Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Reformationstag, 31. Oktober 2003
Predigt übe
r Matthäus 5, 2-10, verfaßt von Gerhard Müller
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Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

Der Predigttext steht Matthäus 5, 2 – 10 und lautet:

„Jesus tat seinen Mund auf, lehrte seine Jünger und sprach:
Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.“

Soweit die Worte der Heiligen Schrift.

In der reformatorischen Verkündigung sei es darum gegangen – so steht es in dem wichtigsten Bekenntnis der Reformation - die Menschen zu trösten. Sie hätten gelehrt werden müssen, um nicht angesichts der unklaren und dadurch unbegrenzten Anforderungen der Kirche sich selbst hilflos ausgeliefert zu sein. In der Tat ging es den Reformatoren um die Unterscheidung zwischen dem, was Gottes ist, und dem, was wir Menschen zu tun vermögen – und auch tun sollen. Ein Text, der zu trösten vermag, sind die Seligpreisungen Jesu am Beginn seiner Bergpredigt. Mit einfachen Worten werden diejenigen selig, glücklich gepriesen, die in rechter Weise Jüngerinnen und Jünger Jesu sind. Ein erfülltes Leben wird denen zugesagt, die sich arm und elend fühlen, die das, was ist, nicht für das Ziel aller Wege halten, sondern die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit.

Wie fühlen wir uns? Das dürfte höchst unterschiedlich sein: Manche können Erfolge konstatieren, andere dagegen leiden unter Niederlagen; hier gibt es Zufriedenheit, dort berechtigten Anlaß zur Klage. Aber uns alle verbindet, daß wir uns etwas sagen lassen wollen. Vielleicht wird uns eine Zusage erreichen, vielleicht auch eine Anfrage. Jedenfalls will Jesus mit den Seligpreisungen den Seinen das Ziel zeigen, das vor ihnen liegt: Gottes Herrschaft, das Himmelreich, wie es am Beginn und auch am Schluß unseres Bibelabschnittes heißt. Heil sind die, die von seinen Worten getröstet und bewegt werden. Seligkeit breitet sich bei ihnen aus. Das ist mehr als ein kurzer Augenblick der Zufriedenheit – obwohl wir ja manchmal dankbar sind, wenn uns überhaupt solch ein guter Augenblick beschieden wird.

Denn normalerweise breitet sich Unsicherheit aus. Da gibt es die Debatten über Reformen, die alle darauf hinauszulaufen scheinen, daß sie uns weh tun werden. Da gibt es Anforderungen, die schwindelerregend sind: Beweglich müssen wir sein; so heißt es. Berufswechsel sollen auf uns warten; das Ende der Ansprüche wird eingeläutet. Was geht eigentlich vor? Wir befassen uns nur noch wenig mit Gott – aber wir alle reden von den politischen und sozialen Veränderungen, die wir noch gar nicht kennen, aber umso mehr fürchten. Von Nachhaltigkeit wird geredet. Aber die Gültigkeit politischer Entscheidungen wird immer kürzer. Werden wir die Geister nicht mehr los, die wir gerufen haben?

Dabei hatte man uns doch ein sorgenfreies Leben versprochen. Die Werbung teilt uns mit, was wir uns alles verdient haben – und wir sind stolz darauf, daß andere einsehen, wie bedeutend wir sind. In Wahrheit will man mit solchen Aussagen nur an unser Geld. Man gaukelt uns vor, wir würden sparen, wenn wir dort Geld ausgeben, wo gerade alles so phantastisch billig ist – aber was nun eben doch seinen fast schamhaft verschwiegenen Preis kostet. Unter einer Spaß-Gesellschaft haben sich viele eigentlich etwas anderes vorgestellt. Aber damit wir nicht nachdenklich werden, werden wir mit immer neuen Angeboten überschüttet. Da ist es nicht verwunderlich, daß wir zu klagen anfangen: Alles wird immer schlechter, teurer und schwieriger. Vor allem die Älteren unter uns kommen nicht mehr mit. Aber auch sie sind nicht vergessen, sind sie doch ein Markt, der immer größer wird – mit allen sozialen Belastungen, die sich daraus für die nachwachsende, kleingewordene Generation ergeben.

Auch wir sind deswegen dankbar, wenn uns tröstende Worte erreichen, Worte, die nicht über unser Ohr hinwegrauschen, sondern die in unser Herz hineingehen, die Labsal sind und die uns aufrichten. Wir unterscheiden uns wohl doch nicht stark von den Menschen in unserem Land, die vor 450 Jahren gelebt haben, denen um Trost bange war. Belehrung und Trost sind dann willkommen, wenn sie uns in unserem Alltag erreichen. Das war schon immer der Wille der Worte Jesu: Er wendet uns ab von den Alltäglichkeiten, die unsere Zeit verbrauchen und die unsere Kräfte verzehren. Er wendet unseren Blick auf lohnende Ziele: auf Barmherzigkeit, auf Frieden, auf Gerechtigkeit.

