Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

17. Sonntag nach Trinitatis, 12. Oktober 2003
Predigt übe
r Matthäus 15, 21-28, verfaßt von Isolde Karle
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Liebe Gemeinde!

Als Predigttext für den heutigen Sonntag lese ich aus dem Evangelium nach Matthäus Kapitel 15, die Verse 21-28:

Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon.
Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt.
Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Laß sie doch gehen, denn sie schreit uns nach.
Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.
Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir!
Aber er antwortete und sprach. Es ist nicht recht, daß man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.
Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.
Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.

Eine erstaunliche Geschichte wird uns hier erzählt. Sie erstaunt gleich in mehrerlei Hinsicht. Für heutige Ohren fällt erstens auf, dass Jesus nicht, wie wir es gewohnt sind, sofort voller Zuwendung auf den Hilferuf der Frau reagiert, sondern die Frau erst einmal brüsk zurück weist. Jesus begegnet uns hier nicht als der „liebe Jesus“, sondern geradezu unwillig und verneinend.

Als zweites fällt das Verhalten der Frau auf, die sich durch Jesu Schroffheit nicht abbringen lässt von ihrem Vorhaben, sondern mit bemerkenswerter Zähigkeit, mit viel Mut und Geschick Jesus auf ihre Seite zu bringen versucht.

Und als letztes – und das hat die Kirche in der Geschichte an der Erzählung am meisten irritiert – gibt diese Erzählung wie kaum eine andere Zeugnis davon, dass Jesus gelernt hat. Jesus wird uns hier nicht als der vollkommene Gottessohn vor Augen geführt, sondern als ein Mensch, der sich korrigieren, der seine ursprüngliche Position aufgeben muss. Jesus erkennt die Tragweite seiner Sendung erst durch die Begegnung mit dieser Frau. Das unerschütterliche Vertrauen der Frau, die sich durch Jesu nachdrückliches Nein nicht irritieren lässt, fordert Jesus heraus, seine bisherige Sicht der Dinge aufzugeben und eine neue Perspektive zu entwickeln. Eine wahrhaft erstaunliche Geschichte!

Doch nun der Reihe nach: Jesus geht vorübergehend in das Gebiet der heidnischen Städte Tyrus und Sidon, er befindet sich also außerhalb des vertrauten Palästina. Da begegnet er einer heidnischen Frau. Sie kommt zu Jesus, weil ihre Tochter krank ist, von bösen Mächten übel geplagt, wie es heißt. Die Frau schreit in ihrer Not andauernd. Das nachhaltige Rufen deutet die Größe ihrer Not an. Die Frau ist voller Sorge und Angst um ihre schwer kranke Tochter.

Die Frau redet Jesus geschickt in biblischer Psalmensprache an: „Ach, Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Sie weiß wohl, wie unwahrscheinlich es ist, dass Jesus sich als jüdischer Mann und Rabbi ihr, einer Heidin, zuwendet. Sie ist realistisch und macht sich keine Illusionen. Und doch erwartet sie viel von ihm.

Tatsächlich reagiert Jesus abweisend auf ihren Hilferuf. Zuerst schweigt Jesus beharrlich. Es heißt: „er antwortete ihr kein Wort.“ Doch die Frau lässt sich nicht beirren. Sie ruft weiter. Die genervten Jünger schlagen daraufhin vor, die Frau doch endlich weg zu schicken. Die Jünger hören nicht die Not der Frau, sie fühlen sich lediglich unangenehm belästigt. Und nun Jesus schlägt auch noch in dieselbe Kerbe! Statt seine Jünger ob ihrer Unfreundlichkeit und Lieblosigkeit zurechtzuweisen, bestätigt er sie mit den Worten: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt“ – also nicht zu dir und deiner schwer kranken Tochter. Eigentlich müsste die Erzählung hier enden. Nach einer solchen Antwort kann das Gespräch nicht mehr weiter gehen. Nach einer solch deutlichen Absage bleibt für die Erfüllung der Bitte kein Raum mehr. So denkt man. Aber die Frau wiederholt ihre Bitte. Sie wirft sich vor Jesus nieder und fleht ihn erneut an: „Herr, hilf mir!“

Noch einmal weist Jesus die Frau sehr deutlich und nachdrücklich zurück. „Es ist nicht recht, daß man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“ Jesus bringt mit dem Bildwort in aller Klarheit und Schroffheit zum Ausdruck, dass er sich allein zum jüdischen Volk gesandt weiß. Die Hunde sind als Metapher für die Heiden zwar nicht ganz so abwertend gemeint, wie wir das in der Regel hören – es geht immerhin nicht um streunende Hunde, sondern um Haushunde, die im Altertum ganz selbstverständlich mit Tischabfällen gefüttert wurden. Aber abwertend ist das Wort allemal. Für die Mutter der kranken Tochter alles andere als schmeichelhaft. Jetzt spätestens, so denkt man, wird sie aufgeben. Jetzt ist sie so verletzt, so gedemütigt, jetzt ist so unmissverständlich klar, dass sie sich in Jesus getäuscht hat, jetzt wird sie verstummen und deprimiert ihrer Wege gehen.

