Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

13. Sonntag nach Trinitatis, 14. September 2003
Predigt über Lukas 10
, 25-37, verfaßt von Birte Andersen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Es ist, als passe Barmherzigkeit nicht in unsere Welt. Im Hinblick auf Jesu Erzählung von seiner Geschichte sagen wir auf der einen Seite, daß die Welt durch sie die Barmherzigkeit als Tugend gelernt habe. Wir meinen, daß einer der tiefsten Werte des Abendlandes - die Barmherzigkeit ist. Und daran ist vieles richtig und wahr. Bei uns versuchen wir, uns derer anzunehmen, die unserer Hilfe bedürfen, ganz gleich ob wir mit ihnen verwandt sind oder nicht.

Zugleich aber gerät der, der Barmherzigkeit übt, in Schwierigkeiten. Heutzutage würde man es sich zweimal überlegen - der Wirt hätte den Überfallenen sicher nicht angenommen, er liefe ja Gefahr, ihn nicht wieder loszuwerden - so wie der norwegische Kapitän, der in seiner barmherzigen Tat 400 Flüchtlinge aufnahm - und nicht wieder loswurde, weil niemand sie haben wollte. Oder vielleicht würde heute niemand dem überfallenen Mann helfen, weil 15 andere nach ihm den, der hilft, berauben könnten. Und der einzelne, der den Anblick leidender Menschen nicht ertragen kann in den Fersehnachrichten oder danach - oder der in seiner Arbeit leidenden Menschen begegnet, kann keine Barmherzigkeit üben, weil die Barmherzigkeit in starre Strukturen eingezwängt ist und formal gesehen von anderen wahrgenommen wird - von anderen Instanzen und anderen Menschen.

Das bedeutet oft, daß die konkrete Barmherzigkeit eine ohnmächtige Aufforderung oder ein ohnmächtiger Impuls wird - aber keine Tat. Und darunter leiden sowohl der, der Barmherzigkeit braucht, als auch der, der sie ausüben möchte. Wenn Trauer die Liebe ist, die man nicht loswird, so wird Barmherzigkeit oft eine Aufmerksamkeit, die ich nicht loswerde. Ich habe deine Not gesehen, aber ich kann nicht handeln.

Wie zur Zeit Jesu bleibt die Barmherzigkeit meist auf unseren eigenen Kreis beschränkt. Dort wo es für uns natürlich ist zu helfen. Es ist ganz natürlich, Freunden und Verwandten zu helfen, die irgendwie in Not geraten sind. Wer einem Kameraden, einem Freund hilft, fühlt sich dann größer. Jemand ruft nach ihm, und er antwortet. Und eben dieses Antworten macht einen größer. Wenn der, dem man hilft, jemand ist, den man kennt, kann man oft die Wirkungen seiner Hilfe verfolgen. Die Hilfe macht einen Unterschied.

Aber es gibt Leute, die nach uns rufen und nicht - jedenfalls nicht gleich - Hilfe erlangen. Statt dessen rufen sie Angst hervor. Überfallene stinken. Ein schwacher und verwundeter Mensch ist jämmerlich, unwürdig und appelliert an unsere Angst - vor dem Unbekannten und davor, selbst eine so jämmerliche Person zu sein. Einem Kind, das uns anschaut mit großen bittenden Augen, können wir die Hilfe nicht verweigern. Aber ein blutender, verletzter, zusammengekrümmter Mensch gleicht vielleicht nicht mehr einem Menschen - wir brauchen ihn deshalb vielleicht gar nicht mehr als einen Menschen zu betrachten. Wenn er dann auch noch gar nicht zu unserer Familie gehört oder unserem Freundeskreis, vielleicht ein Fremder ist, liegt es näher, den Appell zu überhören, den seine Not aussendet. Wir sind am besten darin, uns unserer eigenen Leute anzunehmen.

Wenn wir weitergehen sollen, so verlangt das viel Überwindung. Wir können uns selbst überwinden, aber nur wenn es wichtig ist, und dann beteuern wir uns selbst gegenüber, daß es dies nicht ist.

Einige stehen uns näher, einige können es besser, und alles soll doch wohl nicht immer an mir hängen bleiben! Es ist deshalb auch ganz legitim geworden, sich an des Gesetz des Dschungels zu halten. Wo der stärkste der Held ist, wo der Starke Recht hat und Erfolg und wo es ihm so ergeht, wie er es verdient.

Das ist der sportliche Held, der nur für sich selbst läuft - zur Not für sein Land. Wir bewundern den Tarzan-Typen - nicht den, der sein leben aufs Spiel setzt, um z.B. Friedensprozesse auf dem Balkan in Gang zu bringen, oder "Ärzte ohne Grenzen" - die werden als Extremisten diffamiert.

