Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Miserikordias Domini (2. Sonntag nach Ostern), 4. Mai 2003
Predigt über Johannes 10, 11-16 (27-30), verfaßt von Birte Andersen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Wir befinden uns in der Zeit zwischen Ostern und Pfingsten. Zwischen Auferstehung und Himmelfahrt. Die Zeit, wo uns die Auferstehung unter die Haut gehen soll. Uns lehren soll, die Welt um uns mit den Augen des Auferstandenen zu sehen, die Welt mit den Händen des Auferstandenen zu spüren und zu fühlen. Wir sollen mit der Welt um uns mit den Worten des Auferstandenen reden. Deshalb ist die Zeit nach Ostern voll von Texten, die von der Formgebundenheit der Menschen an Christus sprechen. Eines dieser starken Bilder ist das Bild vom Verhältnis zwischen den Schafen und ihrem Hirten.

Bevor das Bild ankommt, erklingen die Worte: "Ich bin". Als ein Echo aus den alten Worten an Moses am brennenden Dornenbusch. Ich bin der, der ich bin. Einfach und rätselhaft zugleich. So wie das Gottesverhältnis. Dann kommt das Bild des Hirten. Der gute Hirte, der so stark in unserem Bewußtsein steht, daß er fast zu einem Archetypen geworden ist. Mit der Doppelheit, die einem Archetypen eigen ist.

Viel verdeckte Macht ist als eine Hirtenfunktion ausgeübt worden. Das Ausnutzen der Schwächen anderer, Mißbrauch eigener Güte haben falsche Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen. Wir haben es gesehen und sehen es zwischen Liebenden, zwischen Freunden, privat und öffentlich, auch in der Kirche. Wenn wir das Entscheidende übersehen, daß Christus der Hirte ist. Nicht wir. Dadurch sind wir davon befreit, Hirten zu sein - zunächst. Weder mein eigener Drang, andere zu erlösen, noch deren Bedürfnis nach Nähe und Fürsorge können mich in die Position des Hirten bringen. Christus ist der gute Hirte. Er ist es für mich und für den anderen. In bezug auf den anderen und in bezug auf mich selbst kommt Christus zuerst. Nicht ich bin Hirte für den anderen - Christus ist Hirte für ihn - und auch für mich.

Was bedeutet es nun, daß Christus Hirte ist? Wir sehen die Gestalt des wahren Hirten am besten auf dem Hintergrund seines Gegensatzes, dem Mietling.

Nun wird der heutige Mietling sich selbst niemals so nennen. Er gibt sich selbst ganz, meint er von sich selbst. Aber er will etwas dafür. Denn jemand - die Schafe oder deren Besitzer - sind ihm etwas schuldig. Kriegt er kein Geld, das ist vielleicht zu primitiv, zumindest braucht er dann Anerkennung, Aufmerksamkeit, Dankbarkeit, Liebe - von den andern. Er leitet die Schafe, indem er sie in ihrer Schwäche und Abhängigkeit festhält - um so deutlicher kann seine Fürsorge dann zum Vorschein kommen. Er glaubt, daß er etwas zu verlieren hat, und weiß nicht, daß er bereits das verloren hat, was zu verlieren war - denn das kann man nicht kaufen oder verkaufen. Er hat sein Leben verloren, als er zu Ostern Jesus mit zum Tode verurteilte. Da ging das alte Leben zugrunde - das Leben, das er kontrollieren konnte. Seitdem kam Auferstehung in das Leben, es gehört nicht mehr dem Menschen, es gehört jetzt Gott, und man kann es nicht verlangen oder um es feilschen. Der, der Mietling ist, nennt sich oft Hirte, aber er wird erst entlarvt, wenn die Gefahr kommt, wenn die Wölfe kommen. Denn er will selbst nicht verlieren. Er will gerne da sein, aber nicht verlieren. Er kapselt sich ein - in Abwehr und Schutz - wenn der Wolf kommt.

