Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

12. Sonntag nach Trinitatis, 7. September 2003
Predigt über Markus 7, 31-37, verfaßt von Angelika Überrück
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Gemeinde!

Mich faszinieren die verschiedenen Personen, die in dieser Geschichte von der Heilung des Taubstummen vorkommen. Ich möchte mir die drei Personen bzw. Personengruppen deshalb gerne mit Ihnen ansehen.

Da ist zunächst die Hauptperson der Geschichte, der Taubstumme selbst.
Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber sein Name wird nicht genannt. Wahrscheinlich ist sein Name für den Inhalt der Geschichte nicht wichtig. Im Mittelpunkt steht vor allem seine Krankheit. Manchmal machen wir das heute auch noch so, dass wir jemanden beschreiben über ein charakteristisches Merkmal. Wir wissen auch nicht, ob der Taubstumme von Geburt an behindert war oder ob ein schlimmes Erlebnis ihm Ohren und Mund verschlossen hat. Auch das scheint also nicht von Bedeutung zu sein.
Das Leben als Taubstummer zur Zeit Jesu war sicher alles andere als angenehm.
Sie kennen bestimmt auch etliche Menschen, die schlecht hören. Oft erzählen sie, wie schwer es ist, wenn man nicht versteht, was die Anderen sagen. Wie schwer es ist, dauernd nachfragen zu müssen, womöglich auch noch dumme Bemerkungen einstecken zu müssen. Der Taubstumme hat nicht einmal diese Möglichkeiten gehabt. Er sah, wie andere lachten, aber warum, blieb für ihn unklar. Er sah, wie Andere redeten, aber worüber, blieb ihm verborgen. Ob sie gar über ihn redeten und lachten, konnte er sich nur selbst fragen.
Neben der eigenen Unsicherheit steht die Unsicherheit der Mitmenschen. Und so erfolgt oft der Rückzug. Der Taubstumme lebt isoliert und verlassen. In der damaligen Zeit kam dazu, dass Krankheiten oft als eine Strafe von Gott angesehen wurden. Ich denke, es war ein sehr einsames und abgeschnittenes Leben, das dieser Mann führte.
Heute ist das sicher an manchen Punkten für taubstumme Menschen einfacher, da es ja die Gebärdensprache gibt. Im Fernsehen in den Nachrichten haben Sie sicher schon Gebärdendolmetscher gesehen, die die Nachrichten in Gebärdensprache übersetzen. Andererseits: wer von uns beherrscht sie schon? Und daran scheitert dann auch schon wieder eine normale Verständigung. Und wenn Sie ehrlich sind: wann sind Sie zuletzt einer Person begegnet, die taubstumm ist? Wirklich wahrnehmbar kommen sie auch in unserem Alltag nicht vor. Und auch viele schwerhörige Menschen bei uns ziehen sich zurück, weil es ihnen zu mühsam ist, immer wieder neu um deutlichere Aussprache, um lauteres und langsameres Sprechen bitten zu müssen.
Und so kommt der Taubstumme zu Jesus. Ich habe mich gefragt, ob er wohl wusste, zu wem er da gebracht wurde. Gebärdensprache wird er nicht gekannt haben, Lesen konnte er sicher auch nicht. Also: vermutlich ein mutiger Schritt zu einem Unbekannten. Mutig schon deshalb, weil er ja nicht wissen konnte, was sie mit ihm vor hatten. Er wird gefühlt haben, dass sie es gut mit ihm meinten, denn sonst wäre er sicher nicht mitgegangen.
Und dann kommt Jesu Berührung und das Wort: „Effata - öffne dich“. Das hört er wohl noch nicht. Doch dann kann er hören und reden.
Ich denke, er muss total überwältigt gewesen sein. Mit Jesu Heilung ist er aus seiner Isolation befreit. Er kann am normalen Leben teilnehmen, lachen, wenn die Anderen lachen, weinen, wenn die Anderen weinen. Er gehört dazu. Er ist wieder einer von ihnen. Die Heilung ermöglicht ihm Gemeinschaft und neues Leben.
Für den Taubstummen ist diese Begegnung mit Jesus der Beginn eines normalen Lebens, der Beginn eines Lebens in der Gemeinschaft mit anderen Menschen.

Versetzen Sie sich mit mir nun in die anderen, in die Gruppe der umstehenden Leute.
Sie sind sicher gekommen, weil sie von Jesus schon einiges gehört haben. Weil sie auch gehört haben, dass er Kranke nicht wegschickt. Deshalb werden sie auch den Taubstummen zu ihm gebracht haben. Schon damit haben sie ihn ein Stück weit in die Gemeinschaft wieder aufgenommen. Martin Luther hat diese Haltung der Menschen, die den Taubstummen aus seiner Isolation herausholen, mit den folgenden Worten beschrieben: „Das Gute an dieser Historie ist nun dies, dass sie sich des armen Menschen angenommen haben wie ihrer eigenen Not. Damit ist uns ihr Glaube und ihre Liebe angezeigt. Ihre Liebe ist hier so gemalt, dass sie fremde Sorge auf sich nimmt. Sie sehen nicht auf sich, sondern auf den armen Menschen und denken, wie ihm Hilfe werden kann.“
Heilung des Taubstummen wird wohl keiner erwartet haben. Aber sie wollten es wohl einfach probieren, die Situation dieses Menschen zu verändern. Um so größer wird das Erstaunen gewesen sein. Und vermischt damit vielleicht auch ein wenig Angst, denn was ist das für einer, der sogar Taube zum Hören und Stumme zum Reden bringen kann? Was sind das für Heilpraktiken, die er beherrscht?
Und so beginnen die Menschen über Jesus zu reden, nicht anders als bei uns heute auch. Trotz des Verbotes, die Sache weiterzuerzählen, wird Jesu Heilung des Taubstummen immer weiter erzählt. Dass die Menschen nicht schweigen können, ist völlig klar, denn wer kann schon schweigen, wenn es etwas sehr Ungewöhnliches erlebt hat? Sie versuchen sich ein Bild zu machen. Sie versuchen herauszubekommen, was er für einer ist. Ob er einer von den vielen Wunderheilern ist, die es gibt und deren Methoden sich dann doch nur als Augenwischerei herausstellen oder ob er wirklich etwas bewirken kann. Fremd erscheint mir das Verhalten der Menschen absolut nicht. Wie oft erleben wir es bis heute immer wieder, dass Menschen auf eine neue Wunderdiät, auf eine neue Wunderheilung, auf ein neues Zaubermittel für Behandlung vertrauen. Das endet dann häufig damit, dass sie viel Geld und vor allem viel Vertrauen verlieren. Weil es dem Anbieter nur darum ging sich selbst zu bereichern. Ihm war es nicht wichtig, dem Andern zu helfen. Da ist es schon gut, wenn man versucht herauszubekommen, was an jemandem dran ist.

