Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

14. Sonntag nach Trinitatis, 21. September 2003
Predigt über Lukas 17
, 11-19, verfaßt von Jürgen Jüngling
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


1. Immer wenn ich diese biblische Geschichte lese oder höre, steigt bis auf dem heutigen Tag ein Bild in mir hoch. Ich war noch Kind, gerade in der Schule, und der Lehrer machte uns nicht nur mündlich mit dieser Geschichte vertraut, sondern verteilte dazu auch ein Bild: einen sehr grob gedruckten, ganz in schwarz-weiß gehaltenen Holzschnitt, der die Begegnung Jesu mit dem einen Aussätzigen darstellt. Es war eine Art Verschlag, wenn nicht gar Verlies mit dicken Mauern und im unheimlichen Halbdunkel, in dem sich diese Begegnung abspielte: der eine als Lichtgestalt und der andere über und über durch Beulen und Geschwüre gezeichnet. Vielleicht können Kinder diese Ursituation menschlichen Lebens viel intensiver nachvollziehen als Erwachsene – allein und isoliert zu sein, im Dunklen Angst zu haben vor dem, was kommt, vielleicht vor dem Leben und um das Leben, eben Lebensangst.

Und so war es im Altertum ja auch: Wer aussätzig war, der war – wortwörtlich – ausgesetzt, nur unter Seinesgleichen, abgeschnitten von Umwelt und Gesellschaft und Alltag, verdammt zum Klappern auf, dass ihn nur jeder hören und sich von ihm fernhalten konnte. Aussatz rief auf der Stelle Berührungsangst, Abscheu und Ekel hervor. Und es komme bitte niemand und sage, dass sei doch nun aber Schnee von gestern – der Aussatz zur Zeit Jesu oder später die Pest des Mittelalters oder vielleicht noch die Tuberkulose der Nachkriegszeit, als betroffene Menschen weggesperrt und isoliert wurden. Weit gefehlt, denn die moderne Geisel Aids und die ganz aktuelle Seuche SARS machen deutlich, wie zeitlos das mit den Aussatz verbundene Phänomen ist und wie schnell die Urangst des Menschen ausbricht, verlassen und ausgestoßen zu werden.

Aussätzige passen nun einmal nicht ins Bild, das Menschen vom Menschen haben – damals nicht und heute vielleicht noch weniger mit unserer ausgeprägten Körper- und Schönheitskultur. So jemandem, Menschen mit leprösen-zerfressenen Gesichtern, wollte niemand zu nahe kommen, geschweige denn sie berühren. Sie bekamen ein wenig Nahrung an den Rand ihres Reservates gestellt, denn Verhungern sollten sie nun auch wieder nicht. Und dennoch wirkte nicht zuletzt die Isolation geradezu tödlich.

Sicher, diese Art von Aussätzigen haben wir so nicht mehr, aber auch weit über Aids und SARS hinaus ist dieses Phänomen uns doch durch und durch vertraut. Ich denke dabei ganz konkret an eine Behinderung, die manche Zeitgenossen in ihrem wohlverdienten Urlaub nicht einmal sehen oder hören mochten. Ich denke an Asylbewerber, die man in speziellen Unterkünften nicht nur isoliert hat, sondern die Mitbürger von uns geradezu eliminiert haben wollten. Ich denke an die öffentliche Diskussion über Strafvollzug und Resozialisierung und die – längst nicht nur an Stammtischen – gehörte Forderung nach kurzen und bündigen Wegsperren. Ich denke aber auch an unsere Auseinandersetzung über Pflege, über Alte oder Demenzerkrankte und über die Grenzen der Behandlung. Wie schnell ist überall da die Grenze zum Aussortieren überschritten, wohlgemerkt: zum Aussortieren von Menschen? Die Gründe für diese Tendenz sind sicher unterschiedlich. Sie haben aber immer mit Furcht zu tun, mit Angst davor, sich anzustecken oder auch mit der eher unbewussten Angst, am Ende selber einmal so zu werden. Wer von uns könnte diese Abwehrhaltung nicht ein Stück weit nachvollziehen?

