Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

18. Sonntag nach Trinitatis, 19. Oktober 2003
Predigt übe
r Markus 12, 28-34, verfaßt von Doris Gräb
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

das allein ist schon einer Erwähnung wert:
Jesus und ein frommer jüdischer Schriftgelehrter im freundlichen, partnerschaftlichen Gespräch. Ein Lehrgespräch ist es, bei dem der Evangelist offenkundig weit weg ist von allen versteckten oder offenen Vorbehalten gegenüber den Pharisäer und Schriftgelehrten
Ein Gespräch auf Augenhöhe, wie man heute sagt, über die Frage: Was ist das höchste, das wichtigste Gebot von allen?
613 Satzungen hatten die Schriftgelehrten in der Tora entdeckt, 248 Gebote und 365 Verbote. Welches aber ist nun das allerwichtigste Gebot?
Die beiden Gelehrten müssen nicht lange überlegen. Jesus ist als erster gefragt: Das höchste Gebot ist dieses, das berühmte Sch´ma Israel, in jedem Gottesdienst der Synagoge rezitiert, bis zum heutigen Tag:

“ Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein: und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. – Das andere aber dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

„ Meister, du hast recht geredet“, entgegnet der Schriftgelehrte. Zur Bekräftigung wiederholt er das Gesagte noch einmal, mit anderen Worten – und fügt hinzu: das ist wahrlich mehr, viel mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer, als alle unsere Vorschriften und Verbote.
Und dann ist Jesus wieder dran: Ja, wie recht du hast. Wie verständig du bist. Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Anders gesagt: Du, der du ein jüdischer Schriftgelehrter bist, du redest ja ähnlich wie ich vom Reich Gottes. Wir verstehen uns tief.

Und nun? Wie nun weiter? Vom Lehrgespräch zur Lehrpredigt?
Nein, lieber nicht. Eher zunächst doch die leise Frage: Welche Gebote bestimmen eigentlich mein Leben? Was gilt für uns – gilt so, dass wir uns, sofern wir uns danach richten, davon ein gutes, ein sinnvolles, ein erfülltes Leben versprechen können?
Niemand hat sie gezählt, oder in Worte gefasst, die Gebote. Doch es gibt sie. Und wir halten uns an manche auch, jagen ihnen nach, lassen uns von ihnen bestimmen – eben deswegen, um unser Leben gut und würdig zu leben.
Du sollst anständig sein. - Du sollst menschenfreundlich sein. - Du sollst ehrlich sein. – Du sollst tüchtig sein. – Du sollst tapfer und stark sein. Du sollst erfolgreich sein.
Du sollst – du sollst nicht. – Es gilt auch für unser Leben, auch ohne genaue Auflistung.
Aber: welches ist das allerwichtigste Gebot? Die Maxime meines, unseres Lebens? – Der Imperativ, kurz und knapp gefasst, der ganz tief in mir steckt, an dem ich mich abarbeite, Tag für Tag?
Du sollst – du sollst nicht? Immer mehr sein? Immer besser werden? Was denn eigentlich zuallererst, vor allem anderen?

Die Antwort der beiden Gesetzesexperten von damals ist eindeutig:
Das höchste, das einzige, wahre Gebot, das ist: Gott lieben, den einen Gott, und dann: den Nächsten wie dich selbst.
Alle 637 Einzelvorschriften über das rechte Opfer, über die richtige Reinigung, über das angemessene Verhalten am Sabbat und über die vorschriftsmäßige Zubereitung der Speisen: ihre eigentliche Grundlage, die einzige Überschrift, der durchgängige rote Faden ist nur dieser eine: die Liebe, zu Gott, und zu unserem Nächsten.
„ Höre, Israel, der Herr ist Gott, der Herr allein, und ihn sollst du lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von all deinen Kräften. Das andere ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Meister, du hast wahrhaftig recht geredet. – So hieß es damals.

Aber: gilt das für uns nun auch? Ist solche Liebe – zu Gott, zu den Mitmenschen – nun auch die eigentliche Maxime unseres Lebens?
Du sollst tüchtig sein. Du sollst menschenfreundlich sein. Du sollst tapfer und stark sein. Du sollst ehrlich sein. Du sollst aus deinem Leben etwas Vernünftiges machen, etwas, was Sinn gibt. – Und über dem allem, über dem allem aber nun: die Liebe?
Was gibt uns Orientierung?
Wem jagen wir nach? Wovon versprechen wir uns den eigentlichen Gewinn unseres Lebens?
Wie gut ist es zu hören, dass es beiden Experten damals auch schon bewusst war: den Sinn, den Gewinn des Lebens finden wir Menschen gar nicht in der Erfüllung einzelner Gebote und Vorschriften. Der tragende Grund unseres Lebens ist eben nicht ein „Du sollst - , oder du sollst nicht.“ – selbst wenn es noch so tief in uns steckt.

Und heute, heute würden wir nun überdies auch noch sagen – im Gegensatz zur Lebenshaltung in damaliger Zeit, auf dem Hintergrund der Tora gelebt:
Den tragenden Grund unseres Lebens finden wir weder in der Erfüllung von Geboten, noch finden wir ihn in der Erfüllung und Steigerung aller unserer Wünsche und Sehnsüchte und Hoffnungen.
„ Warum werde ich nicht satt?“ – „Warum werden wir nicht satt?“ - singt die Rock Band „Tote Hosen“.
Alles haben, alles kriegen, alles erleben können: zwei Autos – Geld genug – immer etwas mehr Glück als die anderen – sogar auf dem Friedhof schon den besten Platz reserviert - und dennoch nicht satt? Dennoch unbefriedigt bleiben müssen? Dennoch mit ungestillten Sehnsüchten weiter leben müssen?
Die Toten Hosen formulieren ihr Unbehagen an der Erlebnisgesellschaft, am materiellen Überfluss, an der Lebenshaltung unserer Zeit. An dem immer währenden Jagen nach dem Glück als der vermeintlichen Lebenserfüllung. Immer bleibt ein schaler Beigeschmack. Nichts kann das Verlangen nach „Mehr“ befriedigen. Denn:
Da ist offenbar immer noch, immer noch und unstillbar die Sehnsucht da nach einer anderen Dimension. Die Sehnsucht nach einem mich tragenden Grund und einer mich von dort her bestimmenden und tragenden Lebensmaxime.
Lässt sie sich benennen, diese Sehnsucht?

Auf dem Hintergrund jenes so freundlichen Lehrgesprächs möchte ich es heute so sagen:
Es ist offenbar immer noch die Sehnsucht da nach Gott.
Nach dem Gott, der die Liebe ist. In dem sich all unsere Lebenszwecke, all unser Glücksverlangen und unsere Verhaltensmaximen versammeln. Der Gott, von dem her wir festen Halt und verlässliche Orientierung gewinnen.
Höre, Israel, der Herr ist Gott, der Herr allein.
Und dann erst: und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von all deinen Kräften.
Von diesem tragenden Grund her mein Leben verstehen. Von dieser Liebe her, die allem, was ich kann und vermag, unendlich weit voraus ist.
Welche Befreiung liegt darin. – Welche Freiheit von allen Gesetzesforderungen, von aller lähmenden Kasuistik, von allem Noch-Mehr und Noch-Besser..
Schon die beiden Experten damals haben es in aller Deutlichkeit erkannt. Immer und immer wieder bestätigen sie sich in ihrer Ein-Sicht.
Wichtiger, unendlich wichtiger als alles „Du sollst – du sollst nicht“ – wichtiger als alles angestrengte Suchen und Rennen nach gesteigertem Glück und der Erfüllung deines Lebens ist doch die Erkenntnis:
Da ist Einer, da war schon immer Einer, von dem her mein Leben seine unendliche Bestimmung erhält.
Der Gott, der die Liebe ist. Der Gott, der mir die Gewissheit gibt: Ich bin mehr, viel mehr als nur ein austauschbares Rädchen im großen Getriebe. Ich bin mehr, unendlich viel mehr als nur das Resultat des Planungs- und Gestaltungswillens anderer Menschen. Ich bin mehr, unendlich viel mehr als nur ein Faktor im Zufallsspiel von Natur und Geschichte.
– Und Ihn lieben, Ihn als den anerkennen, der er ist, der tragende Grund und der unendliche Sinn meines Lebens – das ist das höchste und größte Gebot.
Wirklich: welche Befreiung liegt in dieser Erkenntnis. Welche Befreiung ermöglichen uns bis zu diesem Tag jene beiden so unterschiedlichen Gesetzesexperten von damals in ihrer so klaren Entscheidung.

Erstaunlich: auch der mit der jüdischen Gesetzestradition ganz und gar vertraute und in ihr beheimatete Gelehrte sieht es so. Sieht es genau so wie Jesus, der unkonventionelle Wanderprediger, der die Menschen auf seine ganz eigene Art immer wieder auf das Reich Gottes aufmerksam gemacht hat. Das Reich Gottes, das eben mit Ihm schon da ist.
Seht, das ist es, das Reich Gottes. Das und nichts anderes. Dass Ihr Gott als den tragenden Grund eures Daseins anerkennt. Als die Liebe, die euch trägt, längst ehe ihr zu lieben begonnen habt. Als den Vater, der auf euch wartet, auch wenn ihr scheitern solltet mit eurem unstillbaren Glücksverlangen.

Und dass ihr dann, aus dieser befreienden Einsicht heraus, erkennt, dass auch die Menschen neben euch und um euch Gottes Kinder sind. Denn:
„ Das Andere ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ -
Die Nächstenliebe: sie ist, so gesehen, gebotene Liebe. Nicht ersehnte, nicht beglückende, nicht geschenkte Liebe.
Die Nächstenliebe ist in der Folge dessen, was wir aus jenem Lehrgespräch von damals erkannt haben, für uns erkannt haben, die Liebe des klaren Kopfes.
Ja, natürlich: wenn ich für mich Gott als den tragenden Grund meines Lebens erkannt habe, als die Liebe, die mich trägt, dann ist die Liebe zum Nächsten doch einfach geboten. Wird zur vernünftigen christlichen Lebenspraxis, die alles umfasst.
Noch besser, noch viel besser als nur mit diesen dürren und doch wieder lehrhaften Worten hat es Martin Schalling, der Schüler Philipp Melanchthons, in unserem Gesangbuch gesagt und gesungen. Es ist das Wochenlied dieser Woche:
„ Es ist ja, Herr, dein G´schenk und Gab mein Leib und Seel und was ich hab in diesem armen Leben. Damit ich´s brauch zum Lobe dein, zu Nutz und Dienst des Nächsten mein, wollst mir dein Gnade geben.“
Gott geb´s, dass das zur bleibenden Melodie unseres Lebens werde.
Ich bin sicher, sie wird uns satt machen. Amen

Pfarrerin Doris Gräb
Burgfrauenstraße 79a
13465 Berlin
Telefon: 030/40585890
e-mail: dorisgraeb@aol.com


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