Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Karfreitag, 18. April 2003
Predigt über Johannes 19, 16-30, verfaßt von Friedrich-Otto Scharbau
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Liebe Gemeinde,

Pilatus hat Geschichte geschrieben. Ob er es wollte oder nicht, ob er es wusste oder nicht: Er hat es festgehalten, was da geschehen ist auf Golgatha, an dem Ort, den sie Schädelstätte nannten, draußen vor den Toren Jerusalems. „Jesus von Nazareth, der Juden König“, hatte er auf eine Tafel geschrieben und diese über dem Haupt Jesu am Kreuz befestigen lassen. So war es vorgesehen, wenn jemand hingerichtet wurde: auf diese Weise wurde der Schuldspruch veröffentlicht und die Neugier befriedigt. Und jeder, der vorbeiging, sollte und konnte es lesen.

Aber hätte dann nicht besser dastehen müssen, dass Jesus es von sich behauptet hatte, er sei der Juden König? Das jedenfalls fanden die, die den Prozess gegen Jesus angezettelt hatten, um ihn auf diese Weise loszuwerden. So, wie es dastand, konnte es sich leicht gegen sie selbst richten: dass sie ihren König umgebracht hatten. Und sie versuchten, eine Korrektur bei Pilatus durchzusetzen. Aber der blieb dabei: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. Und er bestätigte damit, ob er es wollte oder nicht, Jesu Anspruch nicht als Schuld vor Gott und den Juden, sondern als Wahrheit von Gott: Jesus von Nazareth, der Juden König.

Wir erinnern uns: In dem Prozess hatte Jesus von sich gesagt, er sei ein König und dazu in die Welt gekommen, dass er die Wahrheit bezeugen solle. Pilatus hatte nach skeptischer Manier gefragt: Was ist Wahrheit? Nicht, weil er es eigentlich wissen wollte, sondern eher, weil er sich eine Auseinandersetzung über die Wahrheit und letztlich wohl auch die Wahrheit selbst vom Leib halten wollte; das war ihm viel zu philosophisch und zu nachdenklich. Er musste regieren und nicht philosophieren. Aber nun hat er die Wahrheit unversehens zu Papier gebracht und bleibt dabei: Jesus von Nazareth, der Juden König. Und bestätigt damit Jesu Bekenntnis in dem Prozess: Ich bin ein König.

Die Folterknechte hatten ihn mit der Königsformel noch verspottet: Sei gegrüßt, König der Juden! Und sie schlugen ihm ins Gesicht, das von der Dornenkrone gezeichnet war.

Pilatus ist es ernst damit: Jesus von Nazareth, der Juden König. – Nicht, dass er selbst das geglaubt hätte. Aber er sagt, was er gehört hat: Das Selbstzeugnis Jesu.

Und eben dieses teilt er mit, in der Landessprache zunächst, also Hebräisch, und dann in den beiden damaligen Weltsprachen: Lateinisch und Griechisch. Natürlich: Lateinisch ist die Amtssprache im großen Römischen Reich und Griechisch die Sprache der Gebildeten und Gelehrten. Der Tod Jesu ist nicht ein beiläufiges Geschehen von lokaler Bedeutung, das dann auch schnell wieder vergessen sein wird, sondern danach werden noch viele fragen aus aller Welt, wer der war, genauer: wer der ist, der da am Kreuz hängt: Jesus Nazarenus Rex Judaeorum, abgekürzt INRI. So ist es in die darstellende Kunst eingegangen. Auf vielen Bildern und Passionsaltären können wir es so sehen: INRI – Jesus von Nazareth, der Juden König.