In Wirklichkeit sind wir gar nicht so weit entfernt von der Welt der Tiere - wir können es genauso gut eingestehen. Und dann hat uns der menschliche Geist auch noch die technischen Möglichkeiten gegeben, weit schlimmer zu sein als Tiere.

Der Wert der Barmherzigkeit ist bei uns vielleicht ein Kapital, aber ein totes Kapital, solange wir dem Gesetz des Dschungels folgen. Wenn die Barmherzigkeit erstarrt, herrscht der Tod, ganz gleich wie lebendig wir aussehen. Christentum ist das nicht. Die Hauptperson des Christentums ist nicht ein Supermensch, der in der Konkurrenz des Lebens alle anderen besiegt.

Die Hauptperson des Christentums ist unendlich schwach. Selbst ein Fremdling auf der Erde mit väterlicherseits unsicherer Herkunft. Ein Pilgrim, der keinen Ort hatte, wo er sein Haupt legen konnte. Heimatlos und verfolgt. In der letzten Erniedrigung am Kreuz nackt - seiner Identität beraubt. So daß seine Identität statt dessen für die zu sehen war, die Zeugen waren. Sowohl Gottessohn als auch Menschensohn. Er starb nicht aus Liebe zu seinen Brüdern und Schwestern, sondern zu denen, die ihn verfolgten. Er setzte sich an die Stelle derer, die ihn verfolgten. Er öffnete mit seiner Liebe das Herz Gottes, der bis dahin nur der Stammesgott Israels gewesen war, und zeigte, daß das wahre Wesen Gottes wie des Menschen die Verletzlichkeit ist. Er machte sich zum Sohn Gottes - und war doch zugleich der Sohn seines Volkes. Er ließ sich sozusagen von Gott adoptieren, und Gott erweiterte das Bild von sich selbst, indem er ihn annahm als den wahren Menschen. Und Gott machte Barmherzigkeit zum Willen seiner Liebe. Gott überwand sich selbst, als Jesus ihn zum Vater machte. Deshalb ist Gott nicht mehr nur der Gott eines Volkes, sondern kann jeden von uns zu seinem Sohn und seiner Tochter machen.

Hiernach sind es nicht mehr die Bande des Blutes, Stammesgemeinschaften und Klans, die darüber entscheiden, wer unsere Brüder und Schwestern sind, wem wir Barmherzigkeit erweisen können. Der Fremde und der, der unsere Hilfe braucht, wohnt nun im Herzen Gottes.

In unserer Logik ist es noch immer das Selbstverständlichste, daß wir es sind, die uns selbst überwinden müssen. Was uns schwerfällt - denn Tiere sind wir nicht, aber auch keine Götter. Das wahrhaft Menschliche ist die Fähigkeit, sich in die Stelle eines anderen zu versetzen. Der weiche Punkt, der angerührt wird, wenn das Herz frei spricht. Was es selten tut. Und das ist unsere Not.

Unser Fehler ist selten Schwäche, sondern die Stärke, die wir als ein Schild tragen zu können glauben. Alle Kultur kommt daher, den Zwang der Konkurrenz zu brechen. Unser wahres Glück besteht darin, daß wir im Bilde Gottes als unendlich verwundbare Wesen geschaffen sind. Aber eine Schwachheit, die uns nicht so hilflos macht, daß wir zu ihr stehen. Die Rolle, die Christus auf sich nimmt, ist die, daß er der barmherzige Samariter für uns wird. Die Überwindung, die wir selbst nicht schaffen, leistet er für uns. Er bricht ein in unser Herz mit der Stärke, die die Schwachheit ihm gibt, und verbindet uns mit dem Herzen Gottes.

Er verbindet nicht in erster Linie unsere Wunden - wir haben Pflaster genug, sie zuzudecken: Unterhaltung und Hilfssysteme - er schlägt vielmehr die Tür ein zu unserem Herzen, und wohnt in ihm. Die Tür unseres Herzens kann nun offen bleiben - so offen, daß unser Nächste ein- und ausgehen kann. Er läßt seine Kraft, sich an unsere Stelle zu setzen, zu unserer Kraft werden. Die Liebe, die die Barmherzigkeit ist, zeigt sich jenseits von Geben und Nehmen - sie ist göttlicher Überschuß.

Aber wir sehen das in der Schwachheit. Gott hat eine Schwäche für uns. Wenn wir eine Schwäche zeigen für den, der uns braucht, begegnen wir der Schwachheit Gottes. Das ist unsere Stärke.

Ich habe sein Gesicht nie gesehen.
Noch weniger seine Wunden berührt.
Ich habe nur ein Lächeln vernommen
ü ber der dichtesten Wildnis des Mythos,
das weiche Lächeln eines Regenbogens
durch die Tränen: Licht von Licht.
- Und von vielen Wohnungen ist die Rede
in einem großen Haus des Erbarmens.
(Anna Greta Wide: "Dikter", S. 119)

Pfarrerin Birte Andersen
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