Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 16. November 2003
Predigt übe
r Matthäus 25, 31-46, verfaßt von Karin Klement
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!
Heute möchte ich gern ein Wortspiel mit Ihnen machen. Der Kirchenmusiker und Religionslehrer, Siegfried Macht, hat es sich ausgedacht. Es heißt „AUS DER LIEBE LEBEN“ (Siegfried Macht, Dein Name ist DUBISTBEIMIR, Don Bosco Verlag 1985, S. 118). Dreimal erscheint das Wort LIEBE, darunter der halbe Satz. Der hochgezogene Buchstabe „i“ im zweiten Wort „Liebe“ verbiegt sich, beugt sich herab. Wie ein Mensch, der sich unerwartet herablässt zu denen, die doch scheinbar unter seinem Niveau stehen. Er legt sich krumm, um den anderen, den Niedrigeren nahe zu sein. Schließlich gibt er seine Stellung sogar ganz auf und wandert an das Ende des Wortes. Er stellt sich selber zurück, beugt sich endgültig, so tief es geht, und nimmt dadurch die Gestalt eines „n“ an. Durch diese „buchstäbliche“ Selbsterniedrigung wird aus der LIEBE – LEBEN.

Liebe und Selbsthingabe bringt Leben – für alle. Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern (und Schwestern), das habt ihr mir getan, sagt JESUS in der vorhin gehörten Geschichte vom Weltgericht. Um die Liebe geht es ihm, um die praktische, ganz konkrete Nächstenliebe gegenüber einem von diesen Geringsten. Nicht gegenüber Hunderten oder Zehn. Ein Mensch ist gemeint, einer, der dich oder mich nötig hat, der uns braucht. Einer, der ganz in unserer Nähe, verborgen oder offen Not leidet. Das, was wir ihm bzw. ihr an-tun, tun wir Christus an – im negativen wie positiven Sinn, als Unterlassung oder als aktiven, hilfreichen Einsatz für den anderen.
Im Mitmenschen, der auf uns angewiesen ist, im Notleidenden und Niedergeschlagenen, selbst in dem noch scheinbar wert- und würdelosesten Menschen kommt uns der Gottessohn höchst persönlich nahe. Gott begegnet in den Opfern und Verlierern, in den Versagern, und zugleich auch in jenen, die eigentlich niemand gerne um sich hat: in den schuldbeladenen, doch nicht immer ihrer Schuld bewussten Tätern.

Heute am Volkstrauertag denken wir an die entsetzlichen Folgen der Weltkriege und an das unvorstellbare Leiden, das Menschen ihren Mitmenschen angetan haben. Dankbar und glücklich können wir sein, wenn uns solche Erfahrungen erspart geblieben sind. Wenn wir weder als Opfer, noch als offensichtliche Täter in diese greuelhaften Ereignisse eingebunden wurden. Doch wir kommen nicht umhin, zu fragen, wo denn heute die Opfer, und wo die Täter stehen, und ob man sie in jedem Fall so eindeutig unterscheiden kann. Zu fragen wäre auch, welches unser eigener, ganz persönlicher Anteil ist an den Ursachen für Ungerechtigkeit und Gewalt in dieser Welt. Denn alles menschliche Handeln hat Konsequenzen für die Welt, in der wir leben, für uns selber und für unseren Glauben an Gott.

