Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 16. November 2003
Predigt übe
r Matthäus 25, 31-46, verfaßt von Erik Høegh-Andersen (Dänemark)
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Wenn man die Möglichkeit hätte, vom christlichen Glauben etwas wegzunehmen und etwas hinzuzufügen, dann würden viele wohl sofort die Vorstellung vom jüngsten Gericht, von einem himmlischen Gericht am Ende der Zeiten entfernen. Diese Vorstellung, die uns heute vor Augen gestellt wird, in einem gewaltigen Bild, wo wir den Menschensohn vor uns sehen auf dem himmlischen Thron. Um sich hat er die Engel. Und vor ihm versammeln sich die Völker, um sein Urteil zu empfangen. Er wird sie trennen, wie ein Hirte die Schafe von den Böcken trennt. Und einige wird er ins ewige Leben geleiten, andere gehen der ewigen Strafe entgegen.

Was können wir eigentlich mit einer solchen Vorstellung anfangen? Auch ich frage mich das zuweilen selbst. Wir sehen diese Vorstellung ja oft in den Kirchen unseres Landes an den Fresken. In der Mitte der thronende Christus, der Richter. Vor ihm die wartenden Volksscharen. Auf der rechten Seite all die, die der himmlischen Glückseligkeit entgegengehen. Links Menschen, die alle Qualen der Hölle erleiden.

Oft wird das, was in der Hölle geschieht, mit einer unvergleichlichen Phantasie und Lebendigkeit geschildert. Man sieht die bösen Teufel, wie sie die Verlorenen quälen, und man sieht schließlich, wie sie im ewigen Feuer verbrennen. Man kann sich fast nichts anderes vorstellen als daß der Maler ganz konkrete Personen im Auge hatte, die er nun sicher im Höllenfeuer angebracht hat.

Was können wir mit einem solchen Bild anfangen? Es hat ja im Laufe der Zeit vermutlich viel Furcht und Zittern und Angst vor den kommenden Strafe hervorgebracht. Es hat in bestimmten Perioden gewiß dazu beigetragen, Gräben zu schaffen zwischen Menschen, wenn man zwischen Erlösten und Verdammten unterschied. Wäre es nicht besser, wir würden sagen, daß wir mit diesem Denken nichts anfangen können?

Ich denke, man sollte nicht vergessen, daß dieses Bild ein Gleichnis ist. Man solle es ernst nehmen, aber nicht wörtlich. Es ist ein Bild, das uns zeigt, daß es so etwas gibt wie die Stunde der Wahrheit. Man kann nicht sagen wo und wie. Aber die Wahrheit in unserem Leben wird uns letztlich offenbart, und wir werden uns selbst sehen, wie wir sind.

Ich gebe zu, daß die Vorstellung von einer ewigen Strafe sehr problematisch ist, ich werde darauf zurückkommen. Aber daß es eine Stunde der Wahrheit gibt, ein Gericht, darauf - glaube ich - können wir nicht verzichten, ja das ist ganz entscheidend für unser Leben.

Man kann nämlich fragen: Wie würde unser Leben sein, wenn es keine letzte Wahrheit gäbe, an der wir gemessen werden? Wenn es keine himmlische Klarheit gäbe, wo wir von Angesicht zu Angesicht sehen, was wir hier im Leben nur dunkel ahnen und verstehen.

Dann wäre unser Leben nur eine Anhäufung von Illusionen, ohne daß wir je zu einer endgültigen Wahrheit kämen. Dann wären wir dem ausgeliefert, was richtig und wahr für die jeweilige Zeit ist. Und die Zeiten wechseln bekanntlich. Was Menschen als wahr und gültig vor 300 Jahren erfahren haben, ist nicht mehr unbedingt das, was für uns heute wichtig ist. Wenn es keine letzte Wahrheit gibt, wo alles zur Klarheit kommt, dann ist das Dasein in Wirklichkeit eine einzige lange Wanderung in einem Labyrinth, aus dem wir nie entkommen. Denn dann gäbe es ja keine Wahrheit, keinen Maßstab außerhalb der Welt, außerhalb von uns selbst, sondern es gäbe nur die Ansichten und Urteile, die wir selbst schaffen und verbreiten und gegenüber den anderen geltend machen.