Vier Buchstaben, ein Tetragramm also, so wie auch der Gottesname im Alten Testament von einem Tetragramm gebildet wird, aus vier Buchstaben des hebräischen Alphabets. So dass die Kreuzesinschrift des Pilatus die Gottheit Jesu konstatiert. Eine Szene von unglaublicher Intensität: Gerade das Kreuz, vordergründig Symbol der Schande und des Scheiterns und des Todes, wird zum Ort der Mitteilung der Wahrheit über Jesus: König der Juden ist er nicht im politischen Sinn, sondern im Sinne der Gottesherrschaft:

„Ehre sei dir, Christe,
der du littest Not
an dem Stamm des Kreuzes
für uns bittern Tod,
herrschest mit dem Vater
in der Ewigkeit:
Hilf uns armen Sündern
zu der Seligkeit.
Kyrie eleison,
Christe eleison,
Kyrie eleison.“

Das Kreuz ist nicht Ort der Erniedrigung, sondern es ist der Ort der Erhöhung Jesu. Anders als bei Matthäus und Markus und auch noch bei Lukas hat der Passionsbericht bei Johannes gerade auch in der Schilderung und Interpretation der Kreuzigung etwas Triumphales und gibt Zeugnis von der Hoheit Jesu: Kein Schrei der Gottverlassenheit, kein qualvoller letzter Todesseufzer, sondern er selbst sagt, was da geschieht: Es ist vollbracht! Da kommt etwas zu seinem gewollten Ende. Nicht dass das Leiden ein Ende hat, so wie man bei jemandem, der einen schmerzhaften Todeskampf hinter sich hat, sagt: Er ist hindurch. Sondern das Werk Gottes, das dieses Leiden und diesen Tod einschließt, ist Wirklichkeit geworden.

Schon in dem Nachtgespräch mit Nikodemus hatte Jesus gesagt, dass der Menschensohn erhöht werden müsse, so wie Mose in der Wüste die Schlange hoch über dem Lager Israels erhöht hat, damit alle, die auf sie sehen, leben und nicht verderben. So auch Jesus: Alle, die an ihn glauben, werden das ewige Leben haben. Das Kreuz Jesu ist seine Erhöhung, er ist der Sieger schon am Kreuz, Sieger nicht über den Tod, sondern im Tod, als der zu seiner Gottheit Erhöhte. Und darum berichtet Johannes auch nicht, wie es die anderen Evangelisten tun, dass in der Stunde des Todes Jesu eine Finsternis über das ganze Land kommt; es darf nicht verdeckt werden, was ja gerade offenbar werden soll: Die Todesstunde Jesu ist die Stunde Gottes, und am Kreuz verherrlicht er seinen Sohn.

Es ist Ausdruck eben dieser Autorität und Souveränität Jesu, dass er aus der Schar derer, die bei ihm geblieben waren, zwei herausruft und sie aneinander weist: Maria, seine Mutter, und Johannes, den Lieblingsjünger. Nicht einfach im Sinne eines letzten Willens, damit sie sich gegenseitig stützen; Maria und Johannes werden berufen, familia Dei zu sein, Gemeinschaft nicht nach der Geburt, aber nach dem Glauben, eben Kirche nach dem Willen Jesu. Es ist eine andere Art der Nachfolge, in die der Gekreuzigte sie ruft, nicht mehr hinter einem Prediger her, sondern nun selbst mit einer Botschaft ausgestattet der eine, zu bezeugen, was er gesehen hat, und die andere, die leibliche Mutter, als Hinweis auf das Menschsein Jesu: Der ans Kreuz Erhöhte ist kein anderer, als der leibliche Sohn seiner Mutter und darum ganz Mensch und als solcher unter uns lebendig als der zur Herrlichkeit Gottes Erhöhte: in seinem Wort.

Es gab Leute, die wollten sich nur an der Lichtgestalt des Auferstandenen berauschen und religiös erbauen. Die Bibel sagt: Erst, wenn Du die Menschheit Jesu begriffen hast und es gelten lässt, dass er ein Mensch war unter Menschen, dann begreifst Du auch das Geheimnis seines Todes am Kreuz: nicht das Ende eines zuerst so hoffnungsvollen Weges, sondern Anfang einer Hoffnung, die von Gott kommt und zu Gott geht. „Ave crux unica spes“ wurde in der mittelalterlichen Liturgie gesungen. Das Kreuz Christi als die einzige Hoffnung, die trägt. Vom Kreuz Christi geht all unsere Hoffnung aus und zum Kreuz Christi geht sie hin. Darum haben wir die Kreuze in unseren Kirchen und Häusern, darum bekreuzigen Menschen sich, damit wir uns immer wieder dessen vergewissern, dass unsere Hoffnung und unsere Zuversicht und unser Vertrauen ihren Grund und ihren Bezugspunkt im Kreuz Christi haben. Da laufen die Linien und Wege unseres Lebens gleichsam perspektivisch zusammen, werden sozusagen auf den Punkt gebracht, auf den Fluchtpunkt, wenn man so will: Wer den im Auge hat, der kennt Grund und Ziel seines Lebens.