Und die dritte Person in dieser Geschichte ist natürlich Jesus selbst.
Er benimmt sich ganz in der Art und Weise der Wunderheiler. Er nimmt den Kranken zur Seite, das heißt natürlich auch einmal: der ist mir jetzt wichtig, der und kein Anderer. Auch das kennen wir: wenn wir mit jemandem etwas wirklich Wichtiges besprechen wollen, dann versuchen wir mit ihm oder ihr allein zu sein. Jesus legt dem Taubstummen dann die Finger in die Ohren und den Speichel auf die Zunge. Mich erinnert das ein wenig daran, dass ich bei meinen Kindern manchmal, wenn sie gefallen waren, ein wenig von meiner Spucke genommen habe und es auf die betroffene Stelle getan habe und schon waren die Schmerzen weg, frei nach dem Motto: Mamas Spucke heilt alle Wunden.
Von Jesus würde ich mir da schon eine andere Handlungsweise wünschen. Eine, die ihn eindeutig als Sohn Gottes identifizierbar macht. Eine, die ihn deutlich herausnimmt aus der Menge der Wunderheiler seiner und unserer Zeit. Denn mit dieser Heilungsmethode arbeitet Jesus wie viele andere Heiler seiner Zeit auch, vielleicht als ein besonders guter.
Warum macht Jesus die Sache nicht eindeutiger?
Das wird eigentlich erst durch das Verbot zu reden deutlich. Denn dieses sogenannte Schweigegebot macht deutlich, dass Jesus erst als der zu erkennen ist, der er ist, nach Karfreitag und Ostern. Erst mit seinem Tod und seiner Auferstehung wird er eindeutig aus der Schar der Wunderheiler seiner Zeit herausgenommen und erkennbar als Sohn Gottes. Und auch seine Wunder und Taten werden erst von daher ganz verständlich. Erst dann ist deutlich, dass mit diesem Jesus Gott uns ganz nahe gekommen ist, dass er mit uns geht durch unser Leben.
Und damit ist dann auch klar, warum diese Geschichte bis heute Bedeutung für uns hat. Nicht, weil da irgendwann mal ein Taubstummer geheilt wurde, sondern weil Jesus bis heute Menschen heilen möchte. Weil Jesus bis heute Menschen aus ihrer Isolation herausholen möchte. Nicht körperlich, das ist vorbei. Aber denen möchte er helfen, die sich bei uns verschließen.
Sie alle kennen sicher Menschen, die allein sind und isoliert, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben, weil sie Angst haben vor der Fremdheit der Anderen, weil sie das Gerede der Anderen nicht mehr ertragen. Am Anfang ist da nur der Rückzug. Aber irgendwann ist die Isolation so groß, dass sie sich allein nicht mehr helfen können, dass sie alleine nicht mehr herauskommen.
Da braucht man dann Menschen wie in unserer Geschichte, die einen sehen, dem es schlecht geht und ihn mitnehmen, ihn herausholen. Da sind wir gefragt. Da können wir die sein, die jemanden sehen und wieder in die Gemeinschaft hereinnehmen. Das kann ganz einfach sein, einfach mal vorbeigehen und sich Zeit nehmen. Nicht nur Gespräche zwischen Tür und Angel führen, sondern ganz allein, abseits, ohne Trubel, mit viel Zeit. Das kann auch unser Gebet sein, ein intensives Gebet für jemanden, der uns am Herzen liegt.
Vielleicht werden Sie mich jetzt auch fragen wollen, wo haben wir heute so konkrete Hilfe, wo kommt Jesus uns heute noch so nahe? Wenn wir gleich miteinander in diesem Gottesdienst das Abendmahl feiern, dann ist das für mich bis heute eine Form, wo wir einander nahekommen. Aber wo wir vor allem auch Gott ganz nahe kommen. Wo er für uns ganz nah und erfahrbar wird. Und ich habe es oft erlebt, dass Menschen, die nach außen hin sehr zu und ganz in sich gekehrt wirkten, plötzlich sehr bewegt waren beim Abendmahl. Dass sie sich auftaten und Neues an sich heranlassen konnten.
Amen

Liedvorschläge: 452 Er weckt mich alle Morgen
289 Nun lob, mein Seel, den Herren (Graduallied)
304 Lobet den Herren (Psalm des Sonntags)
321 Nun danket alle Gott
320 Nun lasst uns Gott dem Herren

Angelika Überrück
Pastorin
Jakob-Kaiser-Str. 14
21337 Lüneburg
Tel.: 04131/852731
Email: RUeberrueck@t-online.de

 


(zurück zum Seitenanfang)