Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Lätare, 30. März 2003
Predigt über Johannes 12, 23-33, verfaßt von Erik Høegh-Andersen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Das Weizenkorn ist ein anschauliches Bild, das uns im Evangelium dieses Sonntags vorgestellt wird. Das Korn, das zugrunde geht und stirbt, wenn es in die Erde gelegt wird, und das eben dadurch wieder zu neuem mannigfaltigem Leben erwacht. Ja, wenn das Korn nicht stirbt, wird es nicht wieder zu neuem Leben erweckt und bringt keine Frucht.

Das ist ein Bild, das zugleich natürlich ist und paradoxal - widersprüchlich. Natürlich - weil Wachstumsprozesse sich tatsächlich so in der Natur und in unserem Leben abspielen. Und paradoxal-widersprüchlich, weil in diesem Bild deutlich wird, daß wir das Leben erst gewinnen, wenn wir den Tod auf uns nehmen. Erst wenn wir imstande sind, uns selbst aufzugeben und alles zu verlieren, erst dann können wir das Leben erfahren und empfangen, das größer ist als wir, erst dann können wir das herrliche Leben der Auferstehung empfangen.

Es geht hier um das Geheimnis des Christentums selbst, um das, was Paulus ein Kreuz für das Denken nennt: Daß die Macht Gottes in der Erniedrigung liegt, in unserer Schwachheit, daß wir seine Herrlichkeit in der Kreuzigung Christi sehen. Oder um nun beim Bild vom Weizenkorn zu bleiben, das auch Paulus aufnimmt in seiner Paradoxalität und Widersprüchlichkeit: "Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Unehre und wird auferstehen in Herrlichkeit" (1. Kor. 15,42-43).

Paulus denkt natürlich vor allem an Christus, daran daß er das schwache Leben auf sich nahm, wie ein Weizenkorn zugrunde ging und zu einem lebendigen, reichen und mannigfaltigen Leben in uns aufersteht.

Aber dann denkt er auch an das Weizenkorn als ein Geheimnis, das in den Kern unseres Lebens weist: Daß wir stets etwas sterben lassen müssen, damit das Leben zum Durchbruch kommen kann. Daß es von Anfang bis zum Ende darum geht, daß das Leben mit dem Leben bezahlt wird. Erst wenn wir es wagen, uns selbst und das Leben in der Form, wie wir es kennen, hinzugeben, erst da finden wir das Leben wieder, das Gott uns gibt, in einer tieferen Form. Wir können uns nicht bloß an das alte leben halten, an die schönen Erinnerungen, sondern etwas muß sterben, damit sich das Leben erneuern kann.

Das gilt in einer Freundschaft. Zwei Menschen begegnen sich. Es handelt sich um alte Freunde. Sofort werden die alten Tage wieder lebendig, sie erzählen Geschichten von damals, selbst der Humor von damals stellt sich wieder ein. All das ist gut und schön. Aber wenn die beiden nicht imstande sind, einander anders zu sehen als in den Bildern der Vergangenheit, wenn sie nicht auch imstande sind, das Alte hinter sich zu lassen und einander als die Menschen zu sehen, die sie nun geworden sind und die sie im Begriff sind zu werden, dann wird die Freundschaft nur einen begrenzten Wert haben. Dann wird alles so bleiben, wie es einmal war, zudem in einer versteinerten Form. Dann werden sie sich von dem fruchtbaren Lebensprozeß abgekoppelt haben, wo etwas sterben muß, damit Neues entsteht.

Das gilt natürlich auch in einer Ehe. Sie kann man niemals nur auf der Basis dessen leben, was einmal war, sie muß vielmehr, wie alle zwischenmenschlichen Beziehungen, eine lebenslängliche Bewegung sein, wo man alte Bilder verlassen muß, wo alte Strukturen sterben müssen, damit es umfassender und reicher werden kann als zuvor.

"Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, so bleibt's allein; wenn es aber erstirbt, so bringt es viel Frucht".

Das ist ein Gesetz des Lebens, das wir stets erfahren können. Ein Gesetz des Lebens, dem wir vielleicht nicht folgen wollen - weil es in der Regel bequemer ist, einfach nur dort zu bleiben, wo man ist, sich nur an das Alte, Geborgene, Sichere zu halten. Aber Leben heißt in Bewegung sein, sich selbst dem hinzugeben, das uns fordert.

Deshalb geht es darum, stets aufzubrechen, etwas muß sterben, damit Neues und Reicheres kommen kann.

So ist es, wenn man die Geborgenheit seiner Familie verläßt und von zuhause wegzieht. So ist es, wenn man sich in Liebe an einen anderen Menschen bindet, das ist zugleich herrlicher Verzicht und neues Leben.

So ist es, wenn man sich als die natürlichste Sache sich selbst gibt im Verhältnis zu seinen Kindern, in Fürsorge und Nähe.

Aber genauso natürlich und genauso schwer ist es, sie eines Tages freizugeben und loszulassen, in dem Wissen, daß nun die beschützende Fürsorge sterben muß, damit etwas Neues in ihnen werden kann. Liebe, die festhalten will und nicht loslassen kann, die eine permanente Umarmung sein will, wird zu Umklammerung und erstickt Leben. Aber die Liebe sucht nicht das Ihre, sie weiß, daß das, was wir geben, unsern Kindern oder andern, das kommt nicht in dem Sinne zurück zu uns, aber es wirkt neues reiches Leben in ihnen, in dem Kindern, die heranwachsen in einem Zusammenhang, der größer ist als wir.

