Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

12. Sonntag nach Trinitatis, 7. September 2003
Predigt über Markus 7, 31-37, verfaßt von Tom Kleffmann
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Vorbemerkung: Die Predigt ist für eine der Göttinger Innenstadtgemeinden gedacht. Die Lutherzitate sind folgendem Aufsatz entnommen: O.Bayer, Tu dich auf! Verbum sanans et salvicans und das Problem der natürlichen Theologie. In Ders., Schöpfung als Anrede, Tübingen 1986, S.62-79.

Gnade sei mit euch und Friede, von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Leben heißt sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, die Sonne auf der Haut, die Luft in den Lungen spüren, gehen und rennen, und wieder: sehen, hören, riechen, schmecken. Mit den Augen in der Freiheit des blauen Himmels sein. Eine Welt erfahren mit offenen Sinnen, Menschen in die Augen sehen – Kindern, Eltern, Enkeln, Geliebten und Fremden. Einstimmen in den vertrauten Klang ihrer Worte, Eintauchen in den Fluß des Gespräches, in dem wir uns finden.

Totsein heißt: nicht sehen, nicht hören, nicht riechen, nicht schmecken, nicht tasten. Nicht im freien Blau des Himmels sein, in der Freiheit der Atemluft, in den Augen des Nächsten, sondern abgetrennt sein, in sich abgeschlossen, allein. Taub und stumm sein.

Leben heißt für uns Menschen, daß wir hören und reden. Wir sehen, riechen, schmecken nicht nur, sondern in alledem ist es die Sprache, die uns die Welt aufschließt. In der Sprache findet sie Sinn. In der Sprache bin ich Ich und du bist Du. Du sprichst mich an in der Stille. Ich verstehe dich. Ich antworte dir. Das ist das Leben. Wir Menschen leben im Gespräch, oder wir leben garnicht. Und auch die Sonne, die Luft, das Blau des Himmels, die Blumen der Erde wären sinnlos und tot, wenn sie ihren Sinn, ihre lebendige Wärme, nicht im Wort hätten, das uns anspricht.

Leben wir wirklich – oder sind wir in Wahrheit schon tot? Hören wir die Sprache des Lebens? Verstehen wir den Sinn der Dinge – den Sinn des Himmels, der Erde, der Sonne? Hören wir, was das Sonnenlicht, der Regen, die Bäume, die Sterne uns sagen wollen? Hörst du, was der Säugling dir sagen will? Hörst du, was der Bettler dir sagen will? Hörst du, was Matthäus, was Markus, Lukus und Johannes dir sagen wollen?

„Die ganze Welt ist voller Sprache“ – aber wir „haben Ohren und hören nicht“. Die ganze Welt ist voller Sprache – aber wir verstehen nicht. Wir sind taub und stumm – allzu lange.

Lesung: Mk. , [31]32-37.

Es geht nicht nur um einen Taubstummen. Es geht um unser Leben. Es geht darum, ob wir verstehen. „Die ganze Welt ist voller Sprache“ – aber wir sind taub und stumm. „Schafe, Kühe, Bäume, wenn sie blühen, sprechen: Hepetha! [...] Alle Kreaturen rufen zu dir“ – aber du bist taub. Mein Gott, „wir sind nicht würdig, einen Vogel singen und eine Sau grunzen zu hören“. So predigt Martin Luther diesen Text, heute vor 465 Jahren, am 8.September 1538 (WA 46,495,21-23.30) – und es scheint nicht, daß wir heute mehr verstehen von der Sprache des Lebens. „unser Haus, Hof, Acker, Garten und alles [ist] voll Bibel. Da Gott durch seine Wunderwerk nicht allein predigt, sondern auch an unsere Augen klopft, unsere Sinne rührt und uns gleich ins Herz leuchtet“.Predigt 25.5.1544, WA 49, 434.

Gott spricht zu uns, in jedem Augenblick. Worte, die wir sehen könnten, wenn wir die Sprache verstünden. Kühe, Bäume, Gräser, die freie Luft, die Speise im Gaumen, das Licht in der Dunkelheit – das ist Sprache Gottes. Er will unser Leben, unser Ohr; er bemüht sich um uns, er rührt an uns. Aus dem Nichts unserer Angst und Einsamkeit spricht er uns die Fülle des Lebens zu, gemeinsamen Lebens. Aber wir verstehen es nicht. Es berührt uns nicht, allzulange schon. So wenig wie unsere Zeit den einen Sinn der Bibel versteht, den einen Sinn des Evangeliums, so wenig versteht sie die Sprache von Himmel und Erde.

Unsere Welt ist taub, und weil sie taub ist, ist sie stumm. Sie ist umso tauber und stummer, je lauter sie ist. Gerade im lauten und sicheren Gerede ist sie taub und stumm. Ich meine das Gerede des Alltags, das uns umhüllt wie Watte. Ich meine nicht das Gespräch mit den Kindern am Abend, und auch nicht das abendliche Plaudern mit der Nachbarin über das Wetter, am Zaun. Es gibt eine Heiterkeit und eine lächelnde Leichtigkeit, von der ich mir vorstellen kann, daß Gott sie liebt. Aber ich meine das Geschwätz der Tagessorgen, die sich so ernst nehmen und doch vom Leben garnichts wissen. Das Geschwätz um die Dinge, die du besitzt. Das Geschwätz um deine verletzte Eitelkeit. Das Gerede um die Schuld der Anderen. Das Gerede, mit dem du dich schmückst und putzt vor den Anderen. Das Gerede, in dem du nur ein Schatten bist. Das Gerede des Alltags, das sich abends in den Fernsehshows noch einmal spiegelt, in glitzernder, strotzender Blödigkeit. Das sich spiegelt in der leeren Geschäftigkeit von Politikern, die jedem nach dem Mund reden und nicht an die Wurzel rühren. Die Rufe der Börsenhändler. Die Zahlensprache einer Technikwelt, in deren polierter Oberfläche sich der Mensch als Gottesfratze spiegelt. Ein lautes, überlautes, dröhnendes Gerede füllt die Welt, und es übertönt die Lebenssprache Gottes.

