Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

10. Sonntag nach Trinitatis, 24. August 2003
Predigt über Lukas 19,41-48, verfaßt von Rainer Stahl
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Leserin, lieber Leser,
liebe Schwester, lieber Bruder,

Muki Betser beschließt sein Buch über wichtige Erinnerungen seines Lebens - „Soldat in geheimem Auftrag. Israels führender Antiterror-Spezialist berichtet über seine spektakulärsten Einsätze“ - mit einem Blick vom Berg Nebo in Jordanien nach Westen hinüber bis Jerusalem:

„Es ist wirklich das Herz des Landes Israel - aber es ist nicht der Staat Israel...
In dieser neuen Welt ist es undenkbar, daß ein Volk ein anderes gegen dessen Willen beherrscht. So wie wir Frieden mit Ägypten geschlossen haben, indem wir den Sinai zurückgaben, und so wie der Frieden mit Syrien, der, während ich dieses Buch schreibe, in greifbare Nähe rückt, darauf basieren wird, daß wir die Golanhöhen gegen den Frieden eintauschen, wird und muß dieses Land, das ich vom Gipfel des Berges Nebo aus sehen konnte, eines Tages den Palästinensern gehören.“

Hier spricht ein Offizier Israels, dessen spektakulärster Einsatz wohl der der Befreiung der israelischen Geiseln auf dem Flughafen von Entebbe in Uganda im Sommer 1976 war. Er hat sein Leben für seine Landsleute eingesetzt und auch das Lebensrecht der Palästinenser nicht aus den Augen verloren.

Mit diesem Zitat möchte ich einen Zusammenhang deutlich machen, der für unser Nachdenken am heutigen „Israel-Sonntag“ ganz entscheidend ist: Eine Aussage, eine Behauptung, eine Forderung steht immer im Zusammenhang mit demjenigen, der sie trifft, der sie aufstellt. Sie kann nie losgelöst von der Person gewertet werden, die sie spricht. Und: die Beziehungen sind entscheidend, in denen eine solche Person steht - ihr eigenes Herkommen, ihre Lebensentscheidungen, ihre Treue, ihre Wandlungen. Ohne all das zu berücksichtigen, verstehen wir Aussagen nicht, stimmen Behauptungen nicht, werden Forderungen mißverständlich.

Uns ist schlagartig bewußt, wie wichtig es ist, daß der Israeli Muki Betser das Recht der Palästinenser auf ihr Land anerkennt. Genauso wäre es wichtig, daß Juden, die Christen geworden sind, das Verhältnis von Kirche und Judentum bestimmen. Ich, als Nichtjude, als Deutscher, stehe da von meinem Herkommen her gesehen, draußen. Ich bin ja erst dadurch, daß ich Christ geworden bin, in eine Beziehung zum Judentum geraten. Ich habe keine Beziehung zum Judentum unabhängig davon, daß ich Christ bin.

Fragen Sie sich bitte jetzt, wie es Ihnen geht. Bestimmen Sie Ihren eigenen „Ort“. Vielleicht sind Sie in derselben Lage wie ich: Schon lange Christ und dadurch auch in einer Beziehung zum Judentum (wie das zugeht, darüber müssen wir noch gleich nachdenken). Vielleicht sind Sie auf dem Wege zum christlichen Glauben, durchaus interessiert, aber noch zurückhaltend. Dann sind Sie auch zugleich - ob Sie das wollen oder nicht! - auf dem Wege hin zu einer bestimmten Beziehung zum Judentum. Vielleicht sind Sie Jude und lesen aus Interesse am Christentum diese Predigt. Dann gibt es für Sie auch eine Brücke hin zu uns Christen: Es ist dieselbe, die sich für uns zu Ihnen hin ergibt - nämlich Jesus aus Nazaret. Vielleicht sind Sie Christ und waren früher Jude. Dann sind Sie in derselben Situation wie die meisten ersten Christen.

Gerade aber vom Verfasser des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte meint die neutestamentliche Forschung erarbeitet zu haben, daß er nichtjüdischer Christ war: Gewiß müssen wir uns vorstellen, daß er vor der Begegnung mit dem Glauben an Christus schon länger zum Kreis derer gehörte, die am Judentum interessiert waren, zu den sogenannten „Gottesfürchtigen“. Er selbst führt ja als erste Christin in Europa eine solche „Gottesfürchtige“ vor, die Lydia in Thyatira (Apostelgeschichte 16). Die christliche Verkündigung begann immer im Umkreis der Synagogen und wurde dort auch sogleich von denjenigen gehört und aufgenommen, die sich für das Judentum interessierten. So ein Mensch war wohl Lukas. Und er hat vor dem Hintergrund all dessen, was er vom Judentum schon wußte, dann den Glauben an den Jesus aus Nazaret, den Christus, angenommen. Und diesen Glauben verkündigt er mit seinem großen Werk.

Alle anderen neutestamentlichen Verfasser waren aber gewiß ursprünglich Juden - Markus, Matthäus, Paulus, Johannes! Sie lebten in der jüdischen Religion. Und sie sind den Weg geführt worden dahin, Christen zu werden. Das ist ein legitimer Weg. Das dürfen Juden auch heute. Menschlich gesagt: In voller eigener Freiheit dürfen sie den Weg gehen hin zum christlichen Glauben. Und wir anderen werden anerkennen, daß diejenigen, die sich auf diesen Weg begeben haben, zum Ziel gekommen sind, wenn sie einer unserer Kirchen beigetreten sind oder wenn sie messianische Juden geworden sind. Auch diese - die messianischen Juden - gehören für mich zur „katholischen“, zur allgemeinen Kirche.

Sie merken - liebe Leserin, lieber Leser, liebe Schwester, lieber Bruder -, daß sich einem ernsthaften und offenen Nachdenken eine große Vielfalt und Freiheit auftut. Da bin ich mit meiner letzten Bemerkung gewiß auch über die Grenzen hinausgegangen, die die Bekenntnisschriften der Kirche abstecken, der ich angehöre. So wichtig solche Grenzen, solche Eindeutigkeiten sind: Heute geht es um die großen Dimensionen und Beziehungen, in denen unser Glaube steht:

Erzähltraditionen im Alten und Neuen Testament machen mir Mut, das Bild von einer Familie zu wählen. Gott ist Vater und Mutter. Er hat Kinder.

Seine älteren Söhne und Töchter sind die Glieder der jüdischen Gemeinschaft. Gott läßt diesen Kindern die Freiheit, von ihm wegzulaufen oder ihm treu zu bleiben. Er gibt ihnen die Freiheit, wieder zurückzukehren. Er sorgt sich besonders um diejenigen, die scheinbar immer dem Glauben treu geblieben waren, tatsächlich aber die Verbindung zu ihm verloren haben. Jesus selbst hat diese Tragik in seiner großartigen Geschichte von den beiden Söhnen, die beide in die Gefahr geraten, verloren zu gehen, zum Ausdruck gebracht (Lukas 15).

Gottes jüngere Söhne und Töchter sind diejenigen, die von anderen Völkern hinfinden zum Glauben an ihn. Im geistlichen Herzen des Judentums gibt es die Hoffnung darauf, daß viele Menschen zu diesem Ziel gelangen werden (Jesaja 2). Die „Gottesfürchtigen“ am Rande der Synagogen in neutestamentlicher Zeit waren solche Menschen. Es gibt den Weg für die Nichtjuden - von mir aus gesagt: für uns Nichtjuden - hin zum Heil, hin zum Leben - indem sie nämlich Juden werden.

Dann aber gibt es noch eine Gruppe jüngerer Söhne und Töchter. Das sind all diejenigen, die dem Juden Jesus vertrauen, die Jesus „anhängen“, „sich an ihn anklammern“ - wie es Lukas am Ende unseres Textes sagt. So, wie er selbst sich angeklammert hat, sich angehängt hat an diesen Jesus, weil er nur in ihm das Leben finden konnte.

Hier müssen wir in unserem Nachdenken - liebe Schwester, lieber Bruder - kurz innehalten. Ich bin der festen Überzeugung, daß hier das Problem liegt, daß hier die eigentliche Herausforderung sich auftut:

Ich möchte jetzt ganz von mir reden. Bitte tragen Sie sich im Sinne Ihrer eigenen Situation mit ein, oder bestimmen Sie sich eigenständig. Ich komme zu Gott in eine Beziehung, weil ich auf Jesus aus Nazaret vertraue, weil für mich dieser Jesus das Leben ist, den Zugang zu Gott und allen seinen Verheißungen eröffnet, weil er - traditionell gesprochen - „der Christus“ ist, „der Messias“ ist.

Und nur dadurch komme ich auch in eine Beziehung zum Judentum, denn Jesus war Jude, denn über ihn kann ich eintreten in den Reichtum dieser großartigen Gottesbeziehung.

Aber gerade dieser Jesus ist es auch, der mich vom Judentum trennt. Nicht, weil er Jude war - das wird auch von meinen jüdischen Mitmenschen anerkannt. Nicht, weil er Rabbi gewesen ist - auch das wird von meinen jüdischen Mitmenschen anerkannt und geachtet. Aber die Trennung ergibt sich, weil ich ihn für „den Christus“ halte, den eigentlichen und wahren Geber des Lebens. Das lehnen - für mich schmerzlich - meine jüdischen Mitmenschen ab.

Jedoch, ich kann den Anspruch, den ich mit Jesus verbinde, nicht aufgeben. Wenn ich das täte, würde ich das gesamte Zeugnis der jüdischen Verfasser der neutestamentlichen Schriften und auch dasjenige des Nichtjuden Lukas beiseite wischen. Das kann ich nicht. „Christliche Theologie wird nicht einmal hypothetisch davon ausgehen, es gäbe Gott nicht, er stünde uns in der Kraft des Heiligen Geistes nicht gegenwärtig zur Seite, Christus sei nicht der Erste und der Letzte und der Lebendige. Was ... mit dem schönen Wort Toleranz bezeichnet wird, ist de facto Verrat. ... Wer sind wir denn, Jesus Christus zur Disposition zu stellen?!“ (Michael Trowitzsch).

Als christlicher Prediger darf ich Jesus Christus nicht wie eine Variable behandeln. Und ich kann es nicht. Auch wenn dadurch meine Beziehung zum Judentum spannungsvoll wird.

Aber, ist das eine böse Spannung? Solange diese Spannung ausgehalten wird, ohne Macht über die jeweils anderen ausüben zu wollen, solange kann diese Spannung ertragen werden. Solange diese Spannung so ausgehalten wird, daß dem jeweils anderen die Freiheit belassen wird, in Frieden zu leben, solange ist Zukunft - für alle! - möglich.

Deshalb beeindruckt mich so besonders, daß Lukas - und nur er tut das - vor die Szene von der Tempelreinigung das Weinen Jesu über Jerusalem einordnet. Mit der Trauer über die Zerstörung Jerusalems - auf die Lukas ja zurückschaut! - baut er eine Brücke zu der Religion, für die er sich so lange selber interessiert hatte, zu der Religion, zu der so viele seiner Mitchristen gehört haben.

Bischof Theophil Wurm, Württemberg, hat meines Wissens schon während des Zweiten Weltkrieges in einer Predigt den Zusammenhang hergestellt zwischen den brennenden Synagogen der Pogromnacht des Jahres 1939 und dann den brennenden Kirchen der Bombennächte. Er hatte erkannt: Es gibt eine tiefe Solidarität und Verbundenheit zwischen uns älteren und jüngeren Geschwistern. Im Leid gibt es diese, und auch im Zeugnis des Glaubens vor der Welt. Wir werden - wie bei Geschwistern so häufig - nicht in allem einer Meinung sein, aber wir sollen und dürfen unsere Geschwisterlichkeit in Erinnerung behalten, ihr uns bewußt werden, sie leben.

Möge dazu dieser Sonntag heute ein kleines Stück beitragen. Amen. Komm Schöpfer Geist, der Du uns verheißen bist von Jesus aus Nazaret, der für mich der Christus ist, als Führer und Tröster von Gott her, von dem Gott her, den Israel schon so lange bezeugt. Amen.

Dr. Rainer Stahl, Erlangen
Generalsekretaer des Martin-Luther-Bundes
E-Mail: gensek@martin-luther-bund.de

 


(zurück zum Seitenanfang)