Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

9. Sonntag nach Trinitatis, 17. August 2003
Predigt über Matthäus 25,14-30, verfaßt von Birte Andersen (Dänemark)
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Drei Diener erhalten je ihre Summe. Die zwei investieren sie und machen Profit. Der dritte vergräbt sein Geld, aber er liefert es dennoch beim Herrn ab. Trotzdem wird er gescholten und wahrscheinlich aus seinem Dienst entfernt.


Nun handelt die Pointe dieses Gleichnisses nicht von Profit, wie man meinen könnte, wenn man das Gleichnis schnell hört. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Dienern und dem einen liegt im Unterschied an Wagemut.
Nun ist es aber nicht einfach so, daß die zwei mutig sind und der dritte leider etwas vorsichtig, so ist er nach seiner Natur. Sogleich sind wir bereit, ihn zu entschuldigen - teils weil wir ihn bedauern - er hatte ja eigentlich nichts aktiv Falsches getan, und außerdem ist er es, mit dem wir uns meistens identifizieren.
Warum soll er daran leiden, daß er eine vorsichtige Natur ist? Weil eine solche Vorsicht Mangel an Vertrauen ist! Vertrauen auf die Großmut seines Herrn. Vertrauen darauf, daß der Herr es sich leisten kann und auch willens ist, seine Investition zu verlieren. Der, der nicht glaubt, daß sein Herr es sich leisten kann, eine Investition zu verlieren, macht seinen Herrn klein.

Auf diese Weise sagt Jesus, daß der Herr Wille ist und daß er es sich leisten kann. Er hat es sich geleistet, und er will, daß seine Diener dasselbe tun. Er hat sich dazu entschlossen, daß es besser ist, im Spiel des Lebens zu investieren, als gar nicht mitzuspielen; und er möchte nicht, daß seine Diener in seinem Namen vorsichtiger sind als er selbst, und er will überhaupt nicht, daß sie seine angebliche Kleinlichkeit als Vorwand benutzen. Was er von seinen Dienern verlangt, ist Wille zum Risiko, denn nur so kann man den Aufgaben des Lebens gerecht werden - sonst steht das Leben still.
Das ist der wahre Mut: der Mut zu verlieren, der Mut, Schuld auf sich zu laden, der Mut, wenn man schuldig wird, dann auch schuldig zu sein! Was dem dritten Diener widerfuhr, war dies: Die Schuld, die er auszugrenzen suchte, grenzte ihn aus.

Aber: Wenn du spielst, wirst du schuldig. Niemand kann das Leben leben, wie es ist, voll von Entscheidungen und Möglichkeiten und Verlusten, ohne Schuld auf sich zu laden. Das kann man nur, wenn man sich das Leben vom Leibe hält. Jeder, der lebt und sich einsetzt, wird schuldig.
Es war ein Zufall, daß die beiden ersten Diener nicht alles verloren. Es ist deshalb natürlich, daß man versucht, die schlimmsten Konsequenzen der Schuld zu vermeiden. Und wir haben eine lange Tradition dafür, daß es schwer ist, die Schuld festzuhalten. Daß man etwas in die Augen sieht, ohne sich dadurch in seinem Handeln lähmen zulassen, das fällt uns in unserer Kultur schwer. Es wirkt bequemer, das zu überspringen und sich in Schuldgefühlen zu verlieren
Aber Schuldgefühle können oft eine Flucht vor dem Festhalten der Schuld sein. Dann verlegt man das Augenmerk weg von der Tat in das Innere, das Motiv, das Ich.
Aber das dient der Verantwortung nicht. Der Schuld in die Augen zu sehen, sich zu dem Versagen oder der falschen Entscheidung zu bekennen, die notwendigerweise zur Lebensgeschichte eines jeden Menschen gehören, ist unheimlich schwer.

