Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 9. November 2003
Predigt übe
r Lukas 17, 20-33, verfaßt von Hanne Sander (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Der Gedanke vom Reich Gottes hat die Menschen stets mit Ungeduld erfüllt. Lukas erzählt hier, daß einige führende Juden zu Jesus kamen, um etwas über das Reich Gottes zu erfahren. Wann kommt es? Ihr Hintergrund war ein Land und ein Volk, das von den Römern besetzt war. Ihre politische und wirtschaftliche Selbstbestimmung war ihnen genommen, und deshalb hofften sie natürlich auf Veränderung und bessere Zeiten, ja faktisch war es so, daß die Hoffnung mehr und mehr wuchs und stärker wurde, auch wenn sie immer wieder enttäuscht wurde.

Der Gedanke an das Reich Gottes hat auch im Laufe der Zeit Menschen dazu veranlaßt, die Sache in die eigene Hand zu nehmen - wenn sie am ungeduldigsten wurden und meinten, daß aus der Verbesserung der Welt nichts würde.

Hört mal auf einen Festredner in einem revolutionären Klub in Rußland, der in den 1840er Jahren so redete: Ein neues Leben erwartet die Welt. Es ist unsere Aufgabe, die Millionen darauf vorzubereiten, es zu empfangen, Wir sollen die edlen, starken und brüderlichen Eigenschaften bei all den bislang Unterdrückten freimachen. Wir werden Großstädte und Hauptstädte niederreißen und das Material für neue Gebäude verwenden. Dieses ganze Leben in Leiden und Elend, Furcht und Armut werden wir in ein Leben im Überfluß verwandeln, in einen Reichtum an Freude und Glück. Die ganze Erde werden wir mit Palästen und blühenden Gärten überziehen. Hier bei uns wir die Verwandlung stattfinden, und so stark wird sie leuchten, daß die ganze Welt nachfolgt" (nach Knud Hansen: Om at haver mod til livet, dt. Vom Mut zum Leben, S. 238).

Man konnte dasselbe 100 Jahre später in Deutschland hören. Die Veränderung und das neue Leben erforderte angeblich die Ausrottung des jüdischen Volkes und aller Schwachen und Behinderten - dafür sollte das neue Reich dann aber auch kommen.

Die Weltgeschichte weist viele Beispiele auf für die Ungeduld der Menschen mit der Welt, die verbessert werden soll - und sie liefert noch immer Beispiele. Das brauchen nicht immer unmenschliche und fanatische Beispiele zu sein, aber die Menschen, die mit dem Zustand der Welt am ungeduldigsten sind, sind in der Regel auch, die, die am meisten von ihrer eigenen Rechtgläubigkeit überzeugt sind.

Aber bedarf die Welt nicht der Verbesserung? Ist es nicht verständlich, daß Menschen auf ein neues Leben und eine neue und bessere Welt hoffen?

In der Tat, Jesus gesteht dies hier in diesem Text zu. Er kann den Jüngern gut folgen, wenn sie manchmal den großen Umsturz herbeisehnen.

Aber - und diese Pause muß lang sein, denn Jesus kehrt ihre Vorstellungen um und schickt den Gedanken an das Reich Gottes dorthin zurück, wo er herkam.

Das Reich Gottes ist nicht etwas, was ihr in der Zukunft erwarten sollt, das Reich Gottes ist nicht etwas, das sich woanders befindet als dort, wo ihr sein. Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Das Reich Gottes ist immer Gegenwart.

In der Taufe im Gottesdienst hören wir auch, daß das Reich Gottes den Kindern gehört: "Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn ihnen gehört das Reich Gottes".

Ja, wenn die Kinder schon im Reich Gottes sind und der, der das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, nicht hineinkommt - was ist das dann überhaupt, das Reich Gottes?

Und was haben Kinder oder was können Kinder, was die Erwachsenen nicht können? Ja sie können im Jetzt leben und sein. Sie können so mit einem Spiel beschäftigt sein, daß sie ganz im Augenblick gegenwärtig sind. Ohne es zu wissen, geben sie sich hin, das Jetzt erhält Ewigkeit.

Søren Kierkegaard gebraucht ein Bild von jemandem, der in einem Boot rudert, um etwa dasselbe zu sagen: "Wer ein Boot rudert, kehrt dem Ziel, dem er sich doch entgegenarbeitet, den Rücken zu ... Wenn ein Mensch mit des Ewigen Hilfe als ein in de Tag heute Vertiefter lebt, so kehrt er dem morgigen Tag den Rücken zu" (Christliche Reden 1848, Gesammelte Werke 20, S. 77; dänische Ausg.; SV, 3. Aufl., 13, S. 74).

Und wenn wir wieder dem Text bei Lukas folgen, so geht Jesus in seinen Gedanken von der Zeit noch weiter. Wenn man sich nämlich das Reich Gottes bzw. das neue Leben als etwas vorstellt, das in der Zukunft liegt, wird es oft mit dem Gedanken vom Weltuntergang verknüpft. Aber auch hier will Jesus seinen Zeitgenossen nicht folgen in Spekulationen und Auslegungen von möglichen und unmöglichen Zeichen des Unterganges.

Noch einmal: Nicht etwa deshalb, weil Jesus von den Bedingungen nichts wissen will, unter denen wir Menschen leben. Es ist richtig, daß alles sein Ende finden wird. Das Leben des einzelnen Menschen hat seine Zeit - und der Tod gehört genauso sehr zum Leben des Menschen wie Essen und Trinken und Heiraten und Einkaufen und Pflanzen und Bauen und was man sonst noch nennen kann.

Das Besondere ist, daß Jesus im Hinblick auf das Reich Gottes nicht ungeduldig wird, auch nicht in Panik verfällt, wenn er an das Ende der Zeit denkt. "Er lebte nicht für etwas, was kommen sollte, sondern für das, was um ihn herum war, für den Anblick der Lilien auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel, die den Lärm der Kinder, die Flöte Spielen oder Klagelieder sangen, Hochzeit spielten oder Beerdigung, für Menschen, die ihn in Beschlag nahmen und ihn nicht in Ruhe lassen konnten" (Knud Hansen). Er lebte in einer befreiten Aufmerksamkeit für die Gegenwart - ohne von der Vergangenheit festgehalten zu werden und ohne in die Zukunft zu flüchten.

So einleuchtend und richtig es ist, daß man nur in der Gegenwart sein kann, weil die Vergangenheit nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist - genauso schwierig ist es, gegenwärtig zu sein.

Hin und wieder aber erleben wir doch - auch als Erwachsene, die sich der Zeit bewußt sind - daß wir sind, daß die Zeit still steht, wie wir sagen, daß der Augenblick in die Ewigkeit hineinreicht. Und dann ist das Reich Gottes mitten unter uns. Amen.

Pfarrerin Hanne Sander
Prins Valdemarsvej 62
DK-2820 Gentofte
Tel.: 39 65 52 72
e-mail: sa@km.dk

 


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