Es gibt, soweit ich sehen kann, kein Symbol in unserer Welt, das so wie das Kreuz Verzweiflung, Klage und Schmerz versinnbildlicht und zugleich Trost und Aufgehobensein und das Wissen, dass hinter diesen unendlich vielen Kreuzen, die wir aufstellen oder die wir mit unseren Händen nachzeichnen, immer das Kreuz Christi steht, von Gott in unsere Welt gestellt, und wer es ansieht, wird leben.

Das ist ja der Sinn jener Erinnerung an die Schlange in der Wüste: Als das Volk ungeduldig geworden war auf seinem langen Weg aus der Knechtschaft in Ägypten hin zum Gelobten Land und gegen Gott und Mose rebellierte und sich zurücksehnte zu den Bequemlichkeiten des ägyptischen Exils, da fielen Schlangen über sie her und wer von einer gebissen wurde, war des Todes. Da besannen sie sich und Mose errichtete hoch über dem Lager das Bild einer Schlange. Wer darauf den Blick richtete in der Stunde der Gefahr, der blieb am Leben.

In dem Nachtgespräch mit Nikodemus sagt Jesus: „Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so wird auch der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“ Im Klartext und unverschlüsselt unmittelbar daran anschließend: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“

So dass es also die Liebe Gottes ist, die Christus ans Kreuz bringt. Natürlich: Der Evangelist Johannes weiß auch von menschlicher Sünde und Schuld und von Gottes Gerechtigkeit, die zum Zuge kommen muss. Aber die ist kein Selbstzweck, wie ein Zwang, der auf Gott liegt und dem er nachzugeben hat, koste es, was es wolle, eben auch das Leben Jesu. Sondern so ist Gott Gott, dass er in Liebe den Weg der Gerechtigkeit geht, nicht ohne Kreuz, aber das Kreuz wird zum Zeichen seines Sieges und Ostern ist da schon mit drin.

Der Evangelist Johannes beschreibt am Anfang seines Evangeliums Christus als das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt, und prägt damit ein Verständnis der Sendung Jesu, wie wir es uns in jeder Abendmahlsfeier in Erinnerung bringen, wenn wir das „Christe, du Lamm Gottes“ singen. Manche singen und hören das nicht so gerne und betonen mehr den Gemeinschaftscharakter des Abendmahls – dass es Gemeinschaft stiftet mit Gott und unter uns. Weil sie nicht gern von der Sünde reden als von etwas, das ihnen selbst und überhaupt der Menschheit fremd ist. Das Reden von der Sünde kränkt den Stolz des seiner selbst Sicheren und schließt die Anerkennung ein, dass nicht ich selbst über Gut und Böse bestimme, sondern dass es ein Menschheitswissen gibt, das sehr wohl von Schuld und Sünde weiß und das ich tief in meinem Herzen trage, auch, wenn ich es nicht wahrhaben will. Was für ein Irrtum über uns selbst! Als ob wir von Natur aus gut und gerecht wären und der Erlösung gar nicht bedürften. Und als sei es nur eine Frage der richtigen Philosophie und der Erziehung des Menschengeschlechts, eine makellose Welt ohne Verbrechen und Kriege, ohne Unterdrückung, ohne Hunger, ohne Hass und Neid herzustellen.

