Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

5. Sonntag nach Trinitatis, 20. Juli 2003
Predigt über Lukas 5, 1-11, verfaßt von Elisabet Mester
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Gott schenke uns ein Herz für sein Wort und ein Wort für unser Herz.

Liebe Gemeinde,

manche Dinge gehen vor. Da kann das, was dran ist, noch so wichtig sein. Es muß dann erst mal warten. Vor vier Wochen mußte ich mit meiner Tochter zur Schulärztin. “Schuleingangsuntersuchung" hieß der Termin, zu dem wir eingeladen waren, und das war wirklich wichtig. Aber kaum, daß wir die Etagentür hinter uns zugezogen hatten, kam etwas, das ging einfach vor. Ein riesengroßer Nachtfalter flatterte nämlich durchs Treppenhaus, er war aufgescheucht und verstört, er knallte an die Wand und donnerte dann gegen die Fensterscheibe. Der dumpfe Schlag tat weh im Ohr. Im Herzen auch. Das arme Tier mußte befreit werden, da waren wir uns sofort einig. Das Problem war nur: Um den Schmetterling zu befreien, mußten wir ihn erst mal einfangen. Nun mußte also die Tür wieder aufgeschlossen werden, eine große Leiter wurde geholt, und die war auch nötig, denn so ein Treppenhaus hat Höhen. Fast eine halbe Stunde dauerte es, bis wir den armen Falter in einem Einmachglas gefangen hatten, um ihn dann durchs Flurfenster hinauslassen zu können ins Freie. Meine Tochter und ich, wir waren so glücklich, als wir ihn darußer fliegen sahen, daß uns der anstehende Schulreife-Test gar nicht mehr so wichtig war. 

Was sind das für Dinge, die andere, viel wichtigere Sachen, so zurücktreten lassen? Es sind Dinge, wo es ums Leben geht. Ums lebendige Leben.
Das lebendige Leben kommt glücklicherweise nicht immer plötzlich oder gar ungelegen. Meist kündigt es sich an, es klopft an die Tür, es wartet, ob wir aufmachen und fragt uns, was wir brauchen. Es fängt also ganz behutsam an. 

Am Anfang der Geschichte, die wir heute gehört haben, klopft dieses Leben bei dem Fischer Simon Petrus an: es bittet ihn um seine Hilfe.               

Jesus ist gefangen ist von einer großen Menschenmenge, die ihn bedrängt. Ein paar hundert sind es vielleicht, und bis ans Ufer des Sees haben sie ihn schon getrieben. Alle wollen ihn hören, viele möchten ihn auch berühren. Das wird zu eng. Das ist zu viel. Jesus braucht Distanz. Ohne einen vernünftigen Abstand kann er den Leuten am See nichts sagen. Und gerade deshalb waren sie doch gekommen, “um das Wort Gottes zu hören", wie es hier heißt. Also ruft der Prediger aus Nazareth den Fischer vom See Genezareth um Hilfe. Er soll ihn im Boot ein wenig vom Ufer wegfahren. Das tut Petrus, und nicht nur das, seine Freunde und er selbst steigen mit ein. Alle zusammen fahren nun ein Stück hinaus, gerade so weit, daß Jesus gut zu hören ist bei denen, die am Ufer stehen. Nicht nur bei ihnen. Die Fischersleute haben Jesus den Abstand verschafft, den er brauchte. Dafür sind sie jetzt am nächsten dran an ihm und dem, was er sagt. Jesus “lehrt", so steht es hier, die Menge vom Boot aus. Die Leute hören ihm zu. Ob es das unerhört Neue an seiner Rede ist oder vielleicht einfach seine Art zu sprechen, was die Menschen hier wie gebannt lauschen läßt? Eins läßt sich jedenfalls erkennen: die Fischer fassen Vertrauen. Die Lehre von Jesus muß wirklich gut sein. Denn sonst könnten wir uns nicht erklären, wie sie dazu kommen, sich von einem Zimmermann aus Galiläa, der nun wirklich  keine Ahnung vom Fischfang hat, einen Rat geben zu lassen. Und nicht nur, daß sie sich den geben lassen. Es ist überdies ein wirklich unsinniger Vorschlag. Tags, wenn es hell ist, kommt kein Fisch an die Oberfläche. Da verkriechen sie sich alle irgendwo in die Tiefen des Sees, dorthin, wo es dunkel ist, und wo kein Fischernetz jemals hinkommt. Seit Jahrhunderten bereits wurde deshalb nur nachts gefischt. Schon die Väter und Großväter dieser Männer waren nachts auf Fang gegangen; und das nicht aus Pietät, sondern aus dem Wissen: tags fängt man nichts.