2. Kommen wir doch auf die Betroffenen, auf die Aussätzigen in unsere Geschichte zurück: Menschen, die so drastisch ihre Aussonderung erleben, die möchten, dass die Gründe dafür verschwinden. Die möchten wieder akzeptabel, annehmbar werden. Dafür nehmen sie vieles, wahrscheinlich alles in Kauf. So war das schon immer, natürlich auch bei den zehn, die Jesus treffen und ihn um Hilfe bitten. Und er erfüllt ihren Wunsch, ihren Lebenswunsch. In der biblischen Geschichte wird dieser Moment ganz unaufgeregt und eher beiläufig geschildert. Nur einen Wimpernschlag nach der Begegnung ist das Wunder bereits geschehen.

Viele Äußerungen gibt es dazu, ganz begeisterte, eher kritische und natürlich auch Kopfschütteln. Ich selber hege darüber überhaupt keinen – ach so modernen – Zweifel, denn Jesus und seine Anhänger haben ganz fraglos und selbstverständlich Kranke geheilt. Warum sollten wir daran zweifeln? Dieser Zug ist doch typisch für sein ganzes Wirken. Ich frage mich: Ist das nicht wirklich bis in unsere Tage so, dass Krankheiten ganz häufig damit zu tun haben, dass Menschen niemanden haben, dem sie vertrauen können? Wie sagt doch so treffend der Gelähmte am Teich Betesda zu ihm: „Herr, ich habe keinen Menschen“. Sollte es deshalb so schwer verständlich sein, dass Jesus Kranke gesund machen konnte, indem er ihnen Gottes ganze Liebe zuwendete, indem er ihnen Gottes großes Ja zusagte?

3. Die Zehn von damals sind jedenfalls wieder rein geworden und konnten in ihre Umwelt wieder zurückkehren, von der sie bis eben noch ausgeschlossen waren. Aber nur einer kehrt um. Glücklich waren sie ganz gewiss alle. Aber nur einer kann sein Glück in Dankbarkeit umsetzen, in Dankbarkeit seinem Retter gegenüber und in Dankbarkeit vor Gott. So kann Glaube entstehen. Und dieser eine war gleich auf zwei Ebenen aussätzig, ein aussätziger Aussätziger gewissermaßen: nämlich ein Samariter, einer von der anderen, von der verhassten Konfession der Samaritaner. Man möchte geradezu sagen: ausgerechnet der! Doch er hat offensichtlich als einziger kapiert, dass zum wirklichen Gesundwerden mehr, vielmehr gehört als lediglich die Rückkehr in den alten Trott. Wer gesunden will, der muss eben unter Umständen ganz neu anfangen, nämlich von vorn. Das ist doch auch uns überhaupt nicht unbekannt. Denn wehe dem Herzinfarkt-Patienten, der aus der Reha-Maßnahme kommt und den Faden genau da und genau so wieder aufnehmen will, wo er ihn aus der Hand hat geben müssen. Der wird gut beraten sein, sein bisheriges Leben ernsthaft zu überdenken und es ein gutes Stück neu zu sortieren. Wie sagt es so treffend Hermann Hesse? „Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

Abschied und Neuanfang, das hat zu tun mit dem Ordnen unserer Lebenslinien, unserer Schwerpunkte und auch mit unseren Beziehungen zu Menschen und nicht weniger zu Gott. Dieser eine hat verstanden, dass man nur dann rein und heil werden kann, wenn man sich darum bemüht, sein gestörtes Verhältnis zu Gott wieder ins Lot zu bringen. Und dazu braucht es der – bleibenden – Gemeinschaft seines Sohnes – nicht nur in der Situation der Not, sondern weit darüber hinaus. Dazu braucht es ebenfalls der Gemeinschaft von Menschen, die mit einem und die um einem sind. Es genügt jedenfalls nicht und ist sogar zum Scheitern verurteilt, wenn jemand nur für sich gesund werden will.