In seiner Endzeitrede vom letzten Gericht zeichnet JESUS zunächst ein sehr beglückendes Bild: Der langersehnte Menschensohn kommt in königlicher Würde und Herrlichkeit zu den Menschen zurück. Sein Engelhofstaat umgibt ihn mit prächtigem Glanz und fliegender Leichtigkeit. Alle Völker der Welt werden sich vor ihm versammeln in Frieden und Einigkeit. Und wie ein treuer, fürsorglicher, guter HIRTE, der seine Herden über Nacht an ihre Schlafplätze führt, scheidet auch der Menschensohn die weißen Schäfchen von den dunklen, wärmebedürftigeren Ziegenböcken. Was bisher noch sehr friedlich vor Augen stand, verwandelt sich langsam in eine ungewohnte Strenge und Härte. Denen zur Rechten wird zunächst das höchste Lob ausgesprochen: Gesegnete des himmlischen Vaters werden sie genannt und eingeladen in Gottes unbeschränkt erkennbaren Herrschaftsbereich, in Seine unmittelbare Nähe. Begründet wird dieses glückselige Angebot mit ihrem fürsorglichen, nächstenliebenden Verhalten, von dem sie selber nicht einmal etwas wussten. Vielleicht war ihnen ihr mitmenschliches Handeln so selbstverständlich, dass sie es gar nicht als Leistung oder mühevolle Anstrengung empfanden.
Wahrlich, was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern (und Schwestern), das habt ihr mir getan! Zustimmung und Freude klingen daraus. Doch der Tonfall ändert sich abrupt: Höllenfeuer und Verfluchte, teuflisches Verderben auf ewig, festgehalten in der Macht des Bösen. Angesichts dieser Beschreibungen tauchen mittelalterliche Bilder eines Hieronymus Bosch (+1516) über Höllenstrafen und absonderliche Fabelwesen vor meinem inneren Auge auf. Phantasiebilder, die ihre Schreckensmacht für uns Heutige jedoch verloren haben. Abgehärtet durch weit grausigere, realistische Bilder von menschlicher Folter und Grausamkeit verführen sie uns dazu, sie nicht ernst zu nehmen.
Anders als die abschließenden Worte JESU: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan!“ Irritierend endgültig klingen diese Worte, anstößig, aufschreckend und beinahe bedrohlich wie eine allerletzte Mahnung.

Sicherlich, wir könnten uns fragen, ob der Gedanke an ein zukünftiges strenges Gericht über unsere Taten und Unterlassungen heute noch Menschen bewegt. Auch für viele MitchristInnen ist das Bild vom Endzeitgericht in weite Ferne gerückt, wenn nicht sogar unerträglich geworden. Ein richtender, zorniger, ja gewaltsamer und unbarmherziger Gott entspricht nicht dem, das wir von Gott aus der Bibel hören, der die Liebe ist. Gericht ist mittelalterlich.
Und ehrlicherweise werden wir auch das heute morgen bekennen müssen: Wir werden später ganz beruhig auseinander gehen und in unserem Verhalten nicht unbedingt damit rechnen, dass eintritt, was JESUS hier voraussagt.
Andererseits, wie könnten wir zuversichtliche, fröhliche, mutige ChristInnen sein, wenn wir kein Ziel, keine Hoffnung auf Veränderung in uns tragen würden? Wie könnten wir uns einsetzen für mehr Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden, wenn wir glaubten, dass Gewalt, Lüge und Krieg immer das letzte Wort behalten werden?

Ein Gott, der gerecht richtet, befreit von Ohnmachtsgefühlen. Er stärkt die Leidenden, die Opfer von menschlicher Gewalt und menschlichem Unrecht, und entlastet sie von ihrer schmerzenden Vergangenheit, von Hass und Rache. Sie können darauf vertrauen, dass Gottes Gericht Ausgleich schaffen wird, eine substantielle Gerechtigkeit, die weit tiefer reicht als jeder menschliche Gerechtigkeitsversuch. Gott steht an der Seite der Opfer und derer, die IHN brauchen, – und sie tragen Sein Gesicht, sagt JESUS mit seiner Endzeitrede.

