Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

2. Sonntag nach Trinitatis, 29. Juni 2003
Predigt über Lukas 14, 16-23, verfaßt von Ulrich Braun
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Vi er røde, vi er hvide
oder: Großer Tag und letztes Aufgebot
(1)

(1) „Vi er røde, vi er hvide, vi stor sammen sid om side“ ist der Schlachtgesang der dänischen Fußballfans, die darin ihre Landesfarben und die ihrer Mannschaft feiern. Zu deutsch hießt die Zeile: Wir sind rot, wir sind weiß, wir stehen zusammen Seit an Seite.

Predigttext:

"Er aber sprach zu ihm: Es war ein Mensch, der machte ein großes Abendmahl und lud viele dazu ein. Und er sandte seinen Knecht aus zur Stunde des Abendmahls, den Geladenen zu sagen: Kommt, denn es ist alles bereit!

Und sie fingen an alle nacheinander, sich zu entschuldigen. Der erste sprach zu ihm: Ich habe einen Acker gekauft und muss hinausgehen und ihn besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der zweite sprach: Ich habe fünf Gespanne Ochsen gekauft und gehe jetzt hin, sie zu besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der dritte sprach: Ich habe eine Frau genommen; darum kann ich nicht kommen.

Und der Knecht kam zurück und sagte das seinem Herrn. Da wurde der Hausherr zornig und sprach zu seinem Knecht: Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen, verkrüppelten, Blinden und Lahmen herein.

Und der Knecht sprach: Herr, es ist geschehen, was du befohlen hast; es ist aber noch Raum da. Und der Herr sprach zu seinem Knecht: Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie, hereinzukommen, dass mein Haus voll werde."

Liebe Gemeinde!

Nur eines ist ärgerlicher, als eine einmalige Chance zu verpassen: sie durch eigene Schlurigkeit zu versäumen. Weil man ihre Einmaligkeit vielleicht nicht bei Zeit erkannt hat, weil man gemeint hat, es würde damit noch seine Weile haben und es würde sich schon noch die ein oder andere Gelegenheit bieten. Dann aber kommt sie nie wieder und man sieht: verpasst! Aus und vorbei, die Chance kommt nicht wieder.

Vielleicht deshalb, weil mir das Gefühl verpasster Gelegenheiten geläufig ist, vermag ich mich von denen, die nun nicht mehr zum großen Abendmahl gelangen sollen, nicht so leicht loszureißen. Obwohl sie im Rahmen des erzählten Gleichnisses gar kein übermäßiges Bedauern zeigen, tun sie mir Leid. Ginge es um irgendeine Einladung, wäre ich leichter mit dem Sprichwort bei der Hand „Des einen Leid, des andern Freud“.

Dass aber das Reich Gottes, nennen wir es vorläufig die ewige Freude, auf anderer Leute Leid errichtet sein soll, stört das Bild. Und von nicht weniger als vom Reich Gottes will das Gleichnis bildhaft berichten. Es zu verpassen – auch noch durch eigene Schlurigkeit – ist nicht nur das Ärgerlichste überhaupt. Es ist wohl der Tod. Es zu ergreifen, wäre dem gegenüber das Leben. Aber wie das gewinnen, wo wir doch kaum tastend formulieren können, was es denn um das Reich Gottes ist.

Sagen wir so: Wenn des einen Freud denn auf des Andern Leid errichtet werden sollte, würde uns das in Bezug auf das Reich Gottes schon sehr wundern. Da muss man weiter noch gar nicht sagen können, was denn darinnen ist. Dass andere draußen stehen, wo Heulen ist und Zähneklappern, würde die ewige Seligkeit schon gewaltig beeinträchtigen.

Doch Jesu Gleichnis spricht in erster Linie von der unverhofften Einladung, von der Tür eben, die plötzlich solchen offen steht, die im Leben nicht damit gerechnet haben. Wir wollen uns vor lauter Mitgefühl mit den verhinderten Geladenen nicht um den Blick auf die festlich gedeckte Tafel bringen.

