Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

17. Sonntag nach Trinitatis, 12. Oktober 2003
Predigt übe
r Matthäus 15, 21-28, verfaßt von Birte Andersen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Gott ist unveränderlich und kann nicht irren. Das ist eines der Bilder, die wir von Gott haben. Dieses Gottesbild stammt aus einer Gedankenwelt, die die Wirklichkeit in zwei Bereiche aufteilt: Teils eine Welt, die über Zeit und Geschichte erhaben ist mit einer ewiggültigen, unveränderlichen und unverrückbaren Wahrheit - und teils die Welt, die das Vergängliche und Sterbliche enthält, das nichts bedeutet, eben weil es sich verändert und letztlich zugrundegeht.

Auch wenn dieser Gedankengang nicht besonders biblisch ist, scheint Jesus von ihm beeinflußt gewesen zu sein. Es sieht so aus, daß er es - bis zu seiner Begegnung mit der Frau - als seine Aufgabe angesehen hat, eben das Haus Davids zu erlösen, d.h. das Haus Davids von der allzu vergänglichen und relativen Sphäre zu befreien hin zur wahren, ewigen Welt.

Aber in dieser Geschichte mit der kanaanäischen Frau werden die Rollen und Begriffe vertauscht. Meist ist es Jesus, der Menschen begegnet, hier aber ist er es, dem jemand begegnet. Hier im Grenzgebiet zwischen seinem eigenen Haus und den fremden Häusern, da wird die Wirklichkeit auf die Probe gestellt. Und hier brechen die Vorstellungen Jesu zusammen, und dadurch wird die Wirklichkeit größer und offener. Es entsteht etwas Neues aus dieser Begegnung. Etwas Neues in der Welt der Menschen und in der Welt Gottes. Etwas, das zugleich zeigt, daß diese beiden Welten nicht zwei Gegensätze sind, sondern nun ineinander fallen und in einer Schicksalsgemeinschaft leben, die an Umfang wächst.

Vielleicht hat Jesus für eine Weile sein eigenes Haus verlassen, weil er auf Widerstand gestoßen ist bei seinem Versuch, die Auffassung von rein und unrein zu verändern, die bis dahin sein eigenes Haus verpestet hatte (Matth. 15,1-20). Und hier im Grenzland wird nun das bestätigt, wovon er bis dahin nur geredet hatte, nämlich daß Reinheit und Unreinheit nicht eine Frage danach ist, was ein Mensch aufnehmen kann, sondern was er von sich gibt.

Die verzweifelte kanaanäische Frau weiß sehr wohl, was ihr entgegen steht. Das ist nicht wenig! Die fertige Vorstellung Jesu von seiner Aufgabe, die Distanz zu den Fremden, die kulturelle Diskriminierung, die Diskriminierung wegen des Geschlechts, die Gewohnheit, der gute Ton etc. Aber weil ihre Not grenzenlos ist, überschreitet sie alle Grenzen.

Das Kostbarste, was sie hat, ihre Tochter, ist ernsthaft krank. Ihre grenzüberschreitende Hartnäckigkeit bewegt Jesus und erzwingt seine Reaktion. Ein Glaube, der von der Begegnung der Menschen mit ihm ausgelöst wird, einem solchen Glauben kann er die Erfüllung nicht versagen. Wenn das Brot für die Kinder gebrochen wird, fallen unweigerlich Brosamen auf die Erde. Dieses Bild, an das die Frau in ihrer Not ihre Hoffnung hängt, erwirkt eine gewaltige Veränderung im Selbstverständnis Jesu und im Verständnis seiner Aufgabe. Jesus sieht nun den Überfluß in seinem eigenen Haus - nicht den Mangel, ein Überfluß, der das Haus zu einem reichen und geräumigen Haus macht.

Diese Begegnung und diese Veränderung eben sind kennzeichnend für das biblische Denken. Hier ist Bedeutung etwas, was sich zeigt. Die Wahrheit wird in der gemeinsamen geschaffenen Wirklichkeit offenbart - hier entsteht die Wirklichkeit - als etwas, was verpflichtet oder erfreut oder Menschen mit Trauer und Verzweiflung schlägt.

Menschen werden von der Wirklichkeit bekämpft und herausgefordert, weil die Wirklichkeit etwas ist, das stattfindet. Die Wahrheit liegt nicht fix und fertig in einem überirdischen geschlossenen Raum, sondern entsteht erst in der geschaffenen Wirklichkeit.

