Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

10. Sonntag nach Trinitatis, 24. August 2003
Predigt über Lukas 19,41-48, verfaßt von Christian-Erdmann Schott
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Gemeinde,

der 10. Sonntag nach Trinitatis wird traditionell Israelsonntag genannt. Wir denken daran, dass die Wurzeln des Christentums in Israel liegen, dass Jesus und seine Jünger zum Volk Israel gehörten und dass wir das Alte Testament dem alten Gottesvolk verdanken. In älteren Kirchenordnungen hieß dieser Sonntag auch „Gedenktag an die Zerstörung von Jerusalem“. Diesem Thema ist unser heutiger Predigttext zuzuordnen. Er zeigt, dass Jesus die Zerstörung der Stadt und des Tempels von Jerusalem im Voraus befürchtet hat. Sie ist dann in den Jahren 70/71 auch tatsächlich eingetreten. Als der Evangelist Lukas sein Evangelium schrieb, lag die Zerstörung etwa 10 Jahre zurück. Man nimmt an, dass er sein Evangelium um das Jahr 80 nach Christus geschrieben hat.
Unser Predigtabschnitt zeigt Jerusalem noch in seiner ganzen Schönheit und äußerlich unbeschädigt. Ich lese:

Und als Jesus nahe an Jerusalem hinzukam, sah er die Stadt an und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zu deinem Frieden dient! Aber nun ist`s vor deinen Augen verborgen. Denn es werden über dich die Tage kommen, dass deine Feinde werden um dich und deine Kinder einen Wall aufwerfen, dich belagern und an allen Orten ängstigen; und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern lassen, darum dass du nicht erkannt hast, die Zeit, darin du heimgesucht bist.
Und er ging in den Tempel und fing an auszutreiben, die da verkauften, und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben (Jes. 56,7): „Mein Haus soll ein Bethaus sein“; ihr aber habt`s gemacht zur Räuberhöhle. Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Vornehmsten im Volk trachteten danach, dass sie ihn umbrächten., und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn alles Volk hing ihm an und hörte ihn.

Der Evangelist beschreibt die Belagerung und den Untergang Jerusalems nach dem tatsächlichen Verlauf. Er macht es kurz. Hinter seinen wenigen Stichworten verbirgt sich namenloses Leid. Wir wissen das, weil ein zeitgenössischer jüdischer Schriftsteller diese Eroberung ausführlich beschrieben hat. Josephus Flavius (37/38-etwa 100 nach Christus) hatte zunächst gegen die Römer gekämpft, ist dann aber auf ihre Seite getreten und hat im Rückblick sein Buch De bello judaico – „Über den jüdischen Krieg“ verfasst. Bei ihm heißt es: „Alles Elend, welches je ein Volk befallen hat seit Anbeginn der Welt, war gering im Vergleich mit den Juden! ....In vielen Häusern lagen die Toten bis unter das Dach, die Kanäle waren mit Leichnamen verstopft und die Bäume der Umgebung mit gekreuzigten Juden bedeckt. 6000 Menschen wurden im Tempel verbrannt. 100 000 wurden gefangen nach Rom verschleppt und die Stadt Jerusalem mit ihren herrlichen Palästen dem Erdboden gleichgemacht“.

Vom Tempel ist lediglich eine Mauer übrig geblieben. Sie steht heute noch und ist weltweit als „Klagemauer“ bekannt, die wichtigste Gebetsstätte des Judentums. Das Volk Israel ist damals in alle Winder zerstreut worden und hatte bis 1947 keine eigene Heimstätte auf dieser Erde.
Für uns heute ist es leicht möglich, diese Katastrophe als Ereignis einer fernen Vergangenheit einigermaßen ungerührt zur Kenntnis zu nehmen. Auf diese Weise werden wir aus der Geschichte allerdings kaum etwas lernen. Erst wenn wir fragen: Warum ist es zu dieser Katastrophe gekommen? beginnt die Geschichte lebendig zu werden. Schon Josephus hat sich diese Frage gestellt. Seine Antwort: Die Juden haben den Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht verloren, weil sie unter sich zerstritten waren und weil sie gegen die militärische Übermacht und technische Perfektion der Römer nicht ankamen.

Die Christen haben die Frage theologisch beantwortet. Sie haben sich an die Tränen und an den Zorn Jesu – unser Predigttext – erinnert, die zeigen, dass er die Katastrophe kommen sah, aber in letzter Minute noch zu verhindern gehofft hatte, - durch seine Tränen und durch den zornigen Rauswurf der Händler aus dem Vorhof des Tempels. Die Tränen Jesu galten seinem geliebten Jerusalem, dessen Oberschicht sich gegen ihn verschließt und nicht erkennen kann oder will, dass Gott diesem seinem auserwählten Volk in der Sendung und Botschaft Jesu von Nazareth ein neues Angebot macht. Sein Zorn kam ebenfalls aus der Liebe, aus der Liebe zum Tempel und zum Gottesdienst, und galt dem veräußerlichten, kommerzialisierten Betrieb, der sich in seinen Vorhöfen abspielte. Diese armselige, geschäftige Geistlosigkeit, die sich da breit machte, zeigte schlaglichtartig, wie weit sich diese Gesellschaft von ihrer Mitte, von Gott, vom Hören auf sein Wort und vom Gebet entfernt hat – ohne es zu merken. Beides, die Tränen Jesu und der Zorn Jesu, sind traurig, sehr unglücklich, aber sie sind nicht ohne Hoffnung. Durch seine Tränen und durch seinen Zorn hoffte Jesus noch immer, wider den Augenschein, die Katastrophe aufhalten zu können. Es ist ihm nicht gelungen. In den Jahren 70/71 bricht das Gericht Gottes über Jerusalem herein.

Wenn die christliche Kirche später den „Gedenktag an die Zerstörung Jerusalems“ eingerichtet hat, hat sie über dieses Ereignis hinaus an eine Seite im Wesen Gottes erinnern wollen, die wir gern übersehen. Wir sprechen gern vom „lieben Gott“ und meinen damit den liebevollen Vater, mitunter wohl aber auch den Kuschelgott, der wie ein zahnloser Großvater seine Enkel gewähren lässt und sie darüber hinaus auch noch mit Süßigkeiten verwöhnt. Das ist ein falsches Gottesbild; falsch, weil es vor der Geschichte nicht bestehen kann. Martin Luther hat recht, wenn er uns rät „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“. Fürchten werden wir ihn, wenn wir uns klar machen, dass Gott nicht allein der Vater, sondern auch der Richter der Menschen und der Völker ist; und zwar ein Richter, der hart zuschlagen kann.
Die Älteren haben es als Kinder miterlebt, wie solche Katastrophen sein können. Die Zerbombungen unserer Großstädte, die Vertreibungen aus Schlesien, Pommern, Ostpreußen und den anderen deutschen Ostgebieten haben uns gezeigt, dass Gott sich nicht spotten lässt und die Verbrechen, die im deutschen Namen an den Juden und an anderen Völkern begangen worden sind, auf die Urheber zurückfallen lässt. Das gilt, auch, wenn wir es heute nicht gern hören und am liebsten vergessen wollen.
Das immer wieder wunderbar Erstaunliche ist, dass Gottes Gerichte nicht auf Vernichtung oder Auslöschung angelegt sind. Die Juden haben die Katastrophe von 70/71 bis heute überlebt. Es gibt sie weiterhin. Und wir Deutschen haben die Katastrophe von 1945 auch überlebt. Der Richter will, das wird in beiden Fällen deutlich, nicht den Untergang des Sünders, sondern dass er sich bekehre und lebe. In diesem Sinne steckt hinter dem harten Nein, das große einladende Ja Gottes. Beides ist dann richtig aufgenommen, wenn es zur Demut, zur Buße und zur Dankbarkeit führt.

Völlig unangemessen wäre der „Gedenktag an die Zerstörung Jerusalems“ begangen, wenn wir in der Katastrophe der Jahre 70/71 eine Bestätigung der Verworfenheit Israels und umgekehrt der Vortrefflichkeit der Christen sehen würden. Solche Deutungen hat es im Lauf der christlichen Kirchengeschichte leider auch gegeben, mit verheerenden Konsequenzen. Solche Deutungen waren nicht demütig. Demütig und angemessen im Sinne Jesu Christi ist es, wenn wir uns durch das Beispiel Israels warnen lassen und auch durch dieses weit zurückliegende Ereignis lernen, Gott ernst zu nehmen – eben weil er es mit uns ernst meint. Amen.

Pfarrer em. Dr. Christian-Erdmann Schott
Elsa-Braendstroem-Str. 21
55124 Mainz-Gonsenheim
Tel.: 06131/690488
FAX 06131/686319
ce.schott@surfeu.de


(zurück zum Seitenanfang)