Ein hervorragendes Beispiel sah ich einmal im Fernsehen, eine schwedische Sendung. Gro Harlem Brundtland, früher Ministerpräsidentin von Norwegen, nun in leitender Stellung in der Weltgesundheitsorganisation WHO, wurde aus Anlaß ihrer gerade erschienenen Erinnerungen interviewt. Ein Kapitel ist den Umständen und Gedanken um den Selbstmord ihres Sohnes gewidmet. Er war psychisch krank, und die Frage, ob sie dieses Unglück hätte verhindern können, kam nicht auf. Aber sie hätte ja auch nicht mehr tun können, meinte der Interviewer. Doch, antwortete sie, das hätte ich. Sie hätte mehr tun können. Sie hatte auf die falschen gehört, auf die, die sie beruhigten, und war deren Rat gefolgt. Sie hätte mehr mit ihm zussamensein können, sie hätte vielleicht auch mehr an Behandlung verlangen können in dem, was ihr richtig erschien. Sie hatte sich zurückgehalten, gerade weil sie sowohl Ministerpräsident als auch Ärztin war und sich nicht in die Arbeit von Kollegen einmischen wollte. Aber es ging ja um ihren Sohn, und den Kampf konnte niemand anderes kämpfen, das war ihre Verantwortung.
So wie sie da saß und redete, war deutlich, daß sie kein Schuldgefühl lähmte, aber daß sie die Schuld mit sich trug als einen Teil ihrer Geschichte. Und ihre weitere Geschichte war die, daß sie eine noch größere Aufgabe in der WHO übernahm - für die Kinder der Welt - zu einem Zeitpunkt, wo sie eigentlich daran gedacht hatte, Zeit für sich selbst zu gewinnen und die Wunden nach dem Tod des Sohnes zu lecken - also in Pension zu gehen.
Nun hatte sie sich dafür entschieden, diese Verantwortung zu übernehmen, die niemand anderes so gut wahrnehmen konnte wie sie, weil sie so viel Einsicht, so viele Talente mitbrachte.

Und eben dies ist das Schwierige und Herausfordernde, wenn man in der Geschichte und im Lichte des Christentums steht: Wir haben die volle Verantwortung und müssen die Konsequenzen unser Entscheidungen selbst tragen: das Gericht. Wir können keine anderen Instanzen zwischen uns und dem Leben Gottes einschieben: Keine moralischen Regeln, die zu erfüllen sind. Keine Systeme, die den richtigen Weg garantieren. Keine einfachen Lösungen und Wege. Keine Träume, die Entscheidungen auf nächste Woche verschieben zu können oder sie von anderen für mich treffen zu lassen - höheren Personen oder Instanzen, kirchlichen oder weltlichen Amtspersonen.

Und der Grund dafür, daß die volle Entscheidung bei uns liegt, ist der, daß wir dazu befreit sind, die Entscheidungen zu treffen, die auf uns zukommen. Wir sollen uns nicht selbst erlösen mit den Handlungen, die wir ausführen. Erlöst sind wir schon, wir haben Möglichkeiten erhalten, wir haben mehr Talente erhalten, als wir gebrauchen können. Und deshalb sollen wir uns selbst die Freiheit nehmen, sie einzusetzen, so daß das Bild, das wir von uns - und von Gott - abgeben, so groß wie überhaupt möglich werden kann.
Weil wir die Befreiung hinter uns und die Aufgaben vor uns haben, ist es möglich, die Verantwortung zu tragen, die jeder von uns hat. Wir können einander helfen zu sehen, wie sie aussieht, aber Verantwortung tragen, das können nur du und ich.
Ein moderner Denker, Levinas, hat sich mit der Frage beschäftigt, was in besonderem Maße in der Praxis nach unserer Verantwortung ruft. Levinas ist der Auffassung, daß dies der Appell ist, der von dem Gesicht des anderen Menschen ausgeht. Denn das Besondere an einem Gesicht ist, daß es der Spiegel der Seele ist und deshalb nicht zur Maske werken kann. Das Gesicht hat keine Außenseite. Es drückt das aus, wovon das Herz voll ist, selbst bei dem, der gelernt hat, sich zu beherrschen. Dann drückt es Beherrschung aus.
Deshalb ist es nicht möglich, das Gesicht eines anderen Menschen neutral zu betrachten - es beeinflußt immer, ehe wir es bemerken.
Und dieser Ruf ist der Antrieb für unsere Verantwortung und die Entscheidungen, die wir treffen. Das Gesicht eines anderen Menschen ist ein so starker Ausdruck für Leben, daß es ein Bild ist für eine Ganzheit, eine größere Ganzheit als die, die ich gerade vor Augen habe. Das Gesicht eines anderen Menschen ist deshalb ein Ruf, über sich selbst hinauszugehen, eine größere Welt als meine eigene wahr- und anzunehmen. Amen.

Pfarrerin Birte Andersen
Emdrupvej 42
DK-2100 København-Ø
Tel.: ++ 45 - 39 18 30 39
e-mail: bia@km.dk


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