Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Jubilate (3. Sonntag nach Ostern), 11. Mai 2003
Predigt über Johannes 15, 1-8, verfaßt von Christoph Dinkel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

"Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, dass sie mehr Frucht bringe.
Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt.
Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.
Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie müssen brennen.
Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.
Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger."

Liebe Gemeinde!

(1.) Zwei klare Alternativen stellen uns die Sätze aus dem Johannesevangelium vor Augen: Zum einen das Bleiben am Weinstock, das Verbundensein mit Christus, also der Glaube und eine Beziehung zu Gott, die Frucht bringt. Die andere Alternative ist der Unglaube, das Nicht-Bleiben am Weinstock, also: keine Beziehung zu Gott haben und deshalb auch keine Frucht bringen und am Ende gar das Verbranntwerden im Feuer.

Das sind klare Alternativen und die Worte Christi beschwören uns, die richtige der beiden Alternativen zu wählen: das Bleiben am Weinstock, die Beziehung zu Christus und damit zu Gott. Wer diese Alternative wählt, dem wird verheißen, dass er gute Früchte bringt und dass seine Bitten von Gott erhört werden. Wenn wir noch andere Worte aus dem Johannesevangelium heranziehen, dann verspricht das Bleiben bei Christus als dem Weinstock noch mehr. Denn Christus ist nicht nur der wahre Weinstock, er ist zugleich der gute Hirte, der für seine Schafe sorgt, er ist das Licht der Welt, das die Finsternis erleuchtet. Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Allen, die an ihn glauben, bringt er die Fülle des Lebens aus der Kraft seiner Auferstehung.

Die Alternativen sind damit klar benannt: Wir können wählen zwischen ewigem Leben und dem Tod, zwischen der Beziehung zu Gott und dem Verderben, zwischen der Fülle des Lebens und der Frucht- und Bedeutungslosigkeit. Keine Frage, wie die Wahl bei diesen Alternativen ausgehen wird.

Doch dass im Johannesevangelium die Alternativen vorgestellt und so klar benannt werden macht deutlich, dass die Entscheidung für Christus und das Bleiben am Weinstock auch zur Zeit der Abfassung des Evangeliums gegen Ende des 1. Jahrhunderts keinesfalls selbstverständlich war. Die Alternative, sich von der christlichen Gemeinde und damit von Christus abzuwenden, steht im Evangelium klar vor Augen und man muss annehmen, dass diese Alternative von einzelnen und vielleicht nicht nur von einzelnen tatsächlich gewählt wurde. Der beschwörende Tonfall des Evangeliums scheint tatsächlich nötig gewesen zu sein, damit die Mitglieder bei der Stange bleiben, oder, um in der Bildersprache des Predigttextes zu reden, damit die Reben am Weinstock bleiben und sich nicht selbständig machen.

Ein merkwürdiges Bild im Übrigen: Wo gibt es Weinstöcke, deren Reben die Wahl zwischen Bleiben und Weggehen haben? Das Bild ist schief. Einiges spricht dafür, dass der Verfasser des Evangeliums und nicht Jesus selbst dieses Bild entworfen hat. Die Bilder und Gleichnisse, die sicher von Jesus selbst stammen, wirken nie so gewollt und konstruiert wie das Bildwort vom Weinstock und den Reben.

Das Bild vom Weinstock und den Reben wirkt ein wenig bemüht, konstruiert und entworfen auf einen beschwörenden Appell zum Bleiben hin, entstanden wohl in einer Zeit als so manche des Bleibens überdrüssig wurden und sich davon machten. Sie waren skeptisch geworden gegenüber den klaren Alternativen und den hochgestimmten Worten der christlichen Gemeinde.

