Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

11. Sonntag nach Trinitatis, 31. August 2003
Predigt über Lukas 18, 9-14, verfaßt von Paul Kluge
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"Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:
„ Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.
Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“

Liebe Geschwister,

das richtige Bewußtsein, ein „armer, elender, sündiger Mensch“ zu sein, verkehrt sich gelegentlich in ein pharisäisches Verhalten – wenn nämlich jemand sein Sünderbewußtsein zur Vollkommenheit treibt und sich damit zum Maßstab für andere macht. Solche Menschen hat es zu allen Zeiten des Christentums gegeben. Menschen, die auf Säulen lebten, öffentlich bis zum Umfallen fasteten oder sich kasteiten; Menschen, die teure Ablaßbriefe sammelten und an die Wand hängten oder sich über Pilgerwegen quälten und anschließend ihre Souvenirs zur Schau trugen. Sie machten und machen sich selbst zum Vorbild für andere, indem sie zeigen, wie sehr sie für ihre Sünden büßen – als wäre die Erlösung durch Christus nie geschehen. Andere Menschen gibt es, die zeigen das zwar nicht, reden aber gern davon, was sie doch für schwache Menschen seien und wie sehr sie der Gnade bedürften, stellen sich als gering dar und üben doch Macht aus.

Zum Beispiel jene Frau L. aus einer kleinen Stadt in der Mitte Deutschlands; inzwischen ist sie fast 80 Jahre alt. Sie wuchs in einem ebenso frommen wie strengen Elternhaus auf, die üblichen Vergnügen junger Leute waren ihr verboten, sonntäglicher Gottesdienstbesuch und regelmäßige Teilnahme an der wöchentlichen Bibelstunde waren Pflicht. Durch diese Gewohnheit wurde die Gemeinde ihr bald zur erweiterten Familie, und weil es eine kleine Gemeinde war, achtete man sehr aufeinander, ja, kontrollierte sich gegenseitig und wies einander gegebenenfalls zurecht. Auch half man einander zurecht, wenn jemand unverschuldet in Not geraten war. Auf das „Unverschuldet“ aber kam es an, wenn jemand Hilfe brauchte.

Nun gab es in der Gemeinde nicht wenige, die manches Unerlaubte in den eigenen vier Wänden ohne Gewissensbisse doch taten. Frau L. aber nahm schon als Kind alles sehr ernst und genau, hielt sich streng an die Regeln ihrer Gemeinschaft und fühlte sich den anderen überlegen. Abends aber vor dem Schlafengehen kamen ihr oft die Tränen über sich selbst, wenn sie betete, was die Mutter sie gelehrt hatte: „Allmächtiger Gott, barmherziger Vater. Ich armer, sündiger Mensch bekenne dir alle meine Sünde und Missetat, die ich begangen habe mit Gedanken, Worten und Werken, womit ich dich erzürnt und deine Strafe zeitlich und ewig wohl verdient habe. Sie sind mir alle von Herzen leid und reuen mich sehr und ich bitte dich im Vertrauen auf das unschuldige, bittere Leiden und Sterben deines lieben Sohnes Jesus Christus: Du wollest mir armem, sündhaften Menschen gnädig und barmherzig sein, mir alle meine Sünden vergeben und zur Besserung meines Lebens deines Geistes Kraft verleihen.“ Denn während sie betete, ließ sie den vergangenen Tag Revue passieren, und dabei fielen ihr manche Gedanken, Worte und Werke ein, die nicht hätten sein sollen und dürfen. Je älter sie wurde, um so mehr bekam sie die Werke unter ihre Kontrolle, ihre Gedanken aber um so weniger. Das steigerte sich noch, als sie einen jungen Mann näher kennenlernte, und ihre Schuldgefühle raubten ihr oft den Schlaf. Doch sie verhielt sich, wie es erwartet wurde. Als ihre langjährige Schulfreundin vor der Ehe schwanger wurde, beendete sie die Freundschaft abrupt, ein „gefallenes Mädchen“ war für sie kein Umgang.

Als der junge Mann in den Krieg mußte, verlobten sie sich, Frau L. engagierte sich im Frauenkreis der Gemeinde, der bald zum Witwenkreis wurde, und als ihr Verlobter in Kriegsgefangenschaft starb, gab es für sie nur noch die Gemeinde. Sie tröstete Witwen und Waisen, pflegte Alte und Kranke, besorgte Flüchtlingen Unterkunft, Essen und Kleidung. An Heirat dachte sie nicht mehr, die Gemeinde war nun ihre einzige Familie.

Auch der Pastor kam nicht aus dem Krieg zurück, seine Frau zog mit ihren Kindern fort. Frau L. hielt die Gemeinde zusammen, organisierte Gottesdienste, führte die Kirchenbücher. Nach einigen Jahren bekam die Gemeinde wieder einen Pastoren, Frau L. nahm ihn unter ihre Fittiche. Sie sagte ihm, was er wie zu tun habe, wen zu besuchen und wen warum nicht. Als er das dunkelhäutige „Besatzungskind“ einer ledigen Mutter im Gottesdienst taufen wollte, kam es zum Streit, und als er es gegen ihren Willen doch tat, zum Bruch. Es dauerte nicht mehr lange, bis der Pastor sich nach einer anderen Gemeinde umsah und ging.