Über das Drinnen und das Draußen mussten wir gleichwohl einige Worte verlieren; denn oftmals glaubte man ja genau zu wissen, wer drinnen, vor allem aber wer draußen ist. Draußen sollte Israel sein, das Volk Jesu eben, das seine Einladung zum großen Abendmahl im Gottesreich nicht angenommen habe. Gewiss spiegelt sich in der Überlieferung des Gleichnisses auch die schmerzhafte Geschichte der Herauslösung des Christentums aus dem Judentum. Wenn wir aber das Gleichnis als Bild für das Reich Gottes festhalten wollen, dann duldet dieses Bild keine feixende Festgesellschaft, die vom Balkon des Hauses mit Fingern auf die zeigt, die draußen stehen und ihre Chance verpasst haben.

Vielleicht ist es das Gefühl für verpasste Chancen, das so lange bei denen verweilen lässt, die ursprünglich geladen waren. Die Gleichnisse Jesu aber zielen zumeist auf genau einen Punkt. Der wird scharf gestellt und genau an ihm wird etwas durchsichtig, was sonst nur verschwommen zu sehen ist.

Wie es außerhalb des Reiches Gottes zugeht, wissen wir ohnehin. Dafür brauchen wir keine Bilder. Das Draußen ist nur zu bekannt. Menschen sind ausgesperrt von Lebenschancen. Sie haben das Pech gehabt, zur falschen Zeit am falschen Ort geboren zu werden, mit der falschen Hautfarbe im falschen Stamm.

Wer im Berlin der 50er Jahre am kürzeren Ende der Sonnenallee zur Welt kam, lebte in Ostberlin. Das längere Ende lag im Westen, und irgendwie scheint bis heute fraglos klar zu sein welches Stück „hinter“ der Mauer lag, ganz gleich von welcher Seite man guckte.

Menschen hierzulande nehmen sehr unterschiedlich am Wohlstand teil. Ein großer Teil der Menschen in Asien und Afrika können kaum damit rechnen, in absehbarer Zeit auch nur annähernd vergleichbare Lebenschancen zu haben wie viele von uns in Europa. Jemand der über fünfzig ist und bei uns arbeitslos wird, wird lange nach einer neuen Chance suchen. Wenn es sie überhaupt je gibt, wird er mehr Glück gehabt haben als den meisten Schicksalsgenossen.

So: und auf all diejenigen, die außerhalb des Focus’ stehen, zielt die Geschichte vom großen Abendmahl. Jetzt werden sie scharf gestellt. Die, mit denen keiner mehr gerechnet hat, und die selber nicht mehr erwartet hatten, treten ins Zentrum der Geschichte. Der Tisch des Lebens ist größer als all die Eingeladenen und Nachgeladenen gemeint haben. Auch den Letzten noch ruft der Hausherr, auch die, die bei der zweiten Runde noch immer nicht dabei waren.

Wie es scheint, bleibt eine Kränkung in der Geschichte enthalten. Wer nun drinnen beim Fest ist, stand nicht ursprünglich auf der Gästeliste. Wie gern geht einer zu einem Fest, bei dem er nur ausgebliebene Geladene ersetzen soll? Manche, die in unsere Kirchen eingeladen werden, die Mühseligen und Beladenen, spüren das. Sie bleiben zweite Wahl, was auch bedeutet, dass von ihnen nichts erwartet wird und sie von sich nichts weiter erwarten.

Wieder geraten wir in die Gefahr, den Focus der Geschichte zu verlassen und in ihre verschwommenen Ränder abzugleiten. Nichts spricht dafür, dass die Gäste des Gleichnisses so mit sich und dem Fest umgegangen wären. Nichts spricht dafür, dass sie das Brot und den Wein gegessen und getrunken haben, als stibitzten sie aus einer verbotenen Speisekammer. Nichts spricht dafür, dass sie sich auf dem fest bewegt haben, als würden sie jede Minute mit ihrem Rauswurf rechnen, weil sie doch irgendwie unberechtigt an die Tafel gelangt wären. So mag es auf Festen zugehen, bei denen die Lücken in den Reihen der ursprünglich Geladenen mit einer Art Partystatisten aufgefüllt werden. Im Reich Gottes hat das volle Bürgerrecht, wen der Hausherr eingeladen hat. Von Begrenzungen oder Abstufungen der Gästeliste ist nicht wirklich die Rede. Auf dass das Haus voll werde, dafür werden die Türen geöffnet – gerade auch denen, die ursprünglich nicht damit rechnen durften. Paulus beschreibt es an anderer Stelle so: Nun aber seid ihr nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.