Auch nachts nichts gefangen zu haben, das ist allerdings wirklich schlimm. Die Fischersfamilien essen selbst viel Fisch, und wenn sie keinen fangen, ist ihre Mahlzeit knapp. Solche Familien haben auch keine großen Geldrücklagen. Wenn sie keinen Fang zum Markt bringen, können sie für sich selbst auch nichts mehr kaufen. An der Grenze zur Armut leben diese Leute. Aber auch auch frei und stolz auf das, was sie wissen und das, was sie können. Man will es also kaum glauben, wenn man es hört. Sie fahren  tatsächlich bei Tag hinaus auf den See und werfen die Netze aus. Warum hören die auf Jesus? Petrus gibt hier die Antwort darauf: “Auf dein Wort hin will ich die Netze auswerfen", sagt er zu Jesus. Also nicht aus Hunger, nicht aus Verzweiflung, und auch nicht, um zu auszuprobieren, wie es ist, wenn man es mal ganz anders macht. Auf das Wort von diesem Jesus hin. Petrus hat offenbar die Erfahrung gemacht: Sein Wort ist stark. 

Ich stelle mir vor, Jesus hat davon gesprochen, wie Gott es mit uns meint. Daß er es über's Maß hinaus gut meint, und daß er unablässig damit beschäftigt ist, für uns zu sorgen. Das zu glauben, ist etwas Besonderes, auch wenn man es schon oft gehört hat. Normalerweise denken wir ja, daß niemand für uns sorgt, wenn wir das nicht selbst tun. Wir sagen, das lehrt uns die Erfahrung.  Leider ist die Erfahrung in solchen Sachen eine denkbar schlechte Lehrmeisterin. Sie lehrt uns nämlich nicht viel anderes als das, was wir ohnehin erwartet hatten. Auf diese Art kann es geschehen, daß wir fatalerweise mit unseren schlimmsten Befürchtungen stets Recht behalten. Der Petrus und die Fischer hier in der Geschichte sind offenbar bereit, sich auf etwas ganz Neues einzulassen und so zu sehen, ob das stimmt, was Jesus gesagt hat. Daß Gott für uns sorgen will. Dafür riskieren sie nicht nur ihre altgewohnten Erfahrungswerte. Sie nehmen auch in Kauf, sich gründlich lächerlich zu machen. Die Leute, die da noch am Ufer stehen und miteinander über das reden, was dieser Wanderrabbi aus Galiläa gesagt hat, werden sich die Augen gerieben haben, als sie das sahen: daß die Fischer nach beendeter Predigt nicht wieder ans Land zurückgerudert sind, sondern hinaus auf den See. Und daß sie sich nicht entblöden, dort die Netze auszuwerfen, am hellerlichten Tage. So übermüdet können sie doch eigentlich nicht sein, daß sie nicht wissen, daß das nichts bringt. Gleich werden alle über Petrus und seine Genossen lachen, wenn sie ihre Netze  einholen, in denen höchstens Wasserpflanzen hängen geblieben sind.  Jesus setzt aber auch viel aufs Spiel. Denn wenn sich herumspricht, daß er derjenige war, der dazu geraten hatte, auf Fang zu gehen, wird wohl keiner der dort Versammelten auf seine Predigt noch etwas geben wollen. “Taugt alles nichts, das ganze Gerede, kannste mal sehen."