(2.) Die Skepsis vor zu klar aufgebauten Alternativen und das Unbehagen vor allzu hochgestimmten Überzeugungen ist uns Heutigen wohl vertraut. Zumeist überfällt uns ein mulmiges Gefühlt, wenn Menschen ihre Überzeugung sehr deutlich und lautstark vor sich hertragen. Die flammenden Bekenntnisse zu Saddam Hussein, geschrieben mit dem eigenen Blut kurz vor dem schon absehbaren Zusammenbruch des Regimes – sie wirkten abgeschmackt und aufgesetzt. Der zur Schau gestellte Fanatismus der Iraker dürfte bei uns bestenfalls Kopfschütteln wenn nicht gar Abscheu und Entsetzen über das Maß an Verblendung ausgelöst haben.

Auch wer seinen christlichen Glauben heute allzu aufdringlich präsentiert, wird kaum auf unseren Beifall hoffen dürfen: Jener Mann in der Fußgängerzone zum Beispiel, der mit einem Schild um den Hals herumläuft mit der Aufschrift: „Kindertaufe ist Teufelswerk“, erregt höchstens unser Mitleid. Und wenn wir das Riesengraffiti vor der Charlottenklinik hier um die Ecke sehen „Gott rettet Stuttgart“, dann klatscht wohl kaum einer Beifall. Die meisten werden wie ich hoffen, dass diesem Verwirrten, der jeden freien Fleck in der Gegend mit seinen Glaubensparolen besprüht, das Handwerk gelegt wird.

Die Begeisterungsfähigkeit für eine große Sache ist uns Deutschen ziemlich vergangen. Zu gewaltig und zerstörerisch war der Missbrauch, der im 20. Jahrhundert mit der Begeisterungsfähigkeit von Menschen getrieben wurde. Der „große Führer“ Adolf Hitler erwies sich als größter Massenmörder aller Zeiten. Er richtete ein nie da gewesenes Zerstörungswerk an. Seinen fanatisierten Anhängern brachte er Krieg, Tod und Verderben. Auch für kommunistische und sozialistische Visionen mag sich heute kaum mehr einer begeistern. Das Scheitern dieser Ideologien ist zu offensichtlich. Der Missbrauch, der mit dem guten Willen und der Gutgläubigkeit vieler in der DDR getrieben wurde, bestätigt unsere Skepsis gegenüber allzu klaren Alternativen und allzu irrealen Visionen. Ihre Menschenfeindlichkeit steht uns deutlich vor Augen. In Deutschland schütteln wir heute schon skeptisch den Kopf, wenn wir die Begeisterung der Franzosen für ihr Land oder die Bekenntnisse der Amerikaner zum amerikanischen Traum hören. So gründlich ist uns die Begeisterungsfähigkeit für eine große Sache ausgetrieben worden.

(3.) Aber was für Ziele bleiben übrig, wenn einem der Geschmack an den großen Zielen vergangen ist? Was erfüllt uns noch ganz, wenn jede Begeisterung missbraucht werden kann? Woran hängen wir unser Herz, was motiviert uns im Leben und treibt uns voran? Die Ziele, die sich die Menschen in unserem Land im Allgemeinen stecken, erscheinen merkwürdig klein und manchmal fast erbärmlich: Der Urlaub wird von vielen zum Höhepunkt des ganzen Lebens hochstilisiert. Der Urlaub muss für alles entschädigen, was einem im normalen Leben entgeht. Deshalb geben die Deutschen mehr als jedes andere Volk der Welt für den Urlaub aus. Der Urlaub muss das wahre Leben und die Erfüllung bringen. Und nach dem Urlaub lässt man sich scheiden. Ein Drittel aller Scheidungen in Deutschland, so stand es in diesen Tagen in einer Zeitungsmeldung, wird nach dem gemeinsamen Urlaub eingereicht. Ein misslungener Urlaub lässt sich kaum integrieren. Wer auf die Frage: „Wie war euer Urlaub?“, zur Antwort gäbe: „Schlecht!“, der würde als bemitleidenswerter Versager dastehen.