Doch trotz der vielen Zurückweisungen, der vielen Neins, der harten und unerbittlich wirkenden Haltung Jesu lässt sich die Frau nicht entmutigen. Sie antwortet: „Ja, Herr, aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ Intelligent nimmt sie Jesu Bildwort erst einmal zustimmend auf, um dann, ganz wie Jesus das sonst in seinen Gleichnissen selbst macht, die Logik, die dahinter steckt, zu hinterfragen. Denkt Jesus, dass dem jüdischen Volk etwas fehlen würde, wenn er sich einer Heidin zuwendet? Ginge denn irgendjemand in Israel etwas verloren, wenn ihre Tochter wieder gesund würde? Wohl kaum. Die Heidin macht Jesus klar, dass sie dem jüdischen Volk nichts wegnimmt, wenn Jesus gängige Grenzen von Religion und Tradition überschreitet und seine heilende und neu schaffende Liebe universal zur Geltung bringen lässt.

Da endlich geht Jesus auf sie ein. Offenbar hat die Frau in ihm, der bislang so konsequent Position bezog und sich durch nichts irritieren ließ, etwas angerührt. Das kluge, bescheidene und gleichzeitig beharrlich-selbstbewusste Verhalten der Frau überrascht Jesus. Damit hat er nicht gerechnet. Er ist überwältigt von dem nachhaltigen Vertrauen dieser Frau – und lässt sich bewegen. Die Tochter der Frau wird geheilt.

Das unbeirrbare Zutrauen der Frau zu seiner Person deutet Jesus als großen Glauben. Seinen Jüngern bescheinigt Jesus an keiner Stelle etwas Gleichwertiges, es wird in den Evangelien viel eher vom Kleinglauben der Jünger erzählt. Aber den heidnischen Ausnahmen, die ursprünglich gar nicht im Sendungsauftrag Jesu vorgesehen waren, dem Hauptmann von Kapernaum, dessen Knecht Jesus heilt, und dieser zähen und klug argumentierenden Frau aus der Gegend von Tyrus und Sidon – ihnen attestiert Jesus großen Glauben. Er findet den Glauben offenbar gerade dort, wo er am wenigsten zu vermuten ist.

Ich bin sicher, Jesus hat noch lange über diese außergewöhnliche Begegnung und über diese außergewöhnliche Frau nachgedacht. Die kanaanäische Frau lässt sich nicht irritieren durch die nachhaltige und sich mehrfach steigernde Ablehnung durch Jesus und seine Jünger. Sie ist gewissermaßen enttäuschungsresistent. Heutzutage würde ein solches Erlebnis ja schon als Trauma beschrieben werden, das der therapeutischen Aufarbeitung bedürftig ist. Wie leicht lassen wir uns kränken. Sobald wir unserer Ansicht nach nicht genügend gewürdigt werden, sobald wir nicht die Anerkennung bekommen, die wir meinen verdient zu haben, sind wir verletzt oder enttäuscht und kommunizieren das auch nicht selten mit großer Geste.

Wir leben in einem narzisstischen Zeitalter. Das heißt, wir sind umgeben von Individuen voller Kränkungen und sind selbst gekränkte Individuen. Nicht selten beteiligen wir uns auch selbst an der Abwertung anderer, um unsere eigene Großartigkeit ins rechte Licht zu rücken. Das ist im Beruf nicht anders als in der Familie. Sehr greifbar kann man das Gift, das eine leichte Kränkbarkeit verbreitet, unter Müttern erleben, die untereinander um das beste Kind konkurrieren und in der Art und Weise, wie sie von ihrem Kind erzählen, sich selbst nicht selten auf- und andere abzuwerten suchen. Ich glaube, ich muss das nicht ausmalen. Dazu muss man nur einmal auf den Spielplatz, in einen Elternabend, zu einem Kindergeburtstag oder in das Sprechzimmer eines Kinderarztes gehen.

Viele Menschen fühlen sich heute verunsichert, weil sie keine sicheren Leitvorstellungen mehr von einem guten und richtigen Leben haben. Sie fühlen sich nicht genügend ernst genommen, nicht genügend beachtet und in ihrer Besonderheit und Originalität nicht wirklich erkannt. Auf sich selbst oder ihre ganz besonderen Kinder konzentriert, auf die Verteidigung und Pflege ihrer eigenen Würde fixiert, verlieren sie dabei manchmal die wirklich wichtigen Ziele, für die es sich zu engagieren lohnt, aus den Augen.