Das kann schnell dabei herauskommen, wenn auf die rechte Lehre die falsche Tat folgt. Zur Orthodoxie, zu dem, was wir richtigerweise sagen, gehört die Orthopraxis, also das, was wir dementsprechend tun. Die beste Lehre verkümmert ohne die rechte Tat. Wenn man hier versagt, ist man blamiert. In unserer Geschichte könnte man meinen, daß niemand blamiert ist. Nicht Jesus. Denn daß das, was er sagt, recht behält, das konnten hier alle verstehen. Noch die Fischer, die sogar andere herbeirufen müssen, damit ihre Netze nicht reißen - so einen Fang hatten sie vielleicht noch nie gemacht - da konnten sie eigentlich stolz sein. Oder nicht? Einer ist nicht stolz. Einer fühlt sich plötzlich elend. Wie ein Nachtfalter, dem am Tage plötzlich die Augen aufgehen. Er sieht nur, daß er geblendet ist von einer sagenhaften Helle. “Herr, geh weg von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch."            

“Fürchte dich nicht", sagt Jesus hier zu dem geblendeten Nacht-Fischer.  Ich höre das so, als wollte er sagen: “Fürchte dich nicht vor dem Heiligen, wenn es dir begegnet. Wundere dich nicht, wenn es hell ist. So ist das lebendige Leben." - “Fürchte dich nicht", daraus spricht für mich auch ein großer Trost. Wenn Jesus den Simon Petrus so anredet, bedeutet das, daß er ihn kennt, daß er ihn annimmt und liebt. Und wenn das so ist, braucht Petrus wirlich nichts zu befürchten von dem, den er hier “Meister" nennt.   Als allererstes “fürchte dich nicht" zu sagen, ist also sehr gut. Es nimmt viel scharfen Wind aus den Segeln. Danach kann vieles andere gesagt werden. Was hier daraufhin gesagt wird, finde ich allerdings atemberaubend: “Von nun an wirst du Menschen fangen". Menschen fangen - wieso? Petrus ist doch Fischer, eben noch haben wir gehört, wie er aus dem Boot ins Wasser sprang und das Netz an Land zog.

In meiner Kinderbibel war ein Bild davon, das zeigte, wie Petrus und seine Freunde im flachen Wasser des Sees vorsichtig watend die übervollen Netze zogen. Sie hielten in der einen Hand ihre langen Gewänder, die sie refften - jeder hatte eins in einer anderen Farbe: Petrus rot, Jakobus blau und Johannes gelb. Mit der anderen Hand zogen sie ihr Netz ans Ufer. Sie sahen so glücklich aus, die Fischer, und ich fand das Bild wunderschön. Warum soll der Petrus nun alles stehen und liegen lassen und weggehen? Er muß doch seinen Fang feiern und dann verkaufen und dann die Netze flicken und überhaupt - sollte er nicht dort bleiben, wo er zuhause ist?  

Manche Dinge gehen einfach vor. Wo es ums Leben geht, ums lebendige Leben, fällt die Entscheidung manchmal sehr schnell. Petrus geht mit, Menschen zu fangen.       

Menschen fangen - das klingt befremdlich, finde ich. Richtig unheimlich. Wenn ich mir vorstelle, daß meine Tochter vielleicht eines Tages in die Hände irgendwelcher Menschenfänger geriete, wird mir ganz übel.          