Wer aus welchen Gründen auch immer auf ein Fest gelangt ist und dort, aus dem Verdacht heraus, er sei vielleicht ursprünglich gar nicht eingeladen gewesen, in einem fort misstrauisch umher äugt, wird die Party verpassen. Neben mehr oder weniger gewichtigen Gründen für eine Absage, wäre das nur eine weitere Art eine Party zu verpassen. Und es gibt fast nichts, was ärgerlicher ist, als durch eigene Schuld eine einmalige Chance zu versäumen.

Es ist unterdessen elf Jahre her, dass in Schweden eine Fußballeuropameisterschaft ausgetragen wurde. Dazu hatten sich die Mannschaften Hollands, Englands, Frankreichs, Schottlands, Deutschlands, Jugoslawiens und der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS), also die Nachfolgemannschaft der Sowjetunion qualifiziert. Schweden war als Gastgeber dabei.

Nun brach 1992 Jugoslawien blutig auseinander. Kurzfristig musste die Mannschaft zu Hause bleiben. Dänemark, das die Qualifikation unglücklich verpasst hatte, wurde nachnominiert. Hastig rief der Trainer seine Spieler zusammen, die allesamt schon in den Urlaub aufgebrochen waren. Statt wochenlanger Trainingslager mussten ein paar Tage Vorbereitung genügen.

Beim ersten Spiel merkte man den Dänen noch an, dass sie nicht recht wussten, wie sie in diese Endrunde geraten waren. Vielleicht spielte auch der Zweifel mit, ob sie als rechtmäßig ausgeschiedene hier überhaupt etwas zu suchen hätten. Aber der Ball ist wie das Leben rund und ein Spiel dauert neunzig Minuten. Wie das Leben endet es erst mit dem Schluss und wer mitspielt ist drinnen, nicht draußen.

Nach der Vorrunde waren die Dänen zweite. Das bedeutete Halbfinale gegen die Niederlande, den erklärten Turnierfavoriten. Wenn wir schon mal so weit sind, dann spielen wir eben auch das noch mit, müssen sich die Dänen gedacht haben. Mittlerweile reisten auch immer mehr ihrer Fans über den Öresund nach Schweden. Auch die ersten Familien der Spieler kamen von den Feriendomizilen zurück. Hatte es erst nach einer kurzen Unterbrechung des Urlaubs ausgesehen, schien es nun doch eine längere Sache zu werden.

Auch die Niederlande wurden besiegt und eine Mannschaft, die erst gar nicht dabei gewesen war, stand im Finale. Unsere, also die deutsche Mannschaft, dürfte über den Ausgang des anderen Halbfinalspiels recht erleichtert gewesen sein. Hatten doch die Dänen den Angstgegner Holland aus dem Weg geräumt, gegen den die Deutschen in der Vorrunde deutlich mit drei zu eins verloren hatten. Nun konnte man sich eine gewisse gutmütige Freude für den kleinen Außenseiter aus dem Nachbarland durchaus gönnen – freilich nicht ohne hinzuzufügen wie ernst man den Gegner nähme, dass es keine „kleinen“ Gegner mehr gäbe, dass die Nordmänner für ihren gefährlichen schnellen Fußball bekannt seien und dass man sich das holländische Missgeschick als Warnung dienen lassen wolle.