Das andere große Glücksversprechen, dem viele Menschen in diesem Land glauben und vertrauen, ist der Konsum, das Einkaufen. Dabei geht es heute nicht mehr ums schiere Haben und Besitzen. Der Kaufrausch wird heute verfeinert genossen. Viele von uns haben vom meisten schon zu viel. Wenn das Leben sonst öde ist, dann kommt alles auf das wahre „Shoppingerlebnis“ an. Das Einkaufen in der Innenstadt wird zum multimedialen Event mit Musik, Tanzgruppe, Kinderzirkus, Schlemmerbuffett und allen möglichen anderen Attraktionen. Der Einkauf verspricht Glück und Lebensfreude, Erfüllung und Zufriedenheit.

Arm dran sind diejenigen, die bei diesem Spiel nicht mithalten können. Unglück erscheint heute zumeist als ein Mangel an Kaufkraft. Und einzelne, die mit ihrem Kaufkraftmangel gar nicht zu Recht kommen, geraten in einen gefährlichen Strudel. Sie verschulden sich bis zum Ruin und zur völligen Aussichtslosigkeit. Wenn ein Vater seine ganze Familie auslöscht und wir davon völlig entsetzt in der Zeitung lesen, dann steckt häufig solch ein Verschuldungsdrama dahinter. Und auch der mutmaßliche Mörder des Bankierssohns Jakob von Metzler, dessen Prozess gerade läuft, wurde zu seiner scheußlichen Tat wohl dadurch getrieben, dass er mithalten wollte mit den Ansprüchen seiner Freundin und mit der Kaufkraft seiner Kommilitonen. Welch armseliges Lebensziel, welch erschütternde Konsequenz!

(4.) Zu den schärfsten Kritikern der modernen Shopping-Religion zählte die Hamburger Theologin Dorothee Sölle. Sie starb vor zwei Wochen im Alter von 73 Jahren in Göppingen und wurde am vergangenen Montag in Hamburg beigesetzt. Dorothee Sölle hatte einen besonders klaren Blick für die innere Armut der modernen Menschen, die ihr Glück nur im Urlaub oder beim Shoppingerlebnis suchen. Mit scharfer Zunge und oft überspitzer Polemik hat sie diese Gesellschaft angeklagt und ihr ihre Erbärmlichkeit und ihre damit einhergehende Erbarmungslosigkeit gegenüber den armen und rechtlosen Menschen auf dieser Erde vorgehalten. In der Nachfolge Jesu warb Dorothee Sölle für ein Leben jenseits des alles-haben-und-erleben-Wollens.

Zugleich jedoch hat Dorothee Sölle die Skepsis von uns modernen Menschen und gerade von uns Deutschen angesichts allzu optimistischer Visionen und Erwartungen geteilt. Dorothee Sölle verleugnete nie die Scheußlichkeit und die Niedertracht, zu der wir Menschen fähig sind. Sie rettete sich auch nicht in einen überschwänglichen Glauben daran, dass Gott am Ende alles gut machen werde und die Opfer menschlicher Bosheit irgendwo im Jenseits entschädigen werde. Dorothee Sölle lehrte eine Theologie nach Auschwitz, eine Theologie, die darum weiß, dass auch das Allerschlimmste möglich ist, die weiß, dass Gott manchmal auch dann nicht eingreift, wenn das Unrecht überlaut zum Himmel schreit.

