Haus, kein Dach über dem Kopf und unterscheidet sich sogar von den Tieren, vom Fuchs, der seinen Bau hat, und den Vögeln, die Nester haben. Jesus ist unterwegs, um das Reich Gottes zum Ziel zu bringen. Er richtet sich nicht in der Welt ein, um die Welt auf Gott auszurichten. Insofern ist das Reich Gottes das letzte und endgültige Ziel, alles andere ist Vorletzes, nur bedingt Gültiges.

Das unbehauste Leben des Menschensohnes verlangt Freiheit gegenüber dem Besitz und den Besitzständen. Ist also doch eine radikale Veränderung unseres bürgerlichen Lebens gefordert, die asketischen Form des Mönchtums, der Armut und Enthaltsamkeit? Nein, auch Christen sollten das menschliche Recht auf Eigentum nicht in Frage stellen, um leben und überleben zu können. Das wäre ja sonst nur auf Kosten anderer möglich. Gefordert ist eine andere Haltung zum Besitz. Lukas sieht besonders für die Reichen keine Chance, dass sie in das Reich Gottes kommen, „eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr“( 18,25)! Das meint auch, den Besitzstand nicht zum einzigen Lebensinhalt zu machen, damit frei umgehen zu können. Diese Freiheit ermöglicht ein Geben und Nehmen, ein Loslassen und Empfangen je nach der eigenen Situation. Nicht was wir haben, macht das Menschsein aus, sondern was wir sind, so hat es der Philosoph Erich Fromm allgemeingültig formuliert. Verzicht und Einschränkung sind daher kein Verlust an Lebensqualität, sondern, wie wir heute selbst erleben, in unserer Gegenwart geboten, um Frieden und soziales Gleichgewicht in unserer Welt zu erhalten. Die Kanzlerrede und die Diskussion im Bundestag in der vorigen Woche sind ein Versuch, etwas in Bewegung zu setzen für unser Land, wenn die Güter anders verteilt werden und durch Eingriffe in die Besitzstände für mehr Menschen Arbeit geschaffen werden kann, damit sie sinnvoll leben können.

Was verbirgt sich hinter der zweiten Zumutung Jesu?

V. 59 und 60: „Und er sprach zu einem anderen: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes!“

Hier fordert Jesus selbst einen Mann zur Nachfolge auf, dessen Vater gerade gestorben ist. Der Bestattungsritus war vorzubereiten und durchzuführen. Das war damals ein öffentliches Ereignis, das mit lautem Geschrei, Weinen und Klagen einherging. Für den Sohn war es eine heilige Pflicht, den Toten zu bestatten: selbst das Thora-Studium musste dafür unterbrochen werden.

Jesu Zumutung wirkt schockierend und hart. Warum? Weil für Jesus nicht der Tod das Letzte, ist, das jedes Leben sinnlos macht – sondern das Vorletzte angesichts des Reiches Gottes! Das Entscheidende an Jesu Ruf zum Reich Gottes ist daher, dass nichts anderes vorgeordnet werden kann. Nicht zuerst noch die Toten begraben, oder dies und das tun. Priorität hat das Reich Gottes – wie es in der Bergpredigt nach Matthäus heißt ( 6,33): Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen“. Und das meint: essen und trinken, sich kleiden und um den morgigen Tag sorgen. Diese Haltung ermöglicht es uns, unser Leben und unsere Habe auch loslassen zu können. Das Leben, das Jesus zusagt, ist stärker als der Tod. So wird das Lesen der Sterbeannoncen und die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit zur eigentlichen Zumutung, die Jesus in eine verheißungsvolle Zusage an jeden einzelnen umwandelt, indem er dazu auffordert: Verkündige das Reich Gottes, das Reich des Lebens. Löse dich von den Fesseln des Todes!

Das dritte Beispiel (V. 61 und 62):

„Und ein anderer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Hause sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“

Hier will einer von sich aus zu Jesus kommen, aber zuvor noch andere Prioritäten setzen, die rückwärts gewandt sind: Abschied nehmen von der Familie, die Angelegenheiten im Haus noch regeln, vielleicht auch noch ordentlich aufräumen. Aber wenn der Blick nach vorn gerichtet ist, ist unmittelbar konzentrierter Einsatz gefordert! Das Beispiel vom pflügenden Bauern macht deutlich, was nötig ist. Beim Pflügen zieht der Bauer mit dem Pflug die Furchen. Wenn er den Pflug führt, muss er nach vorn schauen, um gerade Furchen zu erhalten. Total ungeschickt ist es, beim Pflügen zurückzuschauen, die Furchen laufen dann kreuz und quer, das Feld kann nicht ordentlich zur Saat vorbereitet werden.

Jesus fordert nicht, dass wir die Erinnerung an das Erlebte einfach weglegen, die Bindung an die Familie aufgeben und unsere Herkunft leugnen. Aber wer sich auf Jesus mit seinem Leben und seiner Lebensweise eingelassen hat, kann sein Engagement für ihn nicht immer mit rückwärtigen Bindungen entschuldigen und sich heraus halten aus dem, was zu tun ist.

(4) „…bis der Vorhang fällt“

Herbert Grönemeyer beschließt das Lied „Der Weg“ mit den Worten: „Neue Zeitreise. Offene Welt. Habe dich sicher in meiner Seele. Ich trag dich bei mir, bis der Vorhang fällt. Ich trag dich bei mir, bis der Vorhang fällt.“ So bewahrt Grönemeyer den Tod seiner Frau bei sich auf und macht sich neu auf den Weg durch die Zeit, bis der Vorhang fällt. Ein Bild für den Weltuntergang, - für die Vollendung des Reiches Gottes, wie Glaubende hoffen. Aufgabe der Kirche ist es, für den Weg in die Zukunft Mut zu machen. Dazu gehört die Bereitschaft, sich sowohl an Vergangenes zu erinnern wie auch loszulassen und Schritte in Neuland zu wagen. Alles zielt darauf, dass sich das Reich Gottes verwirklicht und wenn „der Vorhang fällt“, alles im Licht Gottes erscheint. Dafür braucht das Reich Gottes heute Menschen, ob jung oder alt, mit vielen oder wenigen Kräften, die die Zukunft positiv sehen und angehen. Amen.

Charlotte Hoenen
Superintendentin i.R.,
06120 Lieskau
rhoenen@t-online.de


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