Die Warnung wirkte offenbar nur zwanzig Minuten. Dann stand es eins zu null für Dänemark. Am Ende sollte es zwei zu null heißen. Die rotweißen hatten ihre Chance genutzt, mit der sie gar nicht mehr hatten rechnen dürfen. Aber einmal ins Spiel genommen, haben sie die Tage in Schweden genossen. Und ist der Sage nach die dänische Flagge, der Danebrog, im Jahr 1215 vom Himmel herab geschwebt, so schien es in den Junitagen 1992, als habe der Himmel höchstselbst rot und weiß zu seinen Farben erkoren.

Am nächsten Tag stand in der liberalen dänischen Tageszeitung „Politiken“: „Dänemark ist zum ersten und vermutlich letzten Mal Europameister geworden!“ Am Ende war es keine Frage, wie es überhaupt zu diesem Fußballfest gekommen war. Sicher war nur, dass die Freude zwischen Kopenhagen und Esbjerg in keinem Falle größer hätte sein können.

Ich bin drei Tage nach dem Finale an die jütländische Westküste gefahren. Gleich an der Grenze hing ein großes Transparent. Darauf stand 2:0. Zwei zu null stand auch an jeder Autobahnbrücke und auf jedem Schild, das sonst keine wichtige wegweisende Funktion hatte.

Klang darin ein bisschen Häme mit? Wahrscheinlich schon. Aber es war ja auch eine Fußballmeisterschaft und nicht das Himmelreich. Im Leben gibt es eben immer die verschwommenen Ränder und ein Drinnen und ein Draußen. Ganz ahnungslos lässt uns aber das Leben nicht in bezug auf die Freude, die drinnen herrscht.

Wie es mit der Freude im Himmelreich bestellt sein mag hat einmal der Theologe Friedrich Schleiermacher (1768-1834) überlegt. Ganz gleich wie man sie sich vorstellen möge, sie dürfte jedenfalls nicht dadurch getrübt sein, dass andere in einem unfreundlich-höllenhaften Draußen schmachten. Denn zum Himmelreich gehöre eben auch das Mitgefühl. Wegen dieses Mitgefühls sei eben eigene Wohlbefinden erheblich gestört, wenn andere leiden müssen. Wo also einer um die Not und das leiden eines anderen wissen müsse, ohne dagegen wirken zu wollen und zu können, da sei jedenfalls das Himmelreich nicht.

So gesehen können wir ziemlich sicher sein, noch nicht im Himmelreich zu sein, denn das Wissen um das Elend können wir nicht bestreiten. Wir können die, die im Hier und Jetzt draußen vor den Toren der Lebenschancen stehen, nur allzu gut sehen. Und gerade sie sind, mit den Augen unseres Gleichnisses betrachtet, solche, mit denen im Reich Gottes gerechnet werden muss. Es sind nicht Fremdlinge und Außenstehende, nicht einmal nur Gäste, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.

Was wir für die ewige Seligkeit nicht wünschen können, dass nämlich dieselbe dadurch beeinträchtigt ist, dass andere draußen sind, womöglich in Heulen und Zähneklappern, sollten wir im Hier und Jetzt nicht dulden.

Auch dazu hilft das Bild von der Tafel Gottes. Türen stehen offen, wo es keiner mehr vermuten mag. Auf dass das Haus voll werde und die Chance auf Leben nicht leichtfertig oder durch Resignation vertan wird. Die verschwommenen Ränder werden uns bleiben. Zugleich aber auch die Fähigkeit, etwas wirklich in den Blick zu nehmen, es scharf zu stellen und die eigenen Chancen zu nutzen.

Wo sich einem eine Chance bietet, mit der weder er noch andere je gerechnet haben, entsteht eine Ahnung für die große Tafel Gottes. An ihr ist gewiss mehr Platz als wir im Focus eines Bildes scharf stellen können. Ach ja, und eines noch: Jesus von Nazareth hat auch gesagt „Das Himmelreich ist mitten unter euch“. Ganz unsichtbar wird es dort nicht bleiben wollen.

Amen

Ulrich Braun
Pastor in der Klosterkirchengemeinde Göttingen-Nikolausberg
EMail: Ulrich.F.Braun@t-online.de


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