Und noch nicht einmal auf sich selber hören sie. Auf den inneren Schrei der Angst. Auf die Stimme einer großen Sehnsucht. Jeder Mensch wacht doch einmal auf, auch im Land der Satten. Jeder ahnt doch einmal, was es heißen könnte, die Sprache des Lebens zu verstehen. Vielleicht am Grab. Vielleicht, als dir ein Mensch seine Liebe erklärte. Aber das reicht nicht. Es einmal ahnen, was es heißen könnte, die Sprache des Lebens zu verstehen, reicht nicht.

Und die Stummheit und Leere, weil keiner sie aushält, schlägt um in den Lärm dieser Welt: In den Lärm der Kriege, der Bomben, in das Geschrei der Fanatiker, in das Schnarren des Hasses. Wer würde den Lügen der Kriegsherren glauben, wenn er die Lebenssprache Gottes verstünde?

Das alles ist unsere Erbsünde. Der Mensch kreist um sich selbst. Er ist gefangen in seinen Lebenslügen, nicht erst seit heute und nicht erst seit 1933. Der Kampf um die Wahrheit ist viel älter. Der Mensch hat die Angst nicht ausgehalten, mit der er einsam vor Gott steht in der Nacht, wenn er erwachsen ist und den Tod kennt. Er hat die Angst nicht ausgehalten, daß Gott nicht spricht und ihm den Sinn des Lebens sagt. Lieber wie ein Tier sein als in dieser Angst ein Mensch.

Und zugleich mit der Angst kam die Lust, selbst der Gott der Welt zu sein, selbst das Leben zu bestimmen, sich selbst die Welt zu denken wie es mir paßt und in ihrer Mitte zu sitzen wie die Spinne im Netz. Aber es ist eine Lüge. Der Mensch ist nicht Gott. Unser Stolz und unsere Macht sind erbärmlich, und im Grund wissen wir das auch. Gäbe es nicht die kleinen Kinder, gäbe es nicht die Trauer, gäbe es nicht die Sekunde erschütternder Liebe - dann wäre allein die Lüge das Gesetz unserer Sprache, die große Lebenslüge. In Wahrheit ist der Mensch taub und stumm. – –

Aber er nahm ihn aus der Menge beiseite.

Uns hat er beiseite genommen. Deswegen sind wir hier. Deswegen sind wir Christen. Es ist etwas geschehen.

Auch wir haben taube Ohren geerbt, auch wir leben noch im Geschwätz der Welt – aber er hat uns doch auch schon beiseitegenommen. Er hat das Geschwätz unterbrochen. Wir haben es erlebt, einmal und noch einmal und immer wieder: Er hat uns herausgezogen aus dem Geschwätz der Welt und seine Wahrheit hat uns erschüttert.

Und er sah auf zum Himmel und seufzte.

Dieses Seufzen reicht bis heute. Hört ihr es? Dieser Mensch seufzt, weil wir taub sind und stumm. Er seufzt mit der verstummten Kreatur, die endlich auf Sinn und Leben wartet. In diesem Menschen seufzt Gott, und das Seufzen ist der Wiederklang unserer Stummheit. Und es ist schon das Seufzen seines Todes, das unsern Tod birgt. Erst wenn Gott ganz zu uns kommt, wenn er selbst unsere stumme Einsamkeit auf sich nimmt, sind wir erlöst.

Und er legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hephatha, Öffne dich!

Wie berührt uns Gott? Es schmerzt, wenn er die Finger in die Ohren legt. Unsere Angst, die wir verleugnen, ist ein Abgrund, ein Grauen. Aber dieser Mensch spricht in der Vollmacht dessen, der uns näher ist, als wir uns selbst. Er spricht in der Vollmacht des Schöpfers. Tu dich auf! Und indem er es sagt, geschiehts. In einem Augenblick spricht Gott zu dir und alle Lügen, deine Engherzigkeit, deine Blindheit, die verschenkten Jahre sind dir verziehen. Das Wort Gottes. Und du verstehst den Sinn der Erde und du hörst den Ruf der Schreienden, die dich brauchen.

In diesem Augenblick tauchst du auf aus dem Ozean der Stummheit wie der Täufling aus der Taufe. Und du bist frei. Und nimmst teil am wahren Leben.

Die Angst und die Lebenslügen mögen wiederkommen – es ist unser Erbe, und es verstrickt uns täglich. Aber in dem Augenblick, wo du das Wort verstehst: Öffne dich!, und es geschieht, weil er es spricht – da wirst du neu geschaffen. Du wirst Teil eines Gespräches, was von Ewigkeit zu Ewigkeit reicht; ein Gespräch zu dem auch die Sterne und die Bäume und die Kühe gehören. Du kennst seinen Sinn!

Er hat alles wohl gemacht: die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.

Sein Friede, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

PD Dr. Tom Kleffmann, Göttingen
tkleffm@gwdg.de

 


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