Der wahre Hirte kommt vom Tode. Dahin hat ihn sein Hirtenauftrag geführt. Er bekommt nichts dafür. Gott nahm ihm das Leben und ließ es sein Leben sein. Der wahre Hirte hat seinen Auftrag nicht von den Schafen, sondern von dem Herrn, der Herr ist über ihn und die Schafe, dem Herrn der Welt. Der Schöpfer und Herr der Welt hat ihm die Schafe gegeben und ihm die Vollmacht erteilt, sie zu hüten und zu sammeln. Der Hirte kennt Gott und Gott kennt ihn. Darin hat er seinen Ursprung. Sein Leben hängt nicht an der Anerkennung durch die Schafe oder dem Mangel derselben. Weil er Gott kennt, hütet er seine Herde nicht allein. Er läßt uns Gott sehen und Gott wiedererkennen in der Herde, in der wir leben. Denn Jesus kann man nicht mehr sehen, ohne zugleich Gott mit zu sehen. Durch seine Todesverachtung hat Jesus den Herrn der Welt selbst zum Hüter der zufälligen Schafsherde gemacht, in der du und ich leben. So wie er auch Gott in andere Schafsherden gebracht hat, die wir nicht kennen.

Er hat den Tod heimatlos gemacht, so daß er nicht mehr Gott und Menschen trennen kann, die Schafe nicht mehr von ihrem Besitzer scheiden kann.

Wo ist es dann möglich zu sehen, daß Gott selbst Hirte geworden ist? Das sehen wir an seinem Merkmal. Die Schafsherde, in der du und ich leben, wird nicht mehr von einem Hirtenhund bewacht, einer soliden Umzäunung oder einem Stab. All das ist durch ein Merkmal ersetzt.

Ein Brandmal. Das Siegeszeichen des kämpfenden Gottes. Das Zeichen für meine Person bedeutet, daß ich das schwarze Loch meiner Unsicherheit nicht mehr mit dem Lob und der Anerkennung anderer zu füllen brauche - mit dem Lechzen nach der Aufmerksamkeit anderer oder dem Warten auf Rückzahlung der Dankesschuld. Denn mir ist ein Merkmal eingeprägt, das mir sagt: Du bist erwählt. Niemand kann mir mehr geben, als ich schon empfangen habe.

Vielleicht ist das für uns am schwersten zu schlucken - daß ich vom Herrn der Welt erkannt und gesehen bin. Und je mehr ich fortgebe, desto mehr empfange ich. Desto deutlicher tritt das Merkmal hervor. Genug, um mir durchs ganze Leben zu folgen. Denn wir können das Merkmal selbst nicht sehen, an dem Gott uns erkennt. Niemand kann sich selbst sehen.

Dennoch ist es möglich, das Merkmal als einen Leitstern zu benutzen und ihm zu folgen. Wenn es in unsere Herzen eingeschrieben ist - wie dies geschah, als Jesus den Tod überwand - dann können wir es als einen Stempel tragen, durch den man die Schafe auseinanderhalten kann.

Mit diesem Merkmal an sich zu leben bedeutet, daß sich das alltägliche Grasen verändert. Zuvor erhielten die stärksten Schafe das beste Futter - für sich selbst. Die Schwachen mußten entweder zugrunde gehen oder sich der Leitung des Hirten anvertrauen. Jetzt kann selbst das schwächste Schaf in der Herde großherzig sein und Platz machen für das Schaf, das neben ihm grast. Und für mich als eines der Schafe der Herde wird wichtig, die anderen zu kennen. Kann ich das Merkmal Gottes an mir selbst nicht sehen, so kann ich das Merkmal der anderen sehen. Und der Umwelt erzählen, was ich sehe.

Durch die Gegenseitigkeit können die Schafe nun füreinander da sein. Ja, ohne diese Erzählung und den Austausch der verschiedenen Merkmale Gottes hören das Leben und das Grasen auf. Und das war ja nicht der Sinn der Übung.

Der Sinn, sagt Jesus, ist der, daß die verstreuten Schafherden, die von der Existenz der jeweils anderen Herde nichts wissen, in einer großen Herde versammelt werden, die alle Unterschiede in sich enthält. Weil zwei und zwei mehr ist als vier. Weil dort, wo die Unterschiede in demselben Bild zusammengehalten werden und zusammensein können, dort sind Leben und Energie. Dort können das Böse und die Macht der Zerstörung nicht genug Nahrung und Sauerstoff erhalten, denn der Sauerstoff ist dort, wo das Leben strömt.

Diese zerstreute Herde soll nach Gottes Willen in seiner Ewigkeit vereint werden. Amen.

Pfarrer Birte Andersen
Emdrupvej 42
DK-2100 København-Ø
Tel.: ++ 45 - 39 18 30 39
E-Mail: bia@km.dk

 


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