Und dennoch fällt es mir schwer, die scheinbare Eindeutigkeit von gut und böse, die gezeichnete Schwarz-Weiß-Malerei so unwidersprochen hinzunehmen. Steht sie nicht im Widerspruch zu den vielschichtigen menschlichen Erfahrungen von Schuldverstrickungen, in die wir verwickelt sind, ohne es zu wollen. Es gibt Schuld, für die niemand allein verantwortlich ist, an der wir gemeinsam tragen, weil wir in der Gemeinschaft zusammengehören, und weil niemand ohne Einfluss und Auswirkung auf den anderen lebt.
Ich erinnere ein Notfallseelsorgegespräch mit einem jungen, gerade erst fertig ausgebildeten Lokführer. Er hatte die Selbsttötung eines Mitmenschen sehenden Auges miterlebt und trotz aller Bemühungen nicht verhindern können. Schuldgefühle und Gegenanklagen wechselten sich ab. „Warum musste der sich ausgerechnet meinen Zug aussuchen? Hätte ich nicht auch schon viel früher reagieren können?“ Wer hat Schuld an diesem Ereignis? Wer trägt Verantwortung dafür, wenn ein Mensch sein Leben wie Dreck erachtet und einfach fortwirft?

Eine letztgültige Antwort kann ich nicht geben. Doch das Fragen bleibt wichtig, auf der Suche zu bleiben nach Gerechtigkeit und Wahrheit, auch wenn wir sie – in dieser Welt – niemals ganz und klar und eindeutig finden werden.
Es ist wohl immer so, dass wir Menschen einander viele Dinge schuldig bleiben, die doch in unserer Macht und Möglichkeit gestanden hätten: Ein freundliches, verzeihendes oder aufmunterndes Wort für den, der unsichtbar danach hungert und dürstet. Eine Einladung an den Neuen in Schule oder Betrieb; ein Gespräch mit dem Fremden über Gott und die Welt und was ihm sein Leben fern von zuhause erleichtern könnte. Einen bloßgestellten Menschen, der in aller Öffentlichkeit seiner Würde entkleidet wurde, in Schutz zu nehmen. Kranke zu besuchen und Menschen im Gefängnis ihrer Ängste und Sorgen, ihrer Blamage oder Unsicherheit nicht allein zu lassen.

Unzählige Möglichkeiten der Begegnung mit anderen, der Aufmerksamkeit und Solidarität für einander sind uns gegeben. Es müssen keinesfalls großartige Aktionen, alles umwälzende Taten oder Strategien zur Weltverbesserung sein. Es reichen die kleinen Schritte, die wir auf einander zugehen. Es hilft schon, einen wachen Blick zu entwickeln, über sich selbst hinauszuschauen und in dem Anderen den Mitmensch, den Nächsten zu entdecken – einen Menschen mit dem Antlitz Gottes.
Wo wir Menschen einander brauchen, selbst mit unserer winzig kleinen Kraft, da entsteht Lebendigkeit. Wo Menschen sich beugen, nicht herablassend, sondern aus LIEBE, den „kleinen Leuten“ auf Augenhöhe zu begegnen, da entwickelt sich neues LEBEN. Bei „Großen“ und „Kleinen“.

Ich wünsche uns allen solchen Mut AUS DER LIEBE zu LEBEN – ohne Angst vor Tod, Gericht und Höllenfeuer. Vielmehr im Vertrauen auf den Gekreuzigten, der schon längst alle Schuld auf sich genommen hat. Der uns wie ein guter Hirte an die Krippe führt, wo Nahrung und Heil für Leib und Seele, wörtliche Speise für Geist und Verstand ausreichend vorhanden ist. Was er uns anbietet, brauchen wir nur aufzunehmen mit Herz und Hand. So sind unsere Hände niemals leer, sondern mit Gottes Barmherzigkeit gefüllt. Und wenn wir sie öffnen für einander, dann sehen wir IHN plötzlich vor uns in den Schwestern und Brüdern. Und hören ihn sagen: Kommt her zu mir, Ihr Gesegneten!
AMEN

Kirchengemeinden Roringen u. Herberhausen
Pastorin Karin Klement
Lange Straße 42
37077 Göttingen
Tel. 0551 – 2 15 66
Fax 0551 – 209 999 4
Email Karin.Klement@evlka.de


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