4. Immer wenn ich diese biblische Geschichte lese oder höre, frage ich mich, was wohl aus den neun anderen geworden ist. Von ihrem weiteren Ergehen wird uns ja leider nichts berichtet. Sicher werden sie in ihre gewohnte Umgebung zurückgekehrt sein und haben wohl versucht, sich da wieder einzuklinken, wo sie ausgegliedert worden waren. Vielleicht haben sie auch die Zeit ihres Elends so schnell wie möglich verdrängen und so gründlich wie möglich vergessen wollen. Wir kennen das. Und wahrscheinlich haben sie sich so verschieden weiterentwickelt, wie Menschen nun einmal verschieden sind. Aber dass das Ganze spurlos an ihnen vorbeigegangen ist, ohne Nachdruck und Eindruck, das kann ich mir nicht vorstellen. Auch sie werden noch lange mit diesem einschneidenden Ereignis zu tun gehabt haben. Über so etwas kann eigentlich niemand einfach zur Tagesordnung übergehen. Wer weiß, wie vielen von ihnen es erst im nachhinein gedämmert hat, was ihnen da wirklich widerfahren war. Und wer von diesen erst im nachhinein den Weg zu diesem Jesus oder auch zu seinen Leuten gesucht hat. Der eine braucht nun einmal mehr Zeit als der andere um zu merken, worauf es ankommt.

Aus einen weiteren Grund muss ich an diese neun denken: während wir Interesse an Gottes Wort haben – aus welchem Grund und in welcher Art auch immer – und vielleicht auch Freude am Besuch des Gottesdienstes, geht genau das vielen unserer Zeitgenossen und Landsleute ab. Als Pfarrer und Mann der Kirche bedaure ich das natürlich, und das nicht etwa aus Bestandsängsten. Ich denke an meine Zeit als Gemeindepfarrer und dabei an alle die, die ich so oft zum Gottesdienst eingeladen habe. Ich denke an die, die anlässlich eines besonderen Ereignisses schon einmal da gewesen sind – bei der Taufe ihres Kindes oder nach dem Tod eines Angehörigen. Ich denke an die, die Heilig Abend oder angesichts einer Katastrophe die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt haben. Ich denke an die, die beim fröhlichen Gemeindefest dabei waren, oder an die, die ich nach zwei Jahren Unterricht feierlich konfirmiert habe. Und ich frage mich: Warum die neun nicht zurück? Bei dieser Frage wird deutlich, wie zeitnah die alte biblische Geschichte ist. Wir brauchen sie erst gar nicht krampfhaft zu aktualisieren.

Worauf kommt es deshalb an? Was muss unsere Kirche, was müsste unsere Gemeinden und ihre Pfarrerinnen und Pfarrer unbedingt festhalten? Ich meine den Zusammenhang untereinander, im Bilde gesprochen: den Kontakt zwischen den einem und den neun. Es ist wichtig, dass wir miteinander im Gespräch bleiben, aufeinander hören und voneinander lernen in den Fragen des Lebens und in denen des Glaubens. Auch die in der Kirche können allzu schnell auf einem Auge blind werden. Von daher ist es ganz wichtig, wie wir miteinander umgehen, auch und gerade mit denen, die mit dem Glauben ihre Schwierigkeiten haben. Heutzutage sind so viele auf der Suche, auf der Suche nach einer Wirklichkeit, die ihr Leben heil und ganz macht, die Ermutigungen verheißt und Halt gibt.

Der letzte Satz unserer Geschichte lautet: „Stehe auf, gehe hin; dein Glaube hat dir geholfen.“ Das ist ein schöner und wichtiger Schlusssatz, denn darum geht es doch letztendlich: mit dem Rückenwind des Glaubens aufzustehen aus unserem Bedrückungen, den aufrechten Gang einzuschlagen und hinzugehen – aus dem Gottesdienst oder dem Gebet hinaus und hinein in den Alltag mit all seinen Höhen und Tiefen. Dieser Rückenwind wird uns helfen zu leben, dankbar zu leben, zusammen mit denen, die so sind wie wir, und ebenso mit denen, die so ganz anders gestrickt sind. Die wir wissen: „Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Amen.

Oberlandeskirchenrat Jürgen Jüngling
Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck
landeskirchenamt@ekkw.de


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