So wie die Begegnung zwischen Jesus und der Frau verläuft, ist es eher sie als Jesus, die das Bild Gottes ausdrückt. Denn der Gott der Bibel ist keineswegs erhabene Unveränderlichkeit. Und daß sich Jesus bewegen läßt, betont eben dies. Gott erweist sich als dynamisch und läßt sich bewegen und einbeziehen - besonders dort, wo wir nicht meinen, daß es Gott gibt. Dort, wo alles zweideutig ist, in unsicherer Bewegung, Leiden und Tod unterworfen - fern von den hohen Himmeln, wo man sonst allein Gott finden zu können meint. Gott ist der, der sich etwas bieten läßt, auch für ihn etwas Neues. So schafft Gott immer wieder neu.

Jesus hat die Vorstellungen dieser Frau in besonderer Weise angesprochen. Sie muß von seiner Ungeduld angesichts menschlicher Leiden gehört haben. Oder es ist seine Weise, zu sein, die für sie dazu bringt, darauf zu bestehen, an der Form von Leben Anteil zu haben, die die neue Schöpfung in sich birgt. Etwas betet in ihr, und mit ihrem Gebet öffnet sie das Herz Gottes. Im Unterschied zu uns, die wie die Neigung haben, daß wir erst wissen wollen, ob es etwas nützt, ob es Gott gibt, ob Gott solche Wege geht, im Unterschied dazu klammert sie sich an den Schimmer von Leben, dem sie in der Person Jesu begegnet ist, und deshalb verlangt sie, an diesem Leben teilzuhaben. Für ihre Tochter - und für sich selbst.

Und indem sie das verlangt, was man nicht verlangen darf, etwas was religiös wie gesellschaftlich unannehmbar ist, da erhält diese schamlose Frau in unseren Augen Form und Farbe. Sie zeigt sich als die, die nicht aufgibt, nicht gleichgültig wird, als die, die sich weigert, sich den Verhältnissen anzupassen, als die, die das Leben bis zum Äußersten angeht. Und indem sie selbst sichtbar wird, ruft sie die Wirklichkeit hervor - eine neue Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit ändert sich, indem sie sie fordernd anruft und den herausfordert, in dem sie die Kraft des Lebens sieht. Von der kanaanäischen Frau können wir Schamlosigkeit lernen. Innere wie äußere Schamlosigkeit. Wenn wir mit ihr in Kontakt kommen. Ansonsten müssen wir damit beginnen zu fragen, was unser größter Mangel ist. Und ansonsten können wir weiter das als eine Forderung durchsetzen, an das wir unser leben gebunden haben - unsere tiefsten Werte - trotz Vorsicht, Konventionen und Vorstellungen darüber, was respektabel ist.

Wenn wir diese Geschichte heute hören sollen, so deshalb, weil Gott dort sein will, wo wir nicht glauben, daß er da ist - er will sich bewegen lassen in Richtung auf unsere Not und unser Verlangen, so daß wir ihm als einer Macht begegnen können, die etwas von sich gibt in dieser Begegnung, und nicht als ein erstarrtes Bild.

Das Gebet und das Verlangen des einzelnen tragen wir in unseren Herzen vor das Angesicht Gottes, aber unser gemeinsames Gebet könnte heute so lauten:

Gott, du Unbekannter,
wir suchen dich an Orten,
die du schon verlassen hast,
und wir sehen dich nicht,
wenn du direkt vor uns stehst.
Auferstandener Christus,
deine Abwesenheit läßt uns erstarren,
und deine Gegenwart ist überwältigend.
Wehe uns an
mit deinem Überfluß an Leben,
so daß wir, wo wir nicht sehen können,
Mut haben zu glauben,
daß wir mit dir auferweckt werden.

Gesegnet seist du, Christus,
der du mit uns gehst auf dem Weg unserer Trauer
und erkannt wirst im Brechen des Brotes.
Wir preisen dich mit der Frau, die dich gebar,
mit der Frau, die sich deiner annahm und dich nährte,
die mit dir stritt und dich anrührte,
mit der Frau, die dich zu deinem Tode salbte,
mit der Frau, die dir begegnete, auferstanden von den Toten,
mit all denen, die dich durch die Jahrhunderte geliebt haben.

Amen

Pfarrerin Birte Andersen
Emdrupvej 42
DK-2100 København-Ø
Tel.: ++ 45 - 39 18 30 39
e-mail: bia@km.dk


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