Ganz anders diese Frau. Sie hätte nun wahrhaftig Grund genug gehabt, sich enttäuscht und frustriert abzuwenden. Aber die Frau leckt nicht ihre Wunden. Sie ist weder beleidigt noch verletzt und selbst wenn, dann zeigt sie es nicht. Sie betrachtet sich nicht als Opfer, sondern setzt sich nüchtern und realistisch mit aller Hingabe für ihr großes Ziel, die Heilung ihrer Tochter, ein.

Martin Luther hat einmal überlegt, was der kanaanäischen Frau durch den Kopf gegangen sein könnte, als sie mit Jesus sprach. Er legt ihr folgende Worte in den Mund: „Ich kann jetzt nicht disputieren, ob ich fromm bin oder bös, würdig oder unwürdig. Ich kann jetzt nicht abwarten. Meine Tochter wird vom Teufel übel geplagt, da muß ich Rat und Hilfe dazu haben.“ Dieses beharrliche und enttäuschungsresistente Herbeizwingen von Hilfe bezeichnet Jesus als großen Glauben.

Die Wucht des Vertrauens der Frau löst erstaunlich weitreichende Veränderungen aus. Sie führt zum einen, und das ist das Entscheidende für die Frau selbst, zur Heilung der Tochter. Sie führt zum andern aber auch zur Veränderung Jesu. Jesus lernt durch diese Frau. Ihre Hartnäckigkeit und ihr unerschütterliches Vertrauen fordern Jesus heraus, seinen Standpunkt zu korrigieren. Bereichert und gleichzeitig begrenzt durch seine religiöse wie kulturelle Herkunft versteht Jesus die Tragweite seine Sendung durch die Begegnung mit der Frau nun sehr viel besser als vorher. Es hat sich ihm eine neue Sicht der Dinge aufgetan.

Durch die kämpferische und unnachgiebige Heidin lässt sich Jesus bewegen, traditionelle Grenzziehungen zu überschreiten. Es öffnet sich der Horizont über die Sendung zum jüdischen Volk hinaus. Damit wird diese Erzählung gewissermaßen zu einer vorweggenommenen Ostergeschichte. Durch die beharrliche und mutige Frau wird als Ausnahme schon zu Jesu Lebzeiten deutlich, was nach Ostern uneingeschränkt gelten wird: die Zuwendung Gottes zu allen Menschen, egal welcher Herkunft, welcher Volkszugehörigkeit und welchen Geschlechts. Im Evangelium des Matthäus steht der Missionsbefehl deshalb nicht zufällig am Ende des Buches: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin in alle Welt. Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Der Missionsbefehl verkörpert die universelle Liebe Gottes, eine Liebe, die die Grenzen in Frage stellt, die wir Menschen gerne aufrichten und pflegen, um uns selbst aufzuwerten und andere auszuschließen und abzuwerten, eine kreative Liebe, die Türen öffnet und eine veränderte Sicht der Wirklichkeit ermöglicht, in der sich andere zu ihrem Besten entfalten können.

Vielleicht haben einige von Ihnen manchmal das Gefühl, dass Gott Sie nicht hört, dass er Sie stehen lässt, dass er schweigt. Dann denken Sie an diese Frau. Ihr geduldiges und hartnäckiges Warten, ihr Durchhalten, ihr zähes Ringen, ihr Realitätssinn und ihr grenzenlos wirkendes Vertrauen in die Güte Gottes, obwohl davon zunächst nichts zu spüren ist – das ist Glaube, großer Glaube.

Martin Luther deutet die Erzählung in genau diesem Sinn: Das Herz meint oft, es sei lauter Verneinung da. Doch das ist nicht wahr. „Darum muß sich das Herz von seinem Fühlen abkehren und das tiefe heimlich Ja unter und über dem Nein mit festem Glauben auf Gottes Wort fassen und halten, wie dies Weiblein tut.“ Die Frau hängt nicht ihren Gefühlen nach. Sie gönnt sich nicht den Luxus des Enttäuschtseins, des verletzten Gefühls. Sie setzt vielmehr ihr ganzes Vertrauen darauf, dass sich Jesu verneinendes Verhalten in Zuwendung verwandeln wird, dass seine schöpferische Liebe Grenzen überwinden und neues Leben schaffen wird. Auf diese Weise wird die kanaanäische Frau zur Geburtshelferin für Ostern. Solcher Glaube verändert die Welt. Gott helfe uns zu solchem Glauben. Amen.

Prof. Dr. Isolde Karle
Ev.-Theol. Fakultät
Ruhr-Universität Bochum
44780 Bochum
Tel.: 0234/3222399
Isolde.Karle@ruhr-uni-bochum.de


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