Ich habe sie gefragt, was ihr bei “Menschen fangen" einfällt, und da hat sich gelacht und mich gefragt, ob ich das etwa nicht im Kindergarten gespielt habe, als ich ein Kind war. Sie sagt, sie spielen dort ganz oft “Fischer, Fischer". Ein Kind ist der Fänger, so heißt das, und die anderen sind die Fische. Wenn sie ausreichend oft gefragt haben, wie tief das Wasser ist und einer von den Fischen das andere Ufer erreicht hat, geht das Fangen los. Der Fänger versucht, möglichst viele Kinder zu fangen. Meine Tochter sagt, sie versucht dann natürlich, wegzulaufen. Aber geschnappt zu werden, ist auch schön. Außerdem ist man, wenn man als erster geschnappt urde, beim nächsten Mal der Fänger.     

Menschenfänger zu sein - sich fangen zu lassen, um dann als nächstes andere zu fangen.
Den Nachtfalter, der sich ins Treppenhaus verirrt hatte, mußten wir fangen, um ihn zu befreien. Jetzt denke ich, mit uns Menschen ist es nicht anders. Normalerweise sind wir nämlich gefangen. Wir tappen sehr unsicher durch unser Leben und stoßen ständig gegen Wände, während wir versuchen, unseren Weg zu finden. Geschnappt zu werden, das könnte also sehr gut sein. Wenn es der Richtige ist, der uns für sich einnimmt. Und wenn es behutsam geschieht. Und schließllich ins Freie entlassen zu werden, das ist bestimmt das Beste, was uns passieren kann.    

Beim Menschenfangen geht es darum. Menschen für Gottes Sache zu gewinnen, das heißt als erstes, sie aus den Netzen zu befreien, in die sie sich verstrickt hatten. Solche Netze gibt es viele, und wer ehrlich ist, kennt auch die, in die er selbst schon oft geraten ist. Überzogener Ehrgeiz und die Sucht nach Anerkennung kann so eine Falle sein, in die wir immer wieder hineintappen, oder die Überzeugung, von anderen Menschen doch nur ausgenutzt zu werden und deshalb am besten allein zu bleiben. Manche Leute glauben, es allen anderen recht machen zu müssen und selbst gar nicht vorkommen zu dürfen, während andere ganz selbstverständlich davon ausgehen, daß es um sie und nur um sie geht, weshalb sich alle nach ihnen richten müßten. - Ich will jetzt nicht hunderte von solchen selbstgestrickten Netzen vorstellen, in die wir vorzugsweise hineingeraten, während wir meinen, frei zu sein. Wir kennen unsere gut, und die von anderen erkennen wir auch. Wir wissen auch, daß diese Fallstricke uns das Leben schwer bis unmöglich machen. Daß es einen geben könnte, der uns ganz vorsichtig fängt, um uns dann freizulassen ins Leben, das ist eine wirklich wunderbare Sache. Eine überwältigende Erfahrung. Wer sie gemacht hat, wird sich vielleicht daran erinnern, daß man erst mal wie geblendet dasteht, wenn einem das geschieht. Aber wer bei dieser neuen Erfahrung bleibt und nicht zurückkehrt zu den alten Netzen, wird sie auch weitergeben wollen an andere. Es kann sein, daß er ein Menschenfischer wird, so wie Petrus. Menschen einnehmen für die Sache Gottes, damit sie frei werden können. Früher nannten wir das in der Kirche “Mission", also Sendung. Zu anderen hin gesandt sein, ist damit gemeint, und auch, daß wir das nicht von uns aus tun, sondern von Gott aus, der uns dahin schickt, wo er uns braucht.

Mission: Selbst frei werden, immer wieder, und andere zum Freisein ermutigen in Gottes Namen.
Mission, das heißt nicht nur Predigen. Wer auf die rechte Lehre die rechte Tat folgen läßt, wird mit Gottes Mission ankommen bei den Fischern und bei anderen Leuten.
Das Beste aber ist; daß Gott zuerst mit seinen guten Taten ankommt bei uns. Auf sein Wort hin können wir's getrost wagen.
Amen.      

Elisabet Mester, Hannover
Mester@annastift.de

 


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