Was aber mit dem Menschen, der sein ganzes Leben die Mißbilligung seiner Umgebung ertragen muß, Verurteilung, Kleinlichkeit - oder gar Abscheu und Verfolgung? Ohne eine letzte Wahrheit, einen himmlischen Maßstab wäre die Verurteilung ja alles, was über das Leben dieses Menschen zu sagen ist. Wie in dem Märchen von Hans Christian Andersen: "Sie taugte nichts". Dieses Märchen erzählt von einer Wäscherin, die zwar hin und wieder ein Schluck Branntwein zu sich nimmt, um das Dasein auszuhalten und vom Morgen bis zum Abend zu waschen am kalten Bach, um sich selbst und ihren Jungen zu versorgen. Aber die stehende Rede der Umwelt, mit dem Bürgermeister an der Spitze, ist die, daß die Wäscherin "nichts taugt". Ihr Junge ist hübsch und begabt, aber sie taugt nichts. Und das hört auch ihr Junge, als sie eines Tages tot umfällt - aus Erschöpfung. "Sie taugt nichts", sagt man.

Aber Hans Christian Andersen läßt trotzdem ein anderes Urteil über sie fällen, als der Junge am Grabe steht mit einer alten Frau, die sie gekannt hatte: "Doch, sie taugte etwas", sagt die Frau zu dem Jungen, indem sie zum Himmel blickt: "Ich sage dir, sie taugte etwas, und der liebe Gott im Himmel spricht da mit. Laßt die Welt nur sagen: Sie taugt nichts".

Daß uns ein anderes Wort gesagt wird als das Wort dieser Welt, daß es eine Wahrheit gibt, die wir einmal erfahren werden, das bedeutet, daß es letztlich nicht wir selbst sind, die Recht behalten. Die Verurteilung, der Klatsch, sind nicht das einzige, was ein Mensch erfahren soll. Und umgekehrt wird in der Stunde der Wahrheit deutlich, was wir in unserer Verurteilung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit anderen angetan haben. Ohne ein Gericht, ohne daß wir von Angesicht zu Angesicht vor unserem Herren stehen, wären wir hilflos uns selbst überlassen.

Natürlich wird das Gericht auch uns selber treffen, natürlich wird es auch weh tun, sein Leben so zu sehen, wie es in Wirklichkeit ist und gewesen ist, aber es muß dennoch unsere Hoffnung sein - die Hoffnung des Unterdrückers wie des Opfers - daß uns eine Klarheit erwartet, eine Reinigung, die uns erneuert, eine andere Gerechtigkeit als die unsrige.

Laßt uns deshalb festhalten an dem Gedanken vom Gericht, daß die Wahrheit ans Licht kommen wird. Wie und wann wissen wir natürlich nicht. Aber es wird wohl so sein, daß das, was wir erfahren, uns zugleich überraschen wird und neu sein wird - zugleich aber auch einleuchtend und klar. So ist es jedenfalls im Gleichnis Jesu.

Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist.
Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt.
Ich bin Fremdling gewesen, und ihr habt mich beherbergt.
Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet.
Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht.
Ich bin gefangen gewesen, und seid zu mir gekommen.

Das erfordert keine besondere Frömmigkeit oder Ausbildung oder Einsicht. Man kann nicht sagen: Davon verstehe ich nichts, das hat mit niemand erklärt.

Trotzdem werden sie überrascht, weil sie es sich so nicht vorgestellt hatten. Daß Gott ihnen so nahe war, daß die Wahrheit so einleuchtend und so klar war.

Was uns das Gleichnis sagt, ist ja dies: Entscheidend im Leben ist nicht eine bestimmte religiöse Gesinnung oder ein besonderes Wissen, sondern nur dies, daß wir konkret den anderen Menschen annehmen und bei dem Menschen sind, der uns braucht und der unsere Hilfe braucht.

So einfach ist das. Wir verraten das, wozu wir geschaffen sind, wenn wir an dem Menschen vorbeigehen, der uns und unsere Hilfe braucht, oder wenn wir und in Wirklichkeit nie für andere öffnen und sie nicht in unser Leben hineinlassen. Aber umgekehrt: Das heißt in Wirklichkeit das Leben und die Gnade Gottes empfangen, wenn wir für einander da sind, wenn wir bein dem Einsamen sitzen, wenn wir den Fremden aufnehmen, wenn wir dem anderen etwas von uns selbst geben.

So werden wir vor eine Wahl gestellt: Wir können einander annehmen, dann haben wir es mit Gott selbst zu tun, und wir können aneinander vorbeigehen in Gleichgültigkeit, und dann verleugnen wir letztlich nicht nur einen Menschen, sondern die Liebe Gottes, die Gnade Gottes. Und das ist eigentlich schon in sich Verdammnis. Das ist, sich selbst aus der Gemeinschaft mit Gott auszuschließen. An einem Fremden, einem Hilflosen vorbeigehen, das heißt, das Entscheidende zu verlieren. Denn dann werden wir fremd nicht nur einander gegenüber, sondern auch dem gegenüber, zu dem wir geschaffen sind. Wir bewegen uns weg von dem, was die Wahrheit oder der Sinn unseres Lebens ist. Wir verharren in der Finsternis, die aus uns selber kommt.

