Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Jubilate (3. Sonntag nach Ostern), 11. Mai 2003
Predigt über Johannes 15, 1-8, verfaßt von Ulrich Haag
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Die Bibelforschung hat sich lange gefragt woran es liegt, daß die vier Evangelisten so unterschiedliche Aussprüche Jesu und so unterschiedliche Begebenheiten aus seinem Leben erzählen. Einer der Gründe dafür ist, daß die Evangelisten, während sie im Rückblick von Jesus berichteten, immer die Gegebenheiten ihrer eigenen Christengemeinde vor Augen hatten. Der Kreis der Jünger wurde ganz unwillkürlich so beschrieben, wie es zur eigenen Gemeinde paßte. Von den Worten Jesu wurden gerne die erinnert und aufgeschrieben, die der jeweiligen Gemeinde am meisten zu sagen hatten.

Die auffälligsten Unterschiede zu den übrigen Evangelien weist das Johannesevangelium auf. Auch der Abschnitt vom wahren Weinstock, der heute der Predigttext ist, ist ein Beleg dafür. Nirgends in den übrigen Evangelien findet sich dieses Bild vom Weinstock und den Reben noch. Und nirgends wird der Zusammenhang zwischen Jesus und seiner Jüngergemeinde so eng und durchdringend beschrieben wie hier. Ich bin der Weinstock, ihr die Reben - untrennbar verbunden. Ohne mich könnt ihr nichts tun und umgekehrt: Ohne euch wächst der Weinstock ins Leere.

In keinem anderen Evangelium allerdings herrscht auch eine derartige Enge. Bleibt in mir und ich in euch. Ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht bleibt der wird weggeworfen und muß im Feuer verbrennen. Das klingt nach Angst, jemanden loszulassen. Das klingt nach Panik, mit der jemand sich an einen anderen klammert. Wenn man es unvoreingenommen hört, klingt es nach dem Programm einer Sekte: Wer einmal dazu gehört, gehört immer dazu. Wer einmal dabei ist, kommt nicht mehr `raus. Es sei denn bei Gefahr für Leib und Leben – er „wird im Feuer brennen“ (Vers 6). In das Bild von der Sekte paßt auch, daß der Weinstock offenbar auf rasanten Zuwachs ausgelegt ist. Wer zum Jüngerkreis - sprich zur Gemeinde des Johannes gehört - soll Frucht bringen. Wir haben uns daran gewöhnt unter dieser Frucht des Glaubens gute Werke und ein aufrechtes Leben zu verstehen. Hier aber spricht vieles dafür, daß mit „Frucht bringen“ erfolgreiche Missionsarbeit gemeint war. Wer zur Gemeinde gefunden hatte und an den nächsten Sonntagen seinerseits ein neues Mitglied mit in den Gottesdienst brachte, der hatte Frucht gebracht. Dies war dann ein erstes sichtbares Zeichen dafür, daß man Kontakt zum Weinstock hatte, in Christus war, und Christus in der Betreffenden oder dem Betreffenden

Abgeschlossen nach außen, auf Zuwachs ausgerichtet, zugleich Kontrolle der Mitglieder nach innen, den Aussteiger oder den Ausstieg mit Verdammnis bedrohend - anders hätten die Gemeinde des Johannes vielleicht nicht überlebt. Der Druck, unter dem die Christen standen, war groß. Schon wurden in manchen Gegenden die Christen verfolgt, es hatte die ersten Märtyrer gegeben. Und je höher der Druck von außen ist, desto stärker wächst die Verbundenheit einer Gemeinschaft im Innern.

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer nicht in mir bleibt wird weggeworfen und wird im Feuer brennen! Die Evangelischen Landeskirchen des beginnenden dritten Jahrtausends sind keine Sekten, sondern eine sogenannte Volkskirche. Das heißt, sie sind für alles Volk da und allen offen. Die Kirche muß sich auch nicht gegen eine feindliche Umwelt zur Wehr setzten. Höchstens gegen eine ignorante. Mit ihrem Zugangsritual geht die Kirche nicht zurückhaltend um, sondern flächendeckend verschwenderisch. Die Taufe ist für sie ein Zeichen der freien Gnade Gottes, die jeden Menschen ansprechen will.

So läßt sich der Predigtabschnitt vom Weinstock mit der Wirklichkeit unserer Kirche an vielen Punkten nicht in Einklang bringen. Was tun?

Es gibt christliche Gemeinschaften, die lösen diesen Widerspruch, in dem sie das Rad zurückdrehen. In dem sie die Wirklichkeit ihrer Gemeinde auf das Prokrustesbett biblischer Texte werfen und alles abhacken, was übersteht. Es gibt christliche Gemeinschaften, die machen sich wieder zur Sekte, damit ihre Gemeindewirklichkeit mit der der alten biblischen Texte übereinstimmt.

Aber man muß nicht sektiererisch werden, um heutzutage als Christ leben zu können. Man muß keine Sekte gründen, um sich Kirche Jesu Christi nennen zu dürfen. Ich bin sicher, daß der Evangelist Johannes gejubelt hätte – was ganz nebenbei am Sonntag Jubilate auch angemessen gewesen wäre - wenn er die unbedrückte Freiheit und die Möglichkeiten, die die Kirche heute hat, mit eigenen Augen gesehen und erlebt hätte.

Eine Kirche, in der zunächst alles und jeder einen Platz hat, bedarf auf die Dauer der Unterscheidung, der Reinigung. Jesus stellt Gott als Weingärtner dar. Der pflanzt den Weinstock nicht nur, der kommt auch ein ums andere Mal, begutachtet das Gewächs und schneidet verdorbene Reben ab, damit die ganze Kraft und Süße in die gesunden Reben geht. Vielleicht ist das, was wir in der Kirche momentan erleben, eine solche Reinigung: Viele trennen sich von der Kirche und die Kirche trennt sich von vielem. Bei uns löst das Ängste aus. Für Johannes liegt auf dem Prozeß der Reinigung keine Bedrohung, sondern eine Verheißung: Der Weingärtner schneidet heraus, was nicht Frucht bringt. Das was bleibt, wird umso mehr Frucht bringen, den Willen Gottes überzeugender vorleben und seine Verheißungen lebendiger weitergeben.

Zählen wir am Ende dazu?
Oder werden wir im Laufe der Zeit auch herausgeschnitten?
Woran merke ich, daß ich überhaupt noch am Weinstock hänge? Wie erkenne ich, ob ich in Saft und Kraft stehe oder schon eine trockene, taube Rebe bin? Bin ich eine Rebe, die Frucht bringt?

Frucht bringen heißt landläufig Gutes tun und die Dinge zum Guten bewegen, effektiv sein, kreativ sein, was schaffen, fleißig und ertragreich - und vom eigenen Ertrag abgeben, was man erübrigen kann. Bei soviel „action“, Erfolg und Anerkennung gerät das Wort Jesu gerne in Vergessenheit: Ohne mich könnt ihr nichts tun.

Gegen diesen Satz sträubt sich etwas in mir. Nichts tun! Wieso! Bin ich heute morgen nicht etwa aus eigener Kraft aufgestanden? Habe ich mich nicht fertig gemacht und bin hierher gefahren, ohne daß Er mit am Steuer saß? Ohne mich könnt ihr nichts tun. Was sagen Mütter zu dem Satz, die Tag für Tag ihre Kräfte verschleißen? Was sagt der Bauarbeiter, der Schuster, Abteilungsleiter? Wächst deren Arbeit nicht zu allermeist auf ihrem eigenen Mist? Selbst beim Pfarrer gibt es eine ganze Menge weltliche „Verrichtungen", die er ohne Jesus tun kann. Oder?

Nach einer Vorstandssitzung des Diakonievereins nahm mich vor einiger Zeit ein Gemeindeglied beiseite, dessen Familie von jeher in der Kirche verwurzelt ist. „Wissen Sie eigentlich, Herr Pfarrer, daß ich vor einigen Monaten mein Amt als Vorsitzender um ein Haar niedergelegt hätte? Ich hatte das Gefühl, daß ich mit meinem Einsatz nichts mehr bewegen kann, nichts Nennenswertes jedenfalls. Als könne ich nur teilnehmen an einem großen, sich in sich selbst drehenden Mahlwerk, in dem sich das meiste wiederholt. Als wäre ich nur ein Rädchen in einem Getriebe aus geboren werden und sterben, aus Geld verdienen und essen, aus arbeiten und ruhen, aus lachen und weinen. Viel getan, aber nichts bewegt. Viel geplant, aber mit der Linken zerstört, was die Rechte aufgebaut hat. Leben verzehrt, um selbst zu überleben. Viel gemacht und gemüht, aber keine Frucht gebracht.

Erst dachte ich, daß Phantasie und Inspiration nachlassen, hat mit dem Alter zu tun. Durch eine kleine Bemerkung bin ich darauf aufmerksam geworden, woran es wirklich lag. Es passiert wohl jedem hin und wieder, daß ihn etwas vom Beten wegtreibt. Nicht nur Alltagsstreß oder beruflicher Druck. Viel gefährlicher sind Zeiten des Erfolgs und des Hochgefühls. Und wen die Strömung einmal mitgenommen hat, hat einen mühsamen und langwierigen Rückweg vor sich. Nach einer langen Zeit ohne Worte kam damals dann ein Anstoß von Außen - worin er bestand, muß ich Ihnen gar nicht erzählen. Aber ich begann, das Gespräch mit Gott wieder aufzunehmen, mühselig, in kleinen Schritten. Vorher kam ich mir vor wie ein Spielball fremder Ansprüche und eigener Pläne. Das was ich tun mußte, was ich vorhatte, was man von mir erwartete, was ich erreichen wollte schien mir wie ein chaotisches Gewirr, in das ich verstrickt war, ohne etwas Entscheidendes tun zu können. Aber seit ich wieder angefangen habe, das vor Gott auszubreiten, was mich belastet, das, was ich mir wünsche, wofür ich dankbar bin, löst sich das wirre Netz allmählich. Es ist, als wickele ich einen Faden nach dem anderen auf. Ich habe in der Zwischenzeit viele ehrgeizige Pläne losgelassen, Gott überlassen. Und trotzdem stellt sich bei mir wieder das Gefühl ein, daß mein Leben zielgerichtet ist. Daß das, was ich tue, einen Zusammenhang hat. Es hat teil an einem großen Ganzen, das auf ein bestimmtes Ziel hinläuft. Es ist paradox: Je mehr ich Gott überlasse, je öfter ich bitte, je einfacher und ehrlicher die Dinge sind, für die ich danke, desto mehr kommt es mir vor, als könnte ich etwas tun.“

Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch, werdet ihr beten und was immer es ist, es wird euch widerfahren. Dieser Vers vom Gebet ist für mich das Ziel der Weinstockrede. So wie Weinstock und Rebe in einem lebendigen Austausch stehen, so auch der Mensch und Gott im Gebet. Und je intensiver dieser Austausch ist, desto kräftiger wird die Frucht.

Gehöre ich dazu? Bin ich noch eine Rebe am Weinstock Jesu? Man muß nicht einer Sekte beitreten, um gemäß der Worte Jesu zu leben. Ich muß auch keine sozialen Höchstleistungen abliefern. Der mühselige und fruchtbare Schritt ist noch immer die eigene Umkehr: Gegen allen Stolz, gegen alle Scheu und alle anderen Einwände dem Herzen einen Stoß geben und mit einfachen, kurzen Sätzen das Gespräch beginnen.
Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Bleibt ihr in mir und ich in euch, so bringt ihr viel Frucht.

Amen.

Gebet

Gott, wir bitten dich für die Menschen,
die aus unserer Gesellschaft herausgeschnitten werden,
wie Reben aus dem Weinstock:
Arbeitslose, Obdachlose, Asylsuchende und Kranke,
die, die gescheitert sind
und die, die nicht mehr können.

Wir bitten dich für unser Land,
daß es uns gelingt,
es zu einem blühenden Gemeinwesen zu machen,
in dem ausnahmslos jeder Frucht bringen kann,
wie an einen überreichen Weinstock.

Wir bitten dich für unsere Kirche,
daß du sie reinigst,
damit sie Frucht bringt,
aber daß du barmherzig mit ihr verfährst.

Pfarrer Ulrich Haag, Aachen
E-Mail: haag@ekir.de

 


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