Frau L. sah das als Eingeständnis eines schweren Fehlers und sich in ihrer strengen Haltung bestätigt. Mit diesem Triumph empfing sie den Nachfolger. Auch der blieb nicht lange. Frau L. fühlte sich inzwischen unentbehrlich, sah es als ihre Pflicht, sich für die Gemeinde aufzuopfern. Wenn sie abends betete, in Gedanken, Worten und Werken gesündigt zu haben, fiel ihr kaum noch etwas ein. Doch davon, daß sie eine Sünderin war und blieb, ein schwacher Mensch, auf Gnade angewiesen, sprach sie oft und gern, auch davon, wie wenig sie doch für die Gemeinde tun könne. Besonders gern aber sprach sie über die Verderbtheit der gegenwärtigen Zeiten und ihrer Menschen, namentlich der Jugend.

Ein dritter Pastor kam und ging, Frau L. machte weiter, steigerte sich gar noch und wurde Lektorin, erwarb schließlich das Recht zur freien Wortverkündigung. Als unwürdige Dienerin der Gemeinde bezeichnete sie sich gelegentlich und klagte darüber, daß es davon so wenige gäbe. Vielen fehle es wohl an der Kraft des Geistes Gottes. Was der zu bewirken vermöge, könne man an einem armen, schwachen Menschlein wie sie ja sehen.

Sie wurde mit der Zeit immer selbstgerechter, auch selbstherrlicher. Die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zogen sich nach und nach zurück, bis sie schließlich allein war. Sie genoß es, alle Last auf ihren schwachen Schultern tragen und sich für ihren Heiland aufopfern zu dürfen.

Wieder kam ein neuer Pastor. Dem Alter nach hätte er ihr Sohn sein können, und so behandelte sie ihn auch. Da aber war sie an den Falschen geraten. Es gab viele und lange Gespräche, zunächst zwischen den beiden, dann zwischen ihr und dem Kirchenrat, man suchte Hilfe bei der Gemeindeberatung, schaltete den Kreiskirchenrat ein: Nichts nützte. Sie verstand nicht, warum sie etwas ändern sollte, schließlich habe sie doch alles nur für die Gemeinde getan und wisse auf Grund ihrer langen Erfahrung, was gut und richtig sei.

Das Ende vom Lied war, daß der Kirchenrat ihr alle Aufgaben abnahm und ihr jede Aktivität in der Gemeinde untersagte. In ihren Augen ist das ebenso ungerechtfertigt wie ungerecht, sie sieht sich als unschuldiges Opfer übler Machenschaften. Daß sie, die sich groß gemacht hat, sich eben dadurch am Ende selbst erniedrigt hat, erkennt sie nicht.

Uns, liebe Geschwister, steht es nicht an, über diese Frau zu urteilen, denn es gab all die Jahre auch Menschen, die sie gewähren ließen. Es ist ja so bequem, wenn einer sich um alles kümmert. Das demütigende Ende wäre zu vermeiden gewesen, und daß es dann doch kam, liegt wohl an vielen Menschen. Frau L. ist auch Opfer. Wir können an ihr jedoch sehen, wie auch im selbstlosen Einsatz für die Gemeinde, im opferbereiten Dienst zur Ehre Gottes die Versuchung der Selbstgerechtigkeit und der Selbstrechtfertigung lauern. Davor bewahre uns Gott. Amen

Gebet:

Gott, du machst es uns aber auch schwer: Erst müssen wir mühsam begreifen, daß wir dich mit unseren guten Taten nicht beeinflussen können. Dann müssen wir uns als „arme, elende, sündige Menschen“ akzeptieren lernen, die allein durch deine Gnade vor dir bestehen können. Und wenn wir dann versuchen, gute Sünder zu sein, sind wir schon wieder der Versuchung erlegen, dich beeinflussen zu wollen.

Darum lehre uns erkennen, daß wir nichts, wirklich nichts tun können und deshalb auch nichts zu tun brauchen, dich gnädig zu stimmen. Denn du bist gnädig und hast uns in Jesus Christus deine Gnade ein für alle mal erwiesen. Darauf dürfen wir vertrauen, und dafür können wir nur danken, indem wir weitergeben, was wir von dir empfangen haben: Glaube, Hoffnung und Liebe.

Liedvorschlag

Es ist das Heil, EG 342; Such, wer da will, EG 347; Es ist in keinem andern Heil, EG 356; Herzlich lieb hab ich dich, o Herr, EG 397

Paul Kluge, Provinzialpfarrer i. R., Magdeburg
Mail: Paul.Kluge@t-online.de

 


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