Dorothee Sölle war von großer Skepsis und zugleich von großer Zuversicht erfüllt. Wahrscheinlich wurde sie deshalb zur meistgelesenen Theologin unserer Tage. Ein Gedicht von ihr aus den 60er Jahren bringt beides zum Ausdruck, ihre Skepsis und ihren großen Glauben:

Ich glaube wie sie das nennen nicht an gott
aber ihm verstehst du kann ichs schlecht abschlagen
ihm sieh ihn doch an im garten wenn ihm alle davon sind die freunde
ihm dem die angst vom gesicht läuft die spucke die sie ihm drauftun
ihm muss ich es glauben

Ihn kann ich nicht überlassen
der großen verachtung von leben
dem gleichgeschalteten ablauf der jahrmillionen
dem gleichstumpfsinnigen wechsel von arbeit erholung und arbeit
der kaum unterbrechbaren langeweile in autos in betten in läden

So ist es sagen sie mir was willst du
zögernd nicht ohne kritik
schließe ich mich der andern vermutung an
die seine geschichte ist
so ist es nicht sagte er denn gott ist
und er stand ein für diese behauptung

Nachdenkend finde ich man kann
ihn nicht allein
für seine vermutung
einstehen lassen
also glaube ich ihm gott

Wie man einem das lachen glaubt
oder das weinen
oder das heiraten das neinsagen
so wirst du lernen
ihm das allen versprochene leben
zu glauben

(Dorothee Sölle, Ich will nicht auf tausend Messern gehen. Gedichte, München 1986, S. 18)

Der Glaube, den Dorothee Sölle in ihrem Gedicht uns nahe bringt, ist kein überschwänglicher Glaube. Dieser Glaube hat sich verabschiedet von einem allzu festen Vertrauen auf Gottes Allmacht, verabschiedet von der Hoffnung, dass das Jenseits einen Ausgleich für die Mängel des Diesseits liefert. Ohne Zweifel ist dieser sehr brüchige Glaube vielen unter uns zu wenig und zu skeptisch.

Aber vielleicht ist gerade Dorothee Sölles skeptische Hoffnung heute, nach der Enttäuschung so vieler großer Visionen und nach dem erlebten unsäglichen Missbrauch menschlicher Begeisterungsfähigkeit besonders glaubwürdig. Auf ihre Art hält Sölle an der Verheißung Jesu vom Reich Gottes, von der Welt wie Gott sie will, fest. Dem gekreuzigten Christus, dem geschundenen Lehrer der Gerechtigkeit, des Erbarmens und der Liebe glaubt sie das allen versprochene Leben, das Gott verheißt. Auf ihre Art macht Dorothee Sölle darauf aufmerksam, welcher Reichtum darin liegt, an Christus als dem Weinstock zu bleiben und Frucht zu bringen. Wer zu Christus hält, dessen Leben, dessen Hoffen, dessen Lieben und Arbeiten steht in einem weiteren Horizont als dem der allzu erbärmlichen Ziel des Kaufens und des In-den-Urlaub-Flüchtens. Wer an Christus als dem Weinstock bleibt, der erlebt die Freude an den kleinen und großen Taten der Gerechtigkeit in dieser Welt. Wer an Christus bleibt, für den wird das Erbarmen, die Liebe, das Heilen von Wunden und das Überwinden von Hoffnungslosigkeit zu den großen Zielen des Lebens. Das Glück ist dann nicht nur das persönliche Glück, sondern auch das Glück des anderen, des Nächsten und auch das Glück des fernen Nächsten. Wer an Christus bleibt, der ist nicht allein, sondern ist Teil der Kirche, ein Teil der Gemeinschaft, die Jesus nachfolgt und in seinem Namen die Erde verwandelt.

Auf ihre Art nährt auch Dorothee Sölles zurückhaltend vorgetragene Vermutung, dass Gott ist, den Glauben daran, dass der Weg Jesu der Weg zum wahren, zum erfüllten Leben ist. Nicht überschwänglich, aber gerade deshalb für uns skeptische Menschen besonders überzeugend zeigt sie auf Christus als denjenigen, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Ihre Vermutung, dass Gott ist, verweist uns darauf, dass jenseits unserer oft viel zu kleinen und erbärmlichen Träume ein Leben mit Christus die Frucht des wahren, des erfüllten Lebens verheißt. – Amen.

Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer, Privatdozent
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
christoph.dinkel@arcor.de

 


(zurück zum Seitenanfang)