Wir merken unsere Grenzen. Wir sind unsicher im Hinblick auf das, was wir zu erreichen vermögen und auch im Hinblick auf das, was kommt. Wir erkennen, wie die Zeit unwiderbringlich verrinnt. Wir leiden unter Mißverständnissen, unter der fehlenden Kraft für ein klärendes und vielleicht auch hilfreiches Gespräch: mit den Mitmenschen und auch mit Gott, an den wir uns im Gebet kindlich vertrauensvoll wenden könnten. Es sind die Armen, die glücklich, die heil, die selig gepriesen werden. Ihnen steht kein Besitz im Weg, der ihre Gedanken bindet. Schwer ist es für Menschen, die Verantwortung durch Reichtum auf sich geladen haben, sich davon zu befreien und sich anderen oder gar Gott zuzuwenden. Wer geistlich arm ist, wer sich also nichts auf seine Klugheit einbildet oder auf seine Frömmigkeit, die von so vielen Menschen bewundert wird, vor denen steht die Herrschaft Gottes, das Himmelreich; sie können sich dieser Herrschaft zuwenden und sich befreien lassen von der Sorge um den morgigen Tag.

Auch die Leidenden werden selig gepriesen. Sie sollen in ihrem Leid nicht ersticken, sondern ihnen soll Trost, Befreiung zuteil werden von dem, was ihre Seele und ihr Herz zusammenschnürt. Seltsam: Wir halten die Zufriedenen und die Reichen für glücklich. Jesus aber preist die Zukurzgekommenen selig, die Einflußlosen, die häufig gar nichts mehr vom Leben erwarten. Nein, so sagt er, gerade ihr, die ihr eure Armut erkennt, die ihr leidet unter den Unzulänglichkeiten des Lebens, ihr seid selig! Das ist keine vage Zusage auf eine unbestimmte Zukunft, sondern es ist ein Zuspruch für die, deren Tag dunkel ist.

Selig sind nicht die Mächtigen, die Gewalt anwenden, sondern die Sanftmütigen. Sie sind nicht auf Konflikte aus, sondern sie bemühen sich um Verständigung. Schülerinnen und Schüler werden zu Mediatoren ausgebildet, zu Leuten, die ein gutes Wort einlegen und die nicht die glimmenden Streitigkeiten zu hellem Feuer entfachen. Mediatoren, Leute, die sich um Verständigung und um die Beilegung von Konflikten bemühen, müssen mutig sein, um sanft sein zu können, eben sanft-mutig, sanftmütig. Solchen Menschen wird zugesagt, daß sie auf Erden wohnen, daß sie auf ihr eine Heimat finden können.

Jesus spricht auch von Gerechtigkeit. Sie ist auch uns wichtig. Um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung bemühen sich in unserer Zeit viele Christen. Wir nennen dies den konziliaren Prozeß, weil wir auf diesem Weg nur gemeinsam vorankommen können und weil es ein Weg ist, ein beschwerlicher Weg, auf dem auch Rückschläge nicht ausbleiben, zu dem es aber gleichwohl keine Alternative gibt. Schon zur Zeit Jesu mangelte es an Gerechtigkeit, und es gab Leute, die nach ihr hungerten und dürsteten – es ist ihnen also wirklich ernst damit und nicht nur ein hohles Gerede. Denn der größte Feind der Gerechtigkeit ist die Verschleierung der Wahrheit. Wo Unrecht vertuscht wird, kann sich Gerechtigkeit nicht mehren. Jesus sagt den Jüngerinnen und Jüngern, denen es um Gerechtigkeit zu tun ist, zu, daß ihr Wunsch erfüllt wird. Das kann sich nur auf die Herrschaft Gottes beziehen, denn wir Menschen müssen uns immer wieder neu um Gerechtigkeit mühen. Aber bei Gott gibt es kein Ansehen der Person. Er handelt und urteilt gerecht.

Wir wollen uns nicht alle Seligpreisungen Jesu vornehmen. Sie alle zeigen uns, daß die ein erfülltes Leben führen, die sich nicht über ihre Mitmenschen hinwegsetzen, sondern die sich um sie mühen, mit einem Wort: die Nächstenliebe üben. Das findet nicht immer Anerkennung, ja es führt häufig zu Abwehr, denn solche Liebe war und ist in unserer Ellenbogengesellschaft immer anstößig, ja ärgerlich. Deswegen lautet die letzte Seligpreisung unseres Bibelabschnittes: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden.“ Das hat sich schnell und immer wieder als richtig herausgestellt: Jesus selbst wurde zu einem schmählichen Tod verurteilt; und viele seiner Jünger und Jüngerinnen wurden Märtyrer, Menschen, die ihr Eintreten für Gottes Gerechtigkeit mit dem Tod bezahlen mußten. Auch in der Reformationszeit und bis in unsere Tage hinein ist dies immer wieder der Fall gewesen. Deswegen ist Jesu Zusage hilfreich und tröstlich: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit verfolgt werden.“

Jesu Seligpreisungen lehren uns, daß wir getrost und unverzagt sein können. Sie sind Trost und erwecken Zuversicht – Zuversicht auch in einer Zeit, die Sorgen hervorruft. Denn wir sind es nicht, die die Welt regieren könnten. Das wollen wir ihrem Schöpfer überlassen, der uns erhält. Aber was wir tun können, das sei zuversichtlich angegangen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Liedvorschlag: Evangelisches Gesangbuch 307.

Landesbischof i.R. Prof. Dr. Gerhard Müller, Erlangen
gmuellerdd@compuserve.de

 


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