Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Pfingstsonntag, 8. Juni 2003
Predigt über Johannes 14, 23-27, verfaßt von Gerhard Sauter
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"Der Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe."

Haben auch Sie gestutzt, als Sie das hörten? Ist unser Gedächtnis so schlecht geworden, daß wir an Jesu Worte erinnert werden müßten? Viele von uns klagen ja darüber, daß ihr Erinnerungsvermögen einem Sieb gleicht, das nur noch das Gröbste festhält und vieles Wichtige früher oder später durchschlüpfen läßt und dann ist es auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Was haben wir behalten von dem, was Jesus vor so langer Zeit gesagt hat und das wir irgendwann, irgendwo vernommen haben? Was von alledem haben wir wirklich behalten, statt uns nur so obenhin von ihm berühren lassen? Was hat sich wirklich in unser Gedächtnis eingeprägt, so unauslöschlich, daß wir davon nie, nie mehr loskommen, daß wir davon gehalten werden, auch wenn sich anderes eindrängen und Jesu Worte verdrängen wollte, ja nicht nur vorgehend verdrängen, sondern ganz und gar ausmerzen, was Jesus uns gesagt hat?

Vielleicht haben wir das eine oder andere Jesuswort ins Herz geschlossen, einen fettgedruckten Satz in der Bibel oder einen Kernspruch, den wir an die Wand hängen oder der uns sonstwie vor Augen steht - ein Wort, das immer wieder auftaucht, wenn wir es brauchen, damit wir uns daran halten und uns von ihm tragen lassen können. Etwa die unerschöpfliche Liebe, von der Jesus im Evangelium des Johannes wieder und wieder und in immer neuen Wendungen spricht, auch in dem Pfingstevangelium, das wir eben hörten: "Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden kommen und Wohnung bei ihm nehmen." Oder im Kapitel zuvor heißt es: "Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe ..." (13,34). Die Liebe Gottes, die Jesus verkörpert: Wer könnte dies jemals vergessen, wenn er es erst einmal in sich aufgenommen hat? Und doch wiederholt Jesus sein Gebot wortwörtlich zwei Kapitel später (15,12), so, als müsse er fürchten, es könnte inzwischen dem Gedächtnis der Jünger entschwunden oder von anderen Worten überlagert worden sein. Das göttliche Liebeswort ist so weit gespannt und birgt so viel in sich, so unermeßlich viel, daß alles damit gesagt zu sein scheint, wirklich alles, was wir von Gott und von Jesus Christus sagen können. Dieses Liebes-Wort ist wie eine Quelle, die wir gar nicht gedächtnismäßig anzapfen müssen, ein überströmender Lebensquell, der uns unablässig speist, ob wir es nun immer merken oder nicht. "Der Geist, der euch an alles erinnern wird, was ich euch gesagt habe": Er könnte uns helfen, diese Fülle zu ermessen - er könnte uns stützen und beistehen, wenn wir nur kleinlich zu glauben, zu hoffen und zu lieben vermögen - er könnte uns trösten, wenn wir meinen, nur das eine oder andere Wort Jesu würde für uns gelten, ansonsten wären wir auf uns selber gestellt und allein gelassen.

Wir ahnen: Der Geist, der an alles erinnert, was Jesus gesagt hat, erschöpft sich nicht darin, unsere Erinnerung wieder aufzufrischen. Wenn unser Bibelgedächtnis kümmerlich sein sollte - es gibt Mittel genug, dem abzuhelfen. Dazu bedarf es des Geistes nicht, sondern des Griffes in den Bücherschrank oder, wenn es noch rascher gehen soll, auf eine Liste im Computer. Vielleicht gibt es da schon eine Datei zum Abrufen: "Gesammelte Jesus-Worte: alles, was Jesus gesagt hat, was er unzweifelhaft sagte, was er angeblich gesagt haben soll - und einige unbekannte Jesusworte noch dazu!" Eine Gedächtnisstütze anderer Art könnten unsere Gottesdienste sein. Auch wenn sie nur dazu dienen sollten, daß wir unablässig hören, was Jesus uns wirklich und wahrhaftig gesagt hat, dann wären sie schon allein deshalb unverzichtbar. Trotzdem können sie unerhört geistlos sein, so schöngeistig sie auch anmuten mögen oder wenn sie so geistreich eingerichtet sind, daß sie unsere Aufmerksamkeit fesseln und möglichst lange in guter Erinnerung bleiben wollen.

Der Heilige Geist, dessen Kommen Jesus uns verheißt, will nicht unseren müden Erinnerungen wieder einmal auf die Sprünge helfen oder unsere Gedächtnislücken schließen, auch wenn er sich manchmal nicht zu schade ist, sogar das zu schaffen, Gott sei Dank! Doch es ist gar nicht unser Erinnerungsvermögen, auf das es hier entscheidend ankommt. Wenn Gott ins Gedächtnis ruft, dann ruft er ins Leben. Sein Gedenken errettet vom Vergehen. Wessen er gedenkt, das bleibt, unvergänglich: Gottes Verheißungen, die Wundertaten, deren Gedächtnis er stiftet, ein Menschenleben, das er vom Tode errettet, Worte wie die Worte Jesu, die von Gott kommen und für deren Bestand er selber einsteht. Und wen Gott erinnert, dem schenkt er Anteil an seinem lebenschaffenden Gedenken. Wenn Gottes Geist zu uns kommt, dann zieht er uns in Gottes ureigenes Gedenken hinein und läßt uns nicht mehr los. Er ruft uns nicht bloß etwas in Erinnerung, was dort aufbewahrt wäre und nur wieder hervorgeholt werden müßte, vielleicht ein wenig verschlafen oder verstaubt, weil es schon viel zu lange dort schlummerte. Wenn Gott selber erinnert, dann greift er in unser Gedächtnis ein. Sein Geist animiert nicht, damit wir aus unserem Trott herausgelockt und in Schwung gebracht werden. Er gibt uns Leben: das Leben, das in Gott bewahrt bleibt und das Gottes Wirken Raum läßt.

Vielleicht mögen Sie längst gedacht haben: Wie lange redet der da vom Heiligen Geist? Wann werden wir ihn erleben, so wie die Volksmenge damals zu Pfingsten, wann endlich werden wir seinen Hauch spüren, wann wird er wie ein Wirbelwind auch durch unsere Kirche fahren, so heftig, daß alles Morsche und Hinfällige hinweggewirbelt wird? Wann wird er dieses Gotteshaus durchwehen, so sehr, daß die Türen aufspringen und wir mit ihnen, um uns begeistern zu lassen, womöglich gar außer uns geraten? - Ja, dergleichen erwarten wir vom Geist Gottes, weil wir ihn uns so oder ähnlich vorstellen können. Aber erwarten wir wirklich ihn selber? Mit allen seinen Überraschungen, vielleicht nicht ohne tiefe Erschütterung und fassungsloses Staunen, weil er Raum finden will - anders, als wir ihm Raum geben möchten und von uns aus Raum geben können!
Erstaunlicherweise, ja unerwartet und quer zu solchen Vorstellungen vertraut Jesus dem "Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen" an, uns zu lehren und uns gerade dadurch an alle seine Worte zu erinnern. Als ob diese Worte nicht sonnenklar wären, als ob wir sie nicht schlicht und einfach begreifen könnten, wenn wir sie nur auf uns wirken lassen! Doch lehren können wir uns nicht selbst, jedenfalls nicht so, wie der Geist uns lehrt. Wir können nicht uns selber sagen, was er uns sagen will. Wir sollen gelehrt werden, was alles in Jesu Worten enthalten ist und was sie uns mitteilen; es soll uns so erschlossen werden, daß wir es in seiner ganzen Weite und Tiefe aufnehmen können. Gute Lehre bleut ja nicht etwas ein. Sie macht uns so aufmerksam, daß wir etwas, das wir neu vernehmen oder was uns aufgezeigt wird, mit alledem verbinden, was wir bereits lernen konnten und worin wir meinen, schon geübt zu sein. Gottes Geist will uns bei allem begleiten, was wir wahrnehmen, überall hin, wo uns etwas angeht und andrängt. Mehr noch: Gottes Geist durchdringt unsere Wahrnehmung. Hier will er eintreten und hier will er mit uns zu tun bekommen: mit allem, was wir erlebt und erlitten haben, mit allem, was in unsere Erinnerung schon eingegangen ist und noch in sie eingehen wird, auch mit allem, was uns entschwunden scheint und das dann doch unvermutet wieder auftauchen mag. Er läßt sich auf unser ganzes gelebtes Leben ein und läßt sich darin ein, weder als momentaner Geistesblitz noch als Dauerbrenner, den wir größer oder kleiner drehen können, je nach Bedarf. Als prüfende, reinigende, heilende Gotteskraft dürfen wir ihn erwarten, nichts weniger als Befreiung sollten wir von seinem Kommen erhoffen.

"O Heiliger Geist, kehr bei uns ein und laß uns deine Wohnung sein ...": so haben wir gesungen. Jetzt schauen wir uns ein wenig in dieser Behausung um und in dem, was Gottes Geist hier antreffen dürfte!

Was dieser Geist von Jesu Worten erinnert, trifft auf unsere Erinnerungen. Wenn er bei uns einkehrt, kehrt er in unser Gedächtnis ein. Zwar ist dieses nur ein Teil des Gehirns, aber wenn es beschädigt wird oder verkümmert, beeinträchtigt das nicht bloß einen Bestandteil unseres Körpers, sondern gefährdet unser ganzes Selbst. Ohne Gedächtnis wären wir orientierungslos. Doch wer steuert unser Gedächtnis? Diesen riesigen Lagerraum mit unermeßlicher Speicherkapazität für Wesentliches und Unwesentliches, Gutes und Böses, Verarbeitetes und Unverarbeitetes, Ordnendes und Verwirrendes, Aufbauendes und Zerstörendes, Hoffnungen und Enttäuschungen, Glücksmomente und lastendes Leid! Während manches Unglück früher oder später vernarbt und allmählich vergessen wird, können böse Erinnerungen sich einnisten und wie ein Krebsgeschwür wachsen. Das Gedächtnis kann eine Schatzkammer sein, es kann aber auch zur Schreckenskammer werden, und meistens ist es eine Mischung aus beidem. Wie weit können wir in es hineinleuchten, um dieses oder jenes hervorzuholen und es wieder abzulegen, wenn wir es nicht mehr wahrhaben wollen? Öfter erscheint es uns wie ein Labyrinth, in dem wir uns verlaufen und aus dem kaum mehr herausfinden, weil uns an jeder Ecke eine neue Biegung erwartet, die uns vielleicht in eine Richtung zwingt, die wir gar nicht einschlagen möchten, weil uns da manches erwartet, mit dem wir lieber nichts zu tun haben möchten. Und bald merken wir, daß wir längst nicht über alles das verfügen, was in unserem Gedächtnis bewahrt wird, was wir dort aufbewahrt wissen wollten oder was sich dort ohne unser Wissen und Wollen niedergelassen hat. Unser Gedächtnis beherrscht uns mehr, als es uns lieb ein könnte. Es entläßt Erinnerungen, die wir für längst erledigt hielten, und läßt ihnen - wie es scheint - freien Lauf.

Das Gedächtnis läßt uns auch an den Erinnerungen anderer teilnehmen. Es vernetzt, was uns gemeinsam ist oder uns gemeinschaftlich angehen sollte. In den letzten Jahren ist diese Gedächtniskraft mehr und mehr beansprucht worden. Gedenktage häufen sich, Ausstellungen vom Wirken großer geschichtlicher Gestalten und von kulturträchtigen Hinterlassenschaften haben größten Zulauf, es gibt inzwischen Museen für fast alles und jedes, von der Wiege bis zur Bahre; allein in Bayern sind es 1200. Für dies alles ist das Etikett "Gedächtniskultur" in Mode gekommen. Doch dieses schönklingende Wort verdeckt die tiefen Auseinandersetzungen, die sich hier abspielen, es überdeckt den Streit um das, was wirklich gewesen ist, und es verschweigt auch die Manipulationen, die dabei eingesetzt werden. Kürzlich war in den Kinos der Film "Good bye, Lenin" zu sehen, hochgelobt von der Kritik und auch von vielen Politikern: das Märchen von einer Frau, die im Koma liegt, während die Berliner Mauer fällt. Die Kranke wacht erst nach Wochen auf. Inzwischen ist so vieles grundstürzend anders geworden, aber niemand kann ihr zumuten, dieses andere zu begreifen und zu ertragen. Ihre Kinder machen ihr weis, die DDR habe sich für den bankrotten Westen geöffnet und könne nun die Segnungen des Sozialismus unbegrenzt verbreiten. Was Sohn und Tochter der Mutter vorgaukeln oder ihr sogar mit optischen Tricks vor Augen stellen, das ist die DDR, wie sie sich diesen Staat gewünscht haben. So gesteht es der Erzähler an einem kritischen Punkte selber ein. Wieweit trägt ein solcher Film zur Schönfärberei, ja zur Geschichtsverfälschung bei? Er ist eine Art Vergangenheitsbewältigung, die endlich auch einmal die Schokoladenseite ins Bild setzen möchte, mit Spreegurken und Rotkäppchensekt, oder wenigstens das, worüber verständnisvoll geschmunzelt werden kann, nicht immer nur die Schwierigkeiten, von denen viele nichts mehr ungeschminkt wahrhaben wollen, sondern auch die Gemeinschaft, die sich unter schwierigen Umständen bewährte. - Was stellt die Gedächtniskultur mit unserem Gedächtnis an? Was kann sie uns versprechen?

"Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung": so steht es am Ausgang von Yad Vashem eingemeißelt, der Jerusalemer Gedächtnisstätte für den Holocaust. Anders übersetzt: "Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung." Viele werden diesem Spruch zustimmen, auch aus eigener Erfahrung, oder sie möchten wenigstens seine Hoffnung teilen. Erinnerung kann jedoch auch die giftige Wurzel der Verbitterung sein. Erinnerung vermag heilsam zu öffnen, sie kann die Bereitschaft wecken, Schlimmes nicht wieder geschehen zu lassen. Sie kann aber auch Unheil einlassen. Steht das eine mehr in unserer Hand als das andere?

Wenn Gottes Geist kommt, um uns an alles zu erinnern und zu lehren, was Jesus gesagt hat, dann geht dieses "alles" Sämtliches an, was in unserem Gedächtnis vor sich geht. Nichts von dem persönlichen und dem gemeinschaftlichen Gedächtnis ist davon ausgenommen: nichts von dem, das hier aufbewahrt wird, das sich hervorrufen läßt oder das sich ungerufen von selber meldet. Der Geist ruft ins Gedächtnis, daß das Wort Jesu immer schon dabei war, auch unausgesprochen. Vielleicht wird der Geist einem jedem, einer jeder von uns zu bestimmten Erinnerungen ein bestimmtes Wort zu sagen haben. Womöglich ist es ein scharfes Wort, das Wunden aufreißen muß, um heilen zu können. Oder der Geist wird sich äußern, indem er das heillose Durcheinander in unserem Gedächtnis so ordnet, daß es auf alles ausgerichtet wird, was Jesus uns im Namen Gottes zugesagt hat. Wenn Gott will, wird der Geist uns ein Vergessen schenken, das nichts einfach wegwischt. Vielmehr hebt er eine untragbare Last auf, weil sie zu Gottes Sache geworden ist. Vielleicht werden wir - und sei es nur für einen erlösenden Moment - dessen inne, daß ohne Gottes Geist die Millionen Impulse, die unseren Geist bilden, ein rettungsloses Chaos wären. Ohne Gottes Geist gibt es keine wirklich tragfähigen Zusammenhänge unseres Lebens, keine begehbare Brücke von der Vergangenheit zur Zukunft. Vor allem gibt es ohne den Geist Gottes keinen Neuanfang, der nicht von vornherein schon an unsere Erinnerungen gefesselt wäre, so sehr wir uns auch anstrengen, uns davon zu lösen.

Jesus verheißt, daß Gottes Geist zu uns kommt. Dasselbe sagt er mit anderen Worten, wenn er uns seinen Frieden hinterläßt: "Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch." Es ist der Friede, der unser Gedächtnis mit Gottes Gedenken versöhnt und der uns auch mit unseren Erinnerungen versöhnt. Sie sind zu Gottes Sache geworden, ohne daß unser Gedächtnis dabei abhanden käme. So tritt Gott uns ganz nahe. Er wartet nur noch auf unsere Bitte: "Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist, besuch das Herz der Menschen dein" - tritt ein in unser überfülltes und doch so armes Gedächtnis, heile seine Zerrissenheit, erfülle es mit deinem Frieden, den ihm niemand schenken kann denn du allein.

Prof. Gerhard Sauter
Universität Bonn
g.sauter@uni-bonn.de


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