Und eben das ist ja der Sinn. Das ist die Weisheit des Weizenkorns. Wir haben unser Leben empfangen, um uns selbst voll hinzugeben, ja um zugrunde zugehen mit dem, was wir geben, zu sehen, daß dort, wo wir waren, wo das Korn gelegt wurde, dort ist - vielleicht - so etwas wie ein blühendes Feld. Wir sind also das Weizenkorn Gottes, und als solches sollen wir säen und uns säen lassen, ohne zu wissen, was für ein Leben dabei entsteht. Die Ernte müssen wir mit anderen Worten dem lieben Gott überlassen. Der Sinn ist gerade der, daß wir uns selbst geben für das Leben, das größer ist als wir.

Aber wagen wir das? Halten wir das aus, daß wir nicht sehen, wozu es führt? Wir möchten ja so gerne, daß unser Leben gelingt. Wir wollen gerne die Früchte sehen, genießen, was die Anstrengungen gebracht haben, sehen, was daraus geworden ist. Lohnt sich das alles? So fragen wir dann. Vielleicht erscheint es uns vergeblich, wenn der Tod dennoch einmal auf uns wartet. Ja, vielleicht steht der Tod da als eine Drohung gegen uns, so daß wir uns furchtsam an das klammern, was wir haben. Nicht eine Sekunde wollen wir hergeben. Wir klammern uns an das eine Leben, und das bleibt unfruchtbar wie das Korn, das nicht in die Erde gelegt wird.

Dieser Angst entgehen wir wohl nicht. Die Angst, zu verlieren, um uns dem unabwendbaren hinzugeben, dem Tod, der uns einmal erwartet. Auch Jesus hatte diese Angst in sich. So wie wir es heute im Johannesevangelium hören, in einigen Worten, die unmittelbar nach dem Einzug in Jerusalem laut werden. Jesus weiß deshalb, daß er den gewissen Untergang und Tod vor sich hat. Da heißt es: "Jetzt ist meine Seele betrübt. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde?" Aber er antwortet selbst auf sein Fragen, seine Verzweiflung: "Nein, darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen!" Er weiß, daß er nur einen Weg gehen kann. Dennoch spürt er die Angst, den Aufruhr in seiner Seele.

So werden wirt alle in unserem leben Angst oder Verzweiflung spüren. Zugleich wissen wir in unserem Herzen, daß wir uns selbst loslassen und hingeben müssen. Man kann nicht sagen, wann und wie. Aber es gibt immer Prozesse im Leben, wo wir etwas sterben lassen und uns dem hingeben müssen, das weiter reicht als das Vorhandene, als das Leben, in dem wir gerade jetzt stehen.

Und der, der in den kleinen täglichen Dingen des lebens gelernt hat, sich selbst loszulassen und das sterben zu lassen, was sterben muß, der kann vielleicht auch loslassen, wenn es ernst wird, der kann dem Tod mit der Hingabe und der Kraft eines Weizenkorns entgegengehen. Vielleicht? Ein gewisser Zusammenhang ist da zwischen Leben und Tod. Wer auf dem Wege nicht die kleinen Stücke Tod durchlebt, gerät leicht in Panik bei den kleinsten Schrammen. Was man nicht offenen Auges sehen will, holt einen meistens hinterrücks ein. Aber wer vom Tod im Leben weiß, findet am Ende leichter das Leben im Tod.

Das leben im Tod - das ist wirklich der Kern des Evangeliums. Im Tod selbst, wenn diese Welt vergeht, das haben wir es mit dem Leben zu tun, und kann nichts mehr fallen und vergehen. Aus dieser Hoffnung können wir von Tag zu Tag leben. Jeden Tag, den wir aufbrauchen, lernen wir den Tod kennen, aber wir haben das Leben vor uns, auch am allerletzten tage.

Woher wissen wir das? Vom Weizenkorn, ja, aber zugleich ist es eine Behauptung, die paradoxal und widersprüchlich und unbegreiflich alle unsere Natur überschreitet. Letztlich wissen wir es nur von Jesus, von seinem Leben, seinem Tod und seiner Auferstehung. Jesus, der mit aller göttlichen Liebe in sich in den Tod ging, um dort das Leben für uns zu sein. Weil er sich hingab als das Weizenkorn, können wir damit rechnen, das Leben auf dem Felde zu finden, das seines ist. So daß das, was in Vergänglichkeit gesät wird, in Unvergänglichkeit aufersteht, und das, was in Schwachheit gesät ist, in Herrlichkeit und Kraft aufersteht, und daß das eine Korn, das zugrunde geht, vielfältig Frucht bringt.

Aber die Ernte ist und bleibt die Sache Gottes. Unsere zugleich einfache und schwere Aufgabe ist es, das Leben des Weizenkorns zu leben. In Liebe, Hingabe, Verletzbarkeit.Wir sollen uns ganz hingehen, zugrunde gehen dort wo wir sind. Und uns nicht sorgen, sondern wissen, daß wir letzlich im Reich Gottes verwurzelt sind:

Kummer verdorrt
bergender Port
bleibt des Himmelreichs blühender Hort.

Dänisch:

Sorrig sklal dø,
saligheds frø
blomstre på Himmerigs dejlige ø.

(Aus dem Lied des dänischen Barockdichters Thomas Kingo: "Sorrig og glæde de vandre til hobe", dt: Kummer und Freude, zusammen sie wandern, Dän. Gesangbuch Nr. 41, V.7).

Pfarrer Erik Høegh-Andersen
Prins Valdemarsvej 40
DK-2820 Gentofte
Tel. ++ 45 - 39 65 43 87
e.mail: erha@km.dk


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