Zurück zum Abendmahl: Wer es nur als Gemeinschaftsmahl feiern will, übersieht dabei leicht, warum es dieser neuen Herstellung von Gemeinschaft bedarf: Weil wir sie haben zerbrechen lassen, Gott ausgewichen sind, uns vor ihm versteckt haben und immer wieder so tun, als ob es Gott nicht gäbe. Vielleicht nicht jeder persönlich. Aber auch das gehört zum Menschheitserbe dazu, das jeder von uns in sich trägt. In der Gottesferne finde ich mich vor, sie ist mir sozusagen angeboren. Das ist es, was die Bibel Sünde nennt, und aus dieser Gottesferne und Gottesfremdheit kommen wir nicht heraus, mit noch so viel Anstrengung und mit noch so viel guten Vorsätzen nicht. Die zerrinnen so schnell, wie sie gefasst wurden, und morgen schon sind sie allenfalls noch Erinnerung.

Es gibt Probleme, für die wir keine Lösungen haben, für die wir nur auf Erlösung warten können. Und unsere Existenz vor Gott gehört dazu. Das haben wir nicht in der Hand, dass daraus etwas Rechtes wird. Mit der Sünde kann ich nicht dadurch ins Reine kommen, dass ich sie lasse oder dass ich sie einfach zu verdrängen versuche. Oder dass ich mich selbst von ihr befreie und meine, dann sei ich auch vor Gott frei davon.

Mit der Sünde kann ich auch nicht dadurch ins Reine kommen, dass ich sie ursächlich mit Gott in Verbindung bringe: Ich bin halt so, und so wie ich bin, bin ich Gottes Geschöpf; was quält mich meine Sünde? Wenn es die denn überhaupt gibt!

Ich bin Gottes Geschöpf – das ist wahr. Aber geschaffen bin ich von Gott nach seinem Bild. Und mache ständig die Erfahrung, dass ich dahinter zurückbleibe. Ich bin nicht der, der ich sein soll, und ich bin nicht der, der ich sein will. Das ist noch nicht einmal ein Glaubenssatz, sondern das ist die nüchterne Erkenntnis eines normal empfindenden Gewissens: Dass ich immer zurückbleibe hinter dem, was ich soll und was ich will. Es geht um diese Differenz, die ich nicht überwinden oder beseitigen kann, sondern die bleibt, wie ein lästiges Schicksal. Es geht um diese Differenz, wenn wir von der Sünde reden. Und es geht um diese Differenz, wenn wir von Erlösung reden.

Das Kreuz Christi bringt diese Erlösung, schafft Gemeinschaft, stiftet Frieden, führt uns zurück zu Gott und stellt das Bild Gottes in uns wieder her: Dass wir Gott erkennen, wer er ist. Und dass wir uns erkennen, in Entsprechung zu ihm. Das ist ja das Erstaunliche: In Christus wendet Gott sich nicht ab vom Sünder, sondern er wendet sich ihm zu, hebt ihn auf und nimmt ihn in sein Haus.

Man hat oft gesagt, das Kreuz sei sozusagen der Vollzug der Gerechtigkeit Gottes: dass Gott Recht behält gegen die Sünde. Und dafür musste einer sterben.

Das Johannesevangelium spricht da ganz unbefangen von der Liebe Gottes, die, so verstehe ich das, die Gerechtigkeit überbietet, Gottes neue Gerechtigkeit ist, nicht dem Tod verpflichtet, sondern dem Leben. Luther sagt einmal: „Bei Gott ist Leben und Lieben dasselbe“, und er spricht von Gott als dem „glühenden Backofen voller Liebe, der da von der Erde bis an den Himmel reicht.“ Das war sozusagen die Entdeckung, die für ihn die Wende brachte von der Existenz unter dem Zorn Gottes, der ihn um Gott gebracht hat, hin zu der neuen Gewissheit, dass es Gottes Liebe ist, die uns sucht und die uns hält. Und im Kreuz ist diese Liebe da.

Es ist diese Liebe, die uns sagt: Es geht um dich, du bist gemeint. Gott hat uns in seine Liebe verstrickt. Und daraus entlässt er uns nicht.

Amen

Friedrich-Otto Scharbau
E-Mail: F.O.Scharbau@t-online.de


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