|
Vorletzter
Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 16. November 2003 |
Liebe Gemeinde!
Heute möchte ich gern ein Wortspiel mit Ihnen machen. Der Kirchenmusiker und Religionslehrer, Siegfried Macht, hat es sich ausgedacht. Es heißt „AUS DER LIEBE LEBEN“ (Siegfried Macht, Dein Name ist DUBISTBEIMIR, Don Bosco Verlag 1985, S. 118). Dreimal erscheint das Wort LIEBE, darunter der halbe Satz. Der hochgezogene Buchstabe „i“ im zweiten Wort „Liebe“ verbiegt sich, beugt sich herab. Wie ein Mensch, der sich unerwartet herablässt zu denen, die doch scheinbar unter seinem Niveau stehen. Er legt sich krumm, um den anderen, den Niedrigeren nahe zu sein. Schließlich gibt er seine Stellung sogar ganz auf und wandert an das Ende des Wortes. Er stellt sich selber zurück, beugt sich endgültig, so tief es geht, und nimmt dadurch die Gestalt eines „n“ an. Durch diese „buchstäbliche“ Selbsterniedrigung wird aus der LIEBE – LEBEN. Liebe und Selbsthingabe bringt Leben – für alle. Was
ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern (und Schwestern),
das habt ihr mir getan, sagt JESUS in der vorhin gehörten Geschichte
vom Weltgericht. Um die Liebe geht es ihm, um die praktische, ganz konkrete
Nächstenliebe gegenüber einem von diesen Geringsten. Nicht
gegenüber Hunderten oder Zehn. Ein Mensch ist gemeint, einer, der
dich oder mich nötig hat, der uns braucht. Einer, der ganz in unserer
Nähe, verborgen oder offen Not leidet. Das, was wir ihm bzw. ihr
an-tun, tun wir Christus an – im negativen wie positiven Sinn,
als Unterlassung oder als aktiven, hilfreichen Einsatz für den anderen. Heute am Volkstrauertag denken wir an die entsetzlichen Folgen der Weltkriege und an das unvorstellbare Leiden, das Menschen ihren Mitmenschen angetan haben. Dankbar und glücklich können wir sein, wenn uns solche Erfahrungen erspart geblieben sind. Wenn wir weder als Opfer, noch als offensichtliche Täter in diese greuelhaften Ereignisse eingebunden wurden. Doch wir kommen nicht umhin, zu fragen, wo denn heute die Opfer, und wo die Täter stehen, und ob man sie in jedem Fall so eindeutig unterscheiden kann. Zu fragen wäre auch, welches unser eigener, ganz persönlicher Anteil ist an den Ursachen für Ungerechtigkeit und Gewalt in dieser Welt. Denn alles menschliche Handeln hat Konsequenzen für die Welt, in der wir leben, für uns selber und für unseren Glauben an Gott. In seiner Endzeitrede vom letzten Gericht zeichnet JESUS zunächst
ein sehr beglückendes Bild: Der langersehnte Menschensohn kommt
in königlicher Würde und Herrlichkeit zu den Menschen zurück.
Sein Engelhofstaat umgibt ihn mit prächtigem Glanz und fliegender
Leichtigkeit. Alle Völker der Welt werden sich vor ihm versammeln
in Frieden und Einigkeit. Und wie ein treuer, fürsorglicher, guter
HIRTE, der seine Herden über Nacht an ihre Schlafplätze führt,
scheidet auch der Menschensohn die weißen Schäfchen von den
dunklen, wärmebedürftigeren Ziegenböcken. Was bisher noch
sehr friedlich vor Augen stand, verwandelt sich langsam in eine ungewohnte
Strenge und Härte. Denen zur Rechten wird zunächst das höchste
Lob ausgesprochen: Gesegnete des himmlischen Vaters werden sie genannt
und eingeladen in Gottes unbeschränkt erkennbaren Herrschaftsbereich,
in Seine unmittelbare Nähe. Begründet wird dieses glückselige
Angebot mit ihrem fürsorglichen, nächstenliebenden Verhalten,
von dem sie selber nicht einmal etwas wussten. Vielleicht war ihnen ihr
mitmenschliches Handeln so selbstverständlich, dass sie es gar nicht
als Leistung oder mühevolle Anstrengung empfanden. Sicherlich, wir könnten uns fragen, ob der Gedanke an ein zukünftiges
strenges Gericht über unsere Taten und Unterlassungen heute noch
Menschen bewegt. Auch für viele MitchristInnen ist das Bild vom
Endzeitgericht in weite Ferne gerückt, wenn nicht sogar unerträglich
geworden. Ein richtender, zorniger, ja gewaltsamer und unbarmherziger
Gott entspricht nicht dem, das wir von Gott aus der Bibel hören,
der die Liebe ist. Gericht ist mittelalterlich. Ein Gott, der gerecht richtet, befreit von Ohnmachtsgefühlen. Er stärkt die Leidenