Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juni 2003
Predigt über Lukas 16, 19-31, verfaßt von Stefan Knobloch
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Todeszonen

Was für eine Geschichte hören wir da im Evangelium! Sie hat die Menschen wohl schon immer auf eigenartige Weise berührt, obwohl sie sich – wie manche andere Texte – nur im Lk-Evangelium und nicht bei Matthäus, Markus oder Johannes findet. Was ist Jesus mit dieser Geschichte eingefallen? Worauf zielt sie ab?

Um das herauszubekommen, müssen wir auf den größeren Zusammenhang achten, in den sie im Lk-Evangelium hineingestellt ist. Vorausgeht, daß sich die Pharisäer über Jesu Warnung vor dem Mammon lustig machten. Sie fanden seine Warnung offenbar erheiternd und schienen Jesus wegen seiner weltfernen Naivität, was die Bedeutung des Geldes anging, auszulachen. „Sie hingen,“ so sagt es unser Evangelium, „sehr am Geld.“

Gewiß war das nicht das einzige, was an ihnen auffiel, was man ihnen nachsagen konnte. Sie fielen unbestritten noch mehr durch ihre Gesetzestreue und ihre Gewissenhaftigkeit gegenüber dem Gesetz auf. Darauf nimmt in der Tat ein weiterer Satz – unmittelbar vor unserer Lazaruserzählung – Bezug. „Bis Johannes“ – gemeint ist Johannes der Täufer – „hatte man nur das Gesetz und die Propheten.“ Das soll heißen, bis zum Auftreten des Johannes des Täufers und seiner Botschaft folgten die Pharisäer gewissermaßen dem Kielwasser des Gesetzes und der Propheten. Doch dann – ab Johannes dem Täufer – verpaßten sie den Kurswechsel. Sie blieben bei ihrem alten Kurs, obwohl jetzt etwas anderes galt: „Seitdem wird das Evangelium vom Reich Gottes verkündet und alle drängen sich danach, hineinzukommen.“ Dabei geht es – so immer noch im unmittelbaren Vorfeld unserer Erzählung – im Evangelium vom Reich Gottes nicht um das Ende aller Gesetze und ihrer Befolgung, sondern um ihre eigentliche und wahre Erfüllung. Die Pharisäer aber betrieben und lehrten einen Umgang mit dem Gesetz, daß dieser Umgang einer Verführung der Leute gleichkam, einer Anleitung, falsche und verfehlte Wege einzuschlagen (vgl. Lk 17,1).

In diesen größeren Zusammenhang ist nun die Erzählung vom reichen Mann und vom armen Lazarus hineingestellt. Es handelt sich – wie man annimmt – um eine Erzählung, die Jesus in ihrer Grundstruktur bereits vorfand. Eine Erzählung, ein Gleichnis, das im Volk längst tradiert und erzählt wurde.

Warum also griff Jesus diese Erzählung auf? Und welche Aussage sollte mit ihr verbunden sein? Blicken wir auf sie selbst. Obwohl sie uns sehr bekannt vorkommen dürfte, lassen sich an ihr gelegentlich übersehene Aspekte aufzeigen. Da fällt als erstes schon die Besonderheit auf, daß in diesem Gleichnis eine fiktive Person, nämlich dieser Arme, einen Namen erhält: Lazarus. Ein ganz einmaliger Fall, und man meint annehmen zu dürfen, daß in diesem Namen der griechische Wortstamm für „Leben“ erkennbar ist. Lazarus wäre dann die Bezeichnung für den, der lebt, der am Leben Anteil hat.

Das scheint nun zuerst ganz und gar nicht auf ihn zu passen. Denn er vegetiert hungernd und mit Geschwüren übersät vor sich hin. Obendrein lecken die streunenden Hunde an seinen Wunden – ekelerregend. Das war kein Leben. Er stirbt und wird – wie es heißt – von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Ein ganz archaisches Bild, das die Erzählung als älter als Jesus ausweist. Auch der Reiche stirbt. Er endet ebenso, wie Lazarus, in der „Unterwelt“. Wir begegnen hier der Vorstellung, nach der die Unterwelt sowohl der Aufenthaltsort der Gerechten wie der Ungerechten war, allerdings dabei – wenn man so sagen will – eingeteilt in unterschiedliche Zonen und Regionen, die nicht überbrückbar waren. Lazarus ruht im Schoße Abrahams. Das konnte sowohl heißen, daß er mit ihm beim Mahl der Seligen weilte, als auch, daß er mit ihm selige Gemeinschaft pflegte. Außerdem galt der Schoß Abrahams als Ort angenehmer Kühle. Lazarus stand also an diesem Ort frisches erquickendes Wasser zur Verfügung.

Der Reiche entdeckt aus seiner Zone der Unterwelt Lazarus und richtet – wie gehört – an Abraham die Bitte, Lazarus möge ihm Wasser, etwas Erfrischung zukommen lassen. Das aber geht nicht. Hier nimmt die Erzählung eine überraschende Wende. Der Reiche denkt nun mit einem Mal nicht mehr nur an sich, sondern an seine noch lebenden Brüder. Man möge sie doch warnen. Die Antwort Abrahams darauf lautet: „Sie haben Mose und die Propheten, auf sie sollen sie hören.“

Man hat den Eindruck, daß hier Jesu eigene Ausformung der Erzählung einsetzt, die ursprünglich wohl nicht dazugehörte, nämlich der Verweis auf Mose und die Propheten. In diesem Erzählmoment nimmt die Erzählung Bezug zur – wie man sagen könnte – „Philosophie“ der Pharisäer, für die Mose und die Propheten die tragende und verbindliche Basis ihres Lehrens darstellten. Wenn es allerdings dabei heißt, auf ebendiese sollten die Pharisäer hören, dann ist daraus die Kritik herauszuhören, daß sie genau das nicht wirklich taten. Sie orientierten sich eher nicht an Mose und den Propheten, sondern lieber – verkürzt und pointiert gesagt – am Geld. Mit dieser Kritik an den Pharisäern könnte die Erzählung im Munde Jesu geendet haben.

Was dann noch folgt – als weiteres, offenbar noch einmal neues Versatzstück – stammt wohl erst von der jungen christlichen Gemeinde, die die Erfahrung des Todes und der Auferstehung Jesu gemacht hatte, nämlich die insistierende Bitte des Reichen und seine Begründung: Wenn einer von den Toten käme, würden die Leute – konkret seine fünf Brüder – sich bekehren. Hier finden wir exakt jenen Begriff verwendet, in dem sich die Antwort der Menschen auf Jesu Botschaft vom Reich Gottes verdichten sollte, nämlich nachdenklich zu werden, umzudenken und von einer ängstlich-strengen Gesetzesbefolgung sich zum öffnenden Ruf in das Reich Gottes zu bekehren. Die abschließende Antwort des Abraham liest sich wie eine Ohrfeige für die Pharisäer: Sie glaubten deshalb nicht an die Auferstehung Jesu, weil sie nicht auf Mose und die Propheten zu hören in der Lage waren. Wären sie nämlich wirklich in der Schrift zu Hause, dann wäre ihnen der Glaube an den Auferstandenen aus der Schrift heraus aufgegangen. Dieser Abschluß einer ursprünglich eigenständigen Lazaruserzählung macht auf seine Weise deutlich, welche Sicherheit die junge christliche Gemeinde mit der Zeit gegenüber dem pharisäischen Judentum gewonnen hatte.

Zurück zu unserer grundlegenden Frage: Worum geht es in dieser urtümlichen, aber dann christlich-christologisch überformten Lazaruserzählung? Warum ist sie in den Corpus des Lk-Evangeliums aufgenommen worden? Offensichtlich deshalb, weil es dem gesamten Evangelium um den Transport des Glaubens an den Auferstandenen ging. Darauf konzentrierte sich das zentrale Interesse, und nicht etwa auf den Unglauben der Pharisäer. Zum anderen aber auch deshalb, weil das gesamte Lk-Evangelium im Rahmen der Reich-Gottes-Botschaft deutlich einen Akzent auf das Soziale legte. Es verrät durchgehend eine sensible Aufmerksamkeit für sozial Benachteiligte und arme Schlucker. Da bot sich die Lazaruserzählung wie von selbst an, in das Evangelium aufgenommen zu werden.

Auch wir sollen aus diesem Evangelium beides heraushören. Zuerst wieder die Ansage des Reiches Gottes, die in der Auferstehung Jesu ihre nicht mehr überbietbare Sicherheit erhalten hat. Diese Ansage darf uns nie – vor dem gewiß deutlichen Appell an unsere Verantwortung gegenüber den „Lazarussen“ unserer Tage – aus dem Blick geraten. Denn sie stellt die Basis, die eigentliche Begründung unserer sozialen Verantwortung dar.

Wie aber sollen wir ihr gerecht werden? Wie sollen wir sie in die Trat umsetzen? Hier sind die Möglichkeiten so vielfältig, daß es schon beinahe schwerfällt, sich zu orientieren. Wer von sich aus keinen so geschärften Blick für akute soziale Probleme hat, der möge sich gelassen auf die Aufrufe und Aktionen der kirchlichen Initiativen wie Misereor, Adveniat, Missio, Brot für die Welt einlassen. Darüber hinaus aber gilt es – auf dem Niveau eines normalen Zeitungslesers - , sensibel zu werden für die Vorkommnisse und Ereignisse, über die die Medien berichten. Manchmal allerdings auch nicht berichten, weil sie keiner Meldung wert zu sein scheinen. Bebt irgendwo die Erde – und nur zu oft erreichen uns von den geologischen Nahtstellen der Erde die Bilder des Chaos mit Hunderten, manchmal Tausenden von Opfern – so sollen wir uns vom Elend der Überlebenden, die von einer Sekunde zur anderen ihre Existenzgrundlagen verloren haben, zur Solidarität aufrufen lassen. Es kommt allerdings auch vor, daß uns manche Vorgänge nicht hinreichend und in ihren komplexen Zusammenhängen vermittelt werden, so daß wir uns nicht zur Hilfe aufgerufen sehen. Zum Beispiel, als es in Uganda/Ruanda 1997 zu diesen furchtbaren Gemetzeln – einem Genozid – zwischen Hutus und Tutsis kam. Oder als es im Frühsommer des vergangenen Jahres zu einer ähnlichen Eskalation der Gewalt und des Mordens im nordöstlichen Kongo kam, zwischen den Stämmen der Bahemas und der Walendus.

In solchen Fällen geht es nicht allein darum, durch Geldspenden zu helfen. Es geht auch darum, in zivilgesellschaftlicher Verantwortung zum Beispiel Unterschriftenaktionen zu starten bzw. zu unterstützen, die an entsprechende Institutionen – in den genannten Fällen zum Beispiel an die UN bzw. ihren Generalsekretär – zu richten wären.

Hier geschieht schon viel, aber vielleicht sind wir insgesamt noch etwas zu träge. Wir sollten – um unser Evangelium etwas abzuwandeln – „auf Mose und die Propheten hören“, sprich, auf die globalen und lokalen Herausforderungen unserer Zeit, weil wir der Überzeugung sind, mit dem Auferstandenen die Todeszonen dieser Welt überwinden zu sollen.

Prof. Dr. Stefan Knobloch
stefan.knobloch@kapuziner.org


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