Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Reformationstag, 31. Oktober 2003
Predigt übe
r Matthäus 5, 1-10, verfaßt von Christoph Dinkel
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Als Predigttext hören wir die Seligpreisungen Jesu. Sie stehen in Matthäus 5, die Verse 1-10 und bilden den Auftakt zur Bergpredigt Jesu:

Als Jesus das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:
Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.

Liebe Gemeinde,
wie einst Mose vom Berg Sinai die Gebote Gottes für sein Volk brachte, so begibt sich auch Jesus auf einen Berg, um jenen, die ihm nachfolgen, seine Botschaft zu verkündigen. Die Bergpredigt fasst alles zusammen, was Jesus die Menschen gelehrt hat. Und am Beginn dieser Bergpredigt stehen die Seligpreisungen. Sie sind gleichsam die neuen Gebote für das Reich Gottes, das Grundgesetz des Himmelreichs, das Jesus den Menschen verkündet und das in seiner Person hier auf dieser Erde seinen Anfang genommen hat.

Doch ganz anders als die Zehn Gebote vom Sinai stellt Jesus nicht das „du sollst“ oder das „du sollst nicht“ in den Mittelpunkt seiner Botschaft. Jesus fängt seine Rede an mit einem Zuspruch, mit der nicht zu überbietenden Zusage: „Selig bist du!“ Selig – das heißt glücklich, über die Maßen erfüllt von Freude und Glück. Am Anfang von Jesu Botschaft steht programmatisch das Wort „selig“. Es ist eine frohe Botschaft, eine Botschaft, die das Leben, die Freude, das Glück in einem nicht überbietbaren Sinn für die Menschen will.

Glücklich, ja selig sollen die Menschen sein. Diesem Wunsch werden wir leicht zustimmen. Wer wünscht sie sich nicht, die Glückseligkeit? Aber, das wissen wir doch auch: Wunsch und Wirklichkeit – sie klaffen manchmal weit auseinander. Oft genug ist die Wirklichkeit trübe und finster. Der Himmel ist von der Erde weit entfernt und für manche Menschen gleicht die Erde mehr der Hölle als dem Himmel.

Mit ungeheurer Kühnheit verkündigt Jesus die Seligkeit gerade jenen Menschen, denen das glatte Gegenteil von Glück und Seligkeit widerfahren ist. Und zu allererst preist Jesus diejenigen selig, die geistlich arm sind, also jene, die mutlos und verzweifelt sind. Eine irritierende, fast groteske Botschaft: selig die Verzweifelten!? Doch Jesus setzt diese Reihe fort: Auch die Trauernden und Leidtragenden und jene, die wegen ihres Einsatzes für Gerechtigkeit verfolgt werden, preist Jesus selig und glücklich. Verzweiflung und Glück, Trauer und Glück, Verfolgung und Glück – das sind extrem spannungsreiche Paare. Was die Seliggepriesenen erleben und was Jesus ihnen in der Bergpredigt verheißt, steht in scharfem Kontrast zueinander.

Geistlich arm sein – das ist wohl am schwierigsten zu verstehen. Geistlich arm sein, das heißt Verzweiflung spüren, weil im Leben alles anders läuft als man es sich gewünscht hat: Verzweiflung über eine zerbrochene Beziehung, in die man so viel Hoffnung gesetzt hat, Verzweiflung, weil man krank geworden ist und die Schmerzen und die Angst kaum mehr ertragen kann. Geistlich arm sein, das heißt mutlos sein, weil die eigenen Kinder gerade die Wege gehen, vor denen man sie schützen und bewahren wollte. Geistlich arm sein, bedeutet mutlos sein, weil einem die Noten in der Schule das Versagen und Scheitern mit aller Härte und Brutalität ins Zeugnis schreiben; mutlos sein, weil keine Aussicht auf einen Ausbildungsplatz oder auf eine neue Arbeitsstelle besteht und weil man nicht weiß, wie man seine Tage füllen und sein Leben gestalten soll. All denen, die mutlos und verzweifelt sind, sagt Jesus: Selig seid ihr, Euch gehört das Himmelreich!

Und genauso scharf ist der Kontrast auch bei den anderen Seligpreisungen. Allen, die trauern, weil sie einen lieben Menschen verloren haben, allen, die weinen, weil sie den Verlust nicht verschmerzen können, allen, die ihre Einsamkeit ohne den geliebten Partner und Freund schier in den Wahnsinn treibt, sagt Jesus: Selig seid ihr, ihr sollt getröstet werden. Und auch den Verfolgten, denjenigen, die für Gerechtigkeit eintreten und die dafür bestraft und gejagt werden, sagt Jesus: euch gehört das Gottes Reich!