In dieser Weise können wir natürlich von Verdammnis reden. In dieser Weise gibt es Möglichkeiten für Liebe, gibt es Augenblicke der Gnade, die wir nicht annehmen wollen. Und die verschwinden wie in Flammen. Wir verlieren sie für immer.

Womit ich nichts anfangen kann, daß ist dies, daß die Verdammnis als ein Zustand gesehen wird, dem sie für alle Ewigkeit ausgeliefert sind. Denn das widerspricht dem allesentscheidenden Gedanken im Christentum, daß Gott niemals den Menschen aufgeben wird, den er einmal geschaffen hat und der immer ihm gehört. Gott ist Liebe, und er will uns in seiner Liebe stets zurückholen von der Leere oder der unmenschlichen Finsternis, in die wir geraten sind. Das bekennen wir übrigens auch in den Worten des Glaubensbekenntnisses, wenn wir sagen, daß Christus "in das Reich des Todes hinabgestiegen" ist oder "in die Hölle", und "am dritten Tage auferstanden von den Toten". In diesen Worten wird gesagt, daß kein Mensch ewig der Finsternis überlassen bleibt. Wenn wir die Liebe Christi annehmen, sind wir stets auf dem Wege aus der Finsternis zurück in das Licht bei Gott. Wir können uns selbst verlieren, wir können unser Leben in vieler Weise verspielen, aber die Möglichkeit des Heils besteht darin, daß die göttliche Liebe immer etwas von uns will, die verlieren wir nicht.

Aber natürlich: Es kann sein, daß wir mit der Liebe nicht zu tun haben wollen, daß wir mit dem nicht zu tun haben wollen, was uns in anderen Menschen begegnet, und dann sind wir furchtbar uns selbst überlassen. Selma Lagerlöf hat einmal eine Legende darüber erzählt, die ich hier wiedergeben möchte.

Da wird von einem Engel berichtet, der einmal den Befehl erhielt, einen der Verdammten in den Himmel zu holen. Der fuhr hinab in die Finsternis der Reiches der Toten und umarmte eine Frau und hob sie empor. Aber da geschah es, daß einige der anderen Verdammten die ergriffen, die erlöst werden sollte, um auch ins Paradies getragen zu werden. Aber trotz der vielen, die sich anhängen, erhob sich der Engel und stieg auf so leicht wie nichts, so als spürte er nicht die Last. Als aber die Verdammte merkte, wie viele an ihr hingen und mit hinausgezogen wurden, versuchte sie, sie abzuschütteln. Sie wollte allein in den Himmel Gottes. Sie ergriff die Hände der anderen, um sie zu lösen, und eine nach der anderen fiel zurück in den Abgrund. Da geschah für den Engel das Merkwürdige, daß die Last immer schwerer wurde, je weniger sie zu tragen hatte. Und als es schließlich der Frau gelang, die letzte abzuschütteln, war es als sei die Last der Frau allein so schwer, daß sie der Engel nicht mehr tragen konnte, und er mußte sie fallen lassen.

Sich mit Gott einlassen, sich in seinem Reich erlösen zu lassen, das hängt also unlöslich damit zusammen, daß man sich auf den anderen einläßt. Die Liebe Gottes empfangen heißt auch das anzunehmen, was uns in den anderen Menschen begegnet. Das wollte die Frau in der Legende nicht, und deshalb wird sie auch die Einsamkeit der Hölle in sich tragen müssen, auch wenn sie mitten im himmlischen Paradies steht.

Die eigentliche Verdammnis für sie war nicht, daß sie wieder in den Abgrund stürzte, sondern daß sie sich nur für ihre eigene Person interessierte.

Wie gesagt: Über die Stunde der Wahrheit, das jüngste Gericht können wir nur in Bildern, Legenden und Gleichnissen reden. Was uns aber allein bleibt, ist die Klarheit des Evangeliums: Wo wir vor der Klarheit des Evangeliums stehen, wo wir vor der Wahrheit stehen, dem Richter, da ist auch eine Liebe, die stets etwas von uns will und die uns nie ganz aufgibt. Aber das ist eine Liebe, die wir selbst annehmen müssen. Und in der Liebe Gottes ist nicht nur Platz für mich selbst, sondern auch für die anderen. Amen

Pfarrer Erik Høegh-Andersen
Prins Valdemarsvej 40
DK-2820 Gentofte
Tel. ++ 45 - 39 65 43 87
e.mail: erha@km.dk


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