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Miserikordias Domini (2.
Sonntag nach Ostern), 4. Mai 2003
Predigt über Johannes 10, 11-16, verfaßt von Jürgen Ziemer (-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de) |
Liebe Gemeinde! Der Gute Hirte! Vielen von uns ist dieses Bild, allen unendlichen Wiederholungen
zum Trotz, vertraut und sympathisch. Der Gute Hirte – das ist tiefenpsychologisch gesprochen ein archetypisches
Bild, also ein Urbild des Menschlichen – es ist einfach da, tief
in uns, lange vor uns, mißbrauchbar gewiß, aber letztlich
nicht zerstörbar. Der Gute Hirte – Ein Bild des Lebens. „Ich bin der gute Hirte“. Diese Selbstaussage Jesus liegt
auf einer Linie wie andere Ich bin-Aussagen des Johannesevangeliums: „Ich
bin das Brot des Lebens.“ „Ich bin die Auferstehung und das
Leben.“ „Ich bin der gute Hirte und kennen die Meinen und die Meinen kennen
mich.“ „Und ich lasse mein Leben für die Schafe.“ Die Lebensbotschaft klingt sehr nüchtern: ich „kenne“ die
Meinen. Für ihn ist jeder von uns mehr als eine Nummer, mehr auch
als ein gehorsames Schaf. Wie bin ich enttäuscht, wenn ich nicht
erkannt werde! Wie lebe ich auf, wenn Einer mich kennt, wo ich es nicht
erwartet hätte! Der Gute Hirte – Bild des Lebens. Aber, die Redlichkeit gebietet
zu sagen: Es kann auch mißbraucht werden, und möglicherweise
geht es manchem oder mancher von uns gar nicht nur gut mir diesem Bild. Über
Jahrhunderte wurde und wird es in den Kirchen auch zur Kennzeichnung
der geistlichen Ämter, des Hirtendienstes, benutzt – in der
guten Absicht, Christus selbst so wirksam werden zu lassen. Das kann
eine wunderbare Herausforderung sein. Aber es schließt auch die
Gefahr ein, religiöser und anderer Machtausübung über
die „Schafe“ Raum zu gewähren. Michel Foucault, radikalkritischer
postmoderner Interpret des Christentums, hat die „Pastoralmacht“ analysiert,
die „sanfte Macht der Hirten“, die alle ihre Kompetenz von „dem“ Guten
Hirten herleiten. Sie laufen nicht davon wie die Mietlinge in unserem
Text, sie nutzen die Gelegenheit vielmehr schamlos für die eigenen
Zwecke. Foucault macht auf die Mißbrauchsmöglichkeit aufmerksam:
Fürsorge kann zur Herrschaft werden, das „Kennen der Seinen“ kann
zu einem subtilen Prozess von Überwachen und Durchleuchten verkommen.
Die Geschichte des Christentums liefert leider viele Beispiele dafür. Überall
wo auch heute noch einzelne Christen in Gemeinden oder Kirchen – angeblich
um ihres Heiles willen – zu Geständnissen oder Bekenntnissen
gezwungen werden, wo sie von anderen gegen ihren Willen „geführt“ werden,
da haben wir es mit einer Perversion des Hirtenamtes zu tun. Manchmal
geschieht Unerhörtes gar nicht weit von uns entfernt, und man muß dabei
nicht nur an gefährliche Sekten wie Sciontology denken. Wir müssen
uns dagegen verwahren und ggf. damit auseinandersetzen. Das ist nun vielleicht der richtige Zusammenhang, um heute an eine Frau zu denken, die im besten Sinne „Hirtin“ war, aber keine „Schafe“ wollte: Dorothee Sölle. Vor einer Woche ist sie gestorben. Eine sensible und streitbare Theologin, eine Kämpferin aus Liebe. Immer wieder hat sie um eine Interpretation der Grundsymbole des Glaubens für unsere heutige Zeit gerungen. In einem ihrer ersten theologischen Bücher sprach sie von Christus als dem „guten Lehrer“. Ein guter Lehrer ist wie der „Gute Hirte“, der die Schüler nicht an sich bindet, sondern ihnen Lern- und Lebenschancen eröffnet, damit sie frei und selbständig werden. In ihren Lebenserinnerungen schrieb sie von ihrem eigenen Lehrer: „Ich gehe davon aus, dass er mich nicht belügt, weder im gut gemeintenLob, noch im gleichgültigen, zornfreien Tadel. Ich kann mich darauf verlassen, dass er mich lehren will, und mir das, was er ist, geben will.“ Wer so von einem Lehrer sprechen kann, gewinnt eine Ahnung von dem, was unsere Text meint. Dorothee Sölle starb einen Tag, bevor sich das grauenhafte Massaker im Erfurter Gutenberg-Gymnasium jährte, bei dem 17 Menschen, unter ihnen 13 Lehrer umkamen. Es scheint mir wichtig und an der Zeit, den so oft gescholtenen Lehrerberuf einmal in der Perspektive dieses Textes zu sehen. Lehrersein ist ein Hirtenberuf, mit seinen Herausforderungen, seinen Gefahren und seinen, auch äußersten, Möglichkeiten. Kehren wir zum Schluß noch einmal zum Text zurück. Der Gute
Hirte kennt die „Seinen“. Die aber haben, so spricht Jesus
gegen manche fromme Sehnsucht, keine Exklusivrechte an ihm. Es gibt noch
andere Schafe, aus einem anderen Stall – auch sie hören die
Stimme des Guten Hirten. Das ist es , worauf es ankommt: Nicht ob ich
zu einer bestimmten Kirche gehöre, nicht ob ich aus dem richtigen „Stall“ komme,
nicht ob ich den gleichen frommen Habitus pflege und den gleichen „Stallgeruch“ verströme,
sondern: ob ich die Stimme Christi höre. Ob ich sie höre in
dem, was mir widerfährt, in dem was mir gepredigt wird, indem was
ich an anderen wahrnehme. Und ob wir vernehmen und anerkennen können,
dass andere, „die Anderen“, auch die Stimme des Guten Hirten
hören. Prof. Dr. Jürgen Ziemer, Leipzig
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