Die Seligpreisungen Jesu sind voll scharfer Kontraste – gerade das macht ihren Reiz, ihre Bedeutung, ihre große Kühnheit aus. Die Seligpreisungen Jesu stellen unseren Erfahrungen und unserer oft genug trostlosen Sicht der Welt die Perspektive Gottes, die Perspektive des Himmels gegenüber. Aus dem Blickwinkel Gottes und seiner Liebe tauchen die Erfahrungen der Verzweifelten, der Trauernden und der Verfolgten in ein neues Licht. Wer sich selbst als armselig und mutlos erlebt, wird zum Bürger von Gottes Reich erklärt. Den Trauernden wird der Trost Gottes und den Verfolgten die Zugehörigkeit zu Gottes neuer Welt zugesagt. Und auch die Sanftmütigen, die nach Gerechtigkeit Hungernden, die Barmherzigen, diejenigen, die reinen Herzens sind, und die Friedensstifter werden von Jesus ausgezeichnet und selig gepriesen. Sie sind wahrhaft Kinder Gottes, ihr Hunger soll gestillt werden, sie werden selbst Barmherzigkeit erlangen und Gottes Herrlichkeit schauen.

Die Seligpreisungen Jesu setzen eine andere Wirklichkeit in Kraft. Es ist die Wirklichkeit Gottes, die Wirklichkeit des Himmels, jener anderen Sphäre, aus der unser Leben kommt und die unser ganzes Leben mit seinen Höhen und Abgründen umfängt. Oft genug vergessen wir diese andere Sphäre. Wir lassen uns gefangen nehmen vom Alltag, von seinen Bildern und Geräuschen und von seiner hektischen Betriebsamkeit und von seiner scheinbar bezwingenden Logik: Der Ehrliche ist der Dumme. Der pure Schein zählt, nicht das, was eine wirklich kann. Wer selbstsicher auftritt und jeden Zweifel überspielen kann, steht am Ende als Sieger dar. Die Seligpreisungen Jesu sind Worte gegen solch resignierende Formeln, die unsere Welt und unser Erleben oft bestimmen. Mitten in das Rauschen und Dröhnen unserer Alltagslogik hinein ergeht in den Seligpreisungen Jesu ein anderes Signal, ein Signal des Himmels, der diese Erde neu macht und verwandelt. Die Seligpreisungen führen die Perspektive Gottes in diese Welt und ihre Wirklichkeit ein. Und aus der Perspektive Gottes stehen die Barmherzigen, die Friedensstifter und die Verfolgten auf der richtigen Seite, sie sind Bürger der neuen Welt Gottes und deshalb selig zu preisen.

Es fällt nicht leicht, der Botschaft der Seligpreisungen zu glauben angesichts all der Schreckensmeldungen, die über die Medien täglich auf uns einströmen: immer wieder reißen im Nahen Osten fanatisierte Selbstmörder mit ihren Bomben andere Menschen mit in den Tod. Die schwedische Außenministerin wird in dummer Raserei erstochen, in Overath fällt eine Anwaltsfamilie der Wut eines Besessenen zum Opfer, völlig sinnlos und aus nichtigem Anlass. Es fällt schwer, die Botschaft der Seligpreisungen Jesu angesichts der Schreckensmeldungen zu glauben, die uns fast täglich erreichen und deren Reihe sich beliebig verlängern ließe.

Und dennoch, trotz aller Einwände: die Seligpreisungen Jesu üben einen gewaltigen Reiz aus, sie sind voller Trost und Kraft, auch noch 2000 Jahre nachdem Jesus sie auf dem Berg seinen Anhängern verkündet hat. Der scharfe Kontrast zwischen den Seligpreisungen und der erlebten Wirklichkeit bestand ja schon damals, als sie zum ersten Mal zu hören waren. Jesus und seine Zuhörer haben in einer ähnlich grausamen Welt gelebt wie wir. Vermutlich war die tägliche Gewalt zu Jesu Zeit sogar noch weiter verbreitet als heute und sie wurde nicht über die Medien aus großer Distanz, sondern aus nächster Nähe erlebt. Die Kreuze der Opfer der römischen Besatzer konnte jeder am Straßenrand stehen sehen. Verkrüppelte und zerstörte Menschen lebten für alle sichtbar auf der Straße, keine Sozialhilfe stand ihnen zur Seite und sorgte für das Nötigste.

Auch für die Menschen um Jesus standen ihre Erfahrungen und die Seligpreisungen Jesu in scharfem Gegensatz. Dass sie dennoch auf Jesus gehört haben und ihm nachfolgten, liegt daran, dass Jesus nicht nur über Gottes neue Welt und die Seligkeit des Himmels geredet hat. Jesus stand selbst in seinem Tun für diese neue Welt Gottes ein. Die biblischen Erzählungen machen deutlich: Was Jesus in den Seligpreisungen verkündet hat, meint er ernst. Mit der Tat und am Ende sogar mit seinem Leben setzt sich Jesus dafür ein, dass Trauernde und Verzweifelte getröstet und aufgerichtet werden, dass Kranke geheilt und Ausgestoßene aufgenommen werden, dass Verfolgte Schutz finden und Barmherzigen Barmherzigkeit wiederfährt. Jesu steht mit der Tat und mit seinem Leben für die Wahrheit der Seligpreisungen ein. Er stellt sich damit gegen all unsere Erfahrungen von Trost- und Mutlosigkeit, gegen alle Verzweiflung und Enttäuschung.

Und das Faszinierende daran ist, dass Jesu Mut, sich dem Elend entgegenzustellen, ansteckend wirkt. Von Jesus geht eine Kraft aus, die Menschen in den Bann zieht und verwandelt, die sie erneuert und mit einer Energie ausstattet, von der sie selbst nichts geahnt haben. Um Jesus herum sammeln sich Jüngerinnen und Jünger, die ihm nachfolgen und in seinem Sinne weiterwirken. Und selbst der Tod Jesu kann die Macht seiner Worte und Taten nicht brechen. Mit Jesu Tod, so müsste man zunächst einmal denken, ist alles aus, wofür er stand. Jesu Leiden und Sterben erscheint wie ein Widerspruch zu den Seligpreisungen. Vom Kreuz Jesu aus betrachtet müsste man die Seligpreisungen eigentlich in ihr Gegenteil verdrehen: Es ist nicht wahr, dass die Barmherzigen Barmherzigkeit erlangen. Es ist nicht wahr, dass den Sanftmütigen und den Friedensstiftern die Erde gehört. Das alles war ein Irrtum, die schöne Phantasie eines zu gutmütigen Rabbis aus Galiläa. Hier hängt er tot und mit ihm zusammen werden all die Hoffnungen auf Gottes neue Welt begraben.

Alle Einwände und Argumente gegen die Seligpreisungen sind in Jesu Kreuz auf Golgatha sichtbar. Und weil der christliche Glaube ein Glaube im Zeichen des Kreuzes ist, verleugnet er diese Einwände nicht. Im Kreuz Jesu stehen sie uns klar vor Augen. Der Glaube im Sinne der Seligpreisungen Jesu ist oft genug ein Glaube gegen das Faktische, gegen das Misslingen des Lebens, gegen den Sieg von Ungerechtigkeit und Hass.

Aber, so kann man fragen, was wäre diese Welt ohne die Verheißung der Seligpreisungen Jesu? Was wäre das für eine Welt, in der die Trauer und das Leid, die Mutlosigkeit und die Verzweiflung unwidersprochen hingenommen würden? Was wäre diese Welt ohne die Sphäre des Himmels mit seiner anderen Wirklichkeit und seiner anderen Perspektive? Wie elend wären wir dran, wenn nur das gälte, was auf der Hand liegt und wir nichts von der Sicht Gottes auf unser Leben wüssten, nichts davon, dass wir als Menschen noch eine andere Heimat haben, zu der wir gehören und die uns mit ihren guten Mächten auch dann umfängt, wenn wir allen Trost vermissen?

Was wäre schließlich diese Welt ohne all jene Menschen, die Jesus nachfolgen und die, fasziniert von seiner Botschaft, angesteckt von seinem Geist, das Gerechte tun, den Frieden fördern, Kranke heilen, Trauernde trösten, Verzweifelten weiterhelfen und Barmherzigkeit üben? Der Glaube im Sinne der Seligpreisungen Jesu ist nicht nur ein Glaube gegen die faktischen Verhältnisse in der Welt. Dieser Glaube ist auch ein tätiger Glaube, ein Glaube, der das zur Wirklichkeit macht, was Jesus verheißen hat. Trotz aller Rückschläge, trotz mancher Zweifel und trotz der Haltung vieler, dass es ja doch nichts bringt, wenn man sich für große Ziele einsetzt, bauen Menschen in der Nachfolge Jesu und ergriffen vom Mut seiner Seligpreisungen mit an Gottes neuer Welt.

Die Kraft, die sie dabei beflügelt, ist die Kraft von Ostern, die der niederschmetternden Erfahrung des Kreuzes widerspricht. Die Botschaft, dass der gedemütigte und geschlagene, dass der unschuldig verurteilte und gekreuzigte Jesus nicht im Tode blieb, sondern von Gott auferweckt wurde, setzt dem „Nein!“ des Karfreitags das „Ja!“ Gottes entgegen. Die Niederlage Jesu ist nicht endgültig. Der Triumph des Todes und der Hölle hat keinen Bestand. Gottes gute Mächte sind stärker als der Tod, Gottes neue Welt kommt zu den Menschen allem Elend, aller Not und aller Verzweiflung zum Trotz. Der Himmel, der sich am Karfreitag beim Tode Jesu verfinsterte, meldet sich an Ostern mit seinem Licht und mit neuer Klarheit zurück. Gott stellt sich auf die Seite Jesu und bestätigt, was Jesus auf dem Berg verkündigt hat:
Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. – Amen.

PD Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
christoph.dinkel@arcor.de

 


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