Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Miserikordias Domini (2. Sonntag nach Ostern), 4. Mai 2003
Predigt über Johannes 10, 11-16, verfaßt von Jürgen Ziemer
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Gemeinde!

Der Gute Hirte! Vielen von uns ist dieses Bild, allen unendlichen Wiederholungen zum Trotz, vertraut und sympathisch.
- Vielleicht weil es mit bestimmten Erinnerungen verbunden ist – an ein eindrucksvolles Gemälde, an eine stimmungsvolle Szene in der Natur, an einen Text wie „Der Herr ist mein Hirte“ (Psalm 23) zu besonderer Zeit.
- Vielleicht auch weil es an Träume rührt – Träume von Bewahrung und Gewißheit, von Klarheit und Harmonie, von Nähe und Geborgenheit.

Der Gute Hirte – das ist tiefenpsychologisch gesprochen ein archetypisches Bild, also ein Urbild des Menschlichen – es ist einfach da, tief in uns, lange vor uns, mißbrauchbar gewiß, aber letztlich nicht zerstörbar.
Jesus nimmt es hier auf und verknüpft es mit seiner eigenen von Gott so gewollten Geschichte zu unseren Gunsten : „Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“

Der Gute Hirte – Ein Bild des Lebens.
Den Menschen, zu denen Jesus sprach, war das Bild natürlich aus dem Alten Testament vertraut. (Wir haben im Gottesdienst heute schon die Lesung aus Ezechiel gehört). Aber auch in der vorchristlichen Antike war es bekannt als Sinnbild für das Paradies, für das Leben schlechthin.
Kein Wunder, dass es für die Christen im Römischen Reich eines ihrer ersten Kunstwerke überhaupt war. Das Bild des Guten Hirten schmückte Wände oder Decken in den Katakomben, tauchte früh an den Grabmälern auf, bald auch in Taufräumen. Der Gute Hirte – das ist das Symbol des von Gott gesandten Retters. Der Gute Hirte – das ist die Botschaft des Lebens im Bannkreis des Todes.Es leuchtet ein, dass dieser Sonntag mit diesem Thema so ganz in die Nähe von Karfreitag und Ostern gehört.

„Ich bin der gute Hirte“. Diese Selbstaussage Jesus liegt auf einer Linie wie andere Ich bin-Aussagen des Johannesevangeliums: „Ich bin das Brot des Lebens.“ „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“
Der Gute Hirte ist der, der alles, zuletzt sein eigenes Leben, daran setzt, damit die, für die er da ist, „die Seinen“, leben können.
„ Ich bin der gute Hirte“ – das ist eine Botschaft, die quer steht zu allem, was auch bei uns und in uns gegen das Leben steht: gegen den sich zu allen hin abschottenden und rücksichtslosen Egoismus, gegen die Anonymisierung der Schwachen und die Gleichgültigkeit angesichts fremden Leides, gegen die Arroganz, mit der Einer festgelegen möchte, was für einen Anderen, vielleicht für ein ganzes Volk gut sei.

„Ich bin der gute Hirte und kennen die Meinen und die Meinen kennen mich.“ „Und ich lasse mein Leben für die Schafe.“
Er, Christus, kann so sprechen. Im Munde eines Anderen klänge es wie eine Farce.
Aus ihm und durch ihn aber spricht Gott selber. Keines seiner Worte, für das er nicht eingestanden hat.

Die Lebensbotschaft klingt sehr nüchtern: ich „kenne“ die Meinen. Für ihn ist jeder von uns mehr als eine Nummer, mehr auch als ein gehorsames Schaf. Wie bin ich enttäuscht, wenn ich nicht erkannt werde! Wie lebe ich auf, wenn Einer mich kennt, wo ich es nicht erwartet hätte!
„ Ich bin der gute Hirte“ – das ist nicht nur ein Bild, das ist eben auch Anfang einer Beziehungsgeschichte, einer Geschichte, die für mich persönlich Christsein zur Lebenskraft werden läßt.

Der Gute Hirte – Bild des Lebens. Aber, die Redlichkeit gebietet zu sagen: Es kann auch mißbraucht werden, und möglicherweise geht es manchem oder mancher von uns gar nicht nur gut mir diesem Bild. Über Jahrhunderte wurde und wird es in den Kirchen auch zur Kennzeichnung der geistlichen Ämter, des Hirtendienstes, benutzt – in der guten Absicht, Christus selbst so wirksam werden zu lassen. Das kann eine wunderbare Herausforderung sein. Aber es schließt auch die Gefahr ein, religiöser und anderer Machtausübung über die „Schafe“ Raum zu gewähren. Michel Foucault, radikalkritischer postmoderner Interpret des Christentums, hat die „Pastoralmacht“ analysiert, die „sanfte Macht der Hirten“, die alle ihre Kompetenz von „dem“ Guten Hirten herleiten. Sie laufen nicht davon wie die Mietlinge in unserem Text, sie nutzen die Gelegenheit vielmehr schamlos für die eigenen Zwecke. Foucault macht auf die Mißbrauchsmöglichkeit aufmerksam: Fürsorge kann zur Herrschaft werden, das „Kennen der Seinen“ kann zu einem subtilen Prozess von Überwachen und Durchleuchten verkommen. Die Geschichte des Christentums liefert leider viele Beispiele dafür. Überall wo auch heute noch einzelne Christen in Gemeinden oder Kirchen – angeblich um ihres Heiles willen – zu Geständnissen oder Bekenntnissen gezwungen werden, wo sie von anderen gegen ihren Willen „geführt“ werden, da haben wir es mit einer Perversion des Hirtenamtes zu tun. Manchmal geschieht Unerhörtes gar nicht weit von uns entfernt, und man muß dabei nicht nur an gefährliche Sekten wie Sciontology denken. Wir müssen uns dagegen verwahren und ggf. damit auseinandersetzen.
Der springende Punkt: Das „Kennen“, von dem Jesus spricht, ist immer nur als ein „Erkennen der Liebe“ gemeint. Liebe aber hat nichts, aber auch gar nichts mit Zwang zu tun: „Sie eifert nicht, sie treibt nicht Mutwillen, sie bläht sicht nicht auf.“ (1Kor 13,4).
Liebe ist gar nicht denkbar, ohne die Freiheit des anderen zu respektieren, um bei unserem Bilde zu bleiben: auch die Freiheit der Schafe. Die Schafe des Guten Hirten sind eben keine „Schafe“. Wer den Unterschied nicht bemerkt, geht als „Pastor“ als „Hirte“ in die Irre.

Das ist nun vielleicht der richtige Zusammenhang, um heute an eine Frau zu denken, die im besten Sinne „Hirtin“ war, aber keine „Schafe“ wollte: Dorothee Sölle. Vor einer Woche ist sie gestorben. Eine sensible und streitbare Theologin, eine Kämpferin aus Liebe. Immer wieder hat sie um eine Interpretation der Grundsymbole des Glaubens für unsere heutige Zeit gerungen. In einem ihrer ersten theologischen Bücher sprach sie von Christus als dem „guten Lehrer“. Ein guter Lehrer ist wie der „Gute Hirte“, der die Schüler nicht an sich bindet, sondern ihnen Lern- und Lebenschancen eröffnet, damit sie frei und selbständig werden. In ihren Lebenserinnerungen schrieb sie von ihrem eigenen Lehrer: „Ich gehe davon aus, dass er mich nicht belügt, weder im gut gemeintenLob, noch im gleichgültigen, zornfreien Tadel. Ich kann mich darauf verlassen, dass er mich lehren will, und mir das, was er ist, geben will.“ Wer so von einem Lehrer sprechen kann, gewinnt eine Ahnung von dem, was unsere Text meint.

Dorothee Sölle starb einen Tag, bevor sich das grauenhafte Massaker im Erfurter Gutenberg-Gymnasium jährte, bei dem 17 Menschen, unter ihnen 13 Lehrer umkamen. Es scheint mir wichtig und an der Zeit, den so oft gescholtenen Lehrerberuf einmal in der Perspektive dieses Textes zu sehen. Lehrersein ist ein Hirtenberuf, mit seinen Herausforderungen, seinen Gefahren und seinen, auch äußersten, Möglichkeiten.

Kehren wir zum Schluß noch einmal zum Text zurück. Der Gute Hirte kennt die „Seinen“. Die aber haben, so spricht Jesus gegen manche fromme Sehnsucht, keine Exklusivrechte an ihm. Es gibt noch andere Schafe, aus einem anderen Stall – auch sie hören die Stimme des Guten Hirten. Das ist es , worauf es ankommt: Nicht ob ich zu einer bestimmten Kirche gehöre, nicht ob ich aus dem richtigen „Stall“ komme, nicht ob ich den gleichen frommen Habitus pflege und den gleichen „Stallgeruch“ verströme, sondern: ob ich die Stimme Christi höre. Ob ich sie höre in dem, was mir widerfährt, in dem was mir gepredigt wird, indem was ich an anderen wahrnehme. Und ob wir vernehmen und anerkennen können, dass andere, „die Anderen“, auch die Stimme des Guten Hirten hören.
Von diesem Text geht ein starker Impuls für die Ökumene aus, die Gemeinschaft der Glaubenden und Suchenden über die Grenzen der Konfessionen, der Kulturen, der Rassen, vielleicht sogar der Religionen hinweg. Die „Stimme Christi hören“ – das ist das elementarste Kriterium des Christlichen, elementarer als das Glaubensbekenntnis oder die Basisformel des Ökumensichen Rates der Kirchen. Was das heißt, muß vielleicht jeder für sich, jede Gemeinde für sich zu buchstabieren versuchen: ein Hören auf die Stimme Christi bei den anderen vernehmen, bei dem verbohrt erscheinenden Fundamentalisten wie bei dem nachdenklichen Kirchenkritiker von Nebenan. Das öffnet Räume, bringt frische Zugluft in den leicht vermoderten Stall, verhindert das Anwachsen von „Pastoralmacht“ und eröffnet Chancen eines neuen miteinander unter der Gegenwart dessen, der die Seinen in ihrer bunten Vielfalt kennt und zusammenführt.
Er ist der gute Hirte. Auf seine Stimme laßt uns hören.

Prof. Dr. Jürgen Ziemer, Leipzig
E-Mail: ziemer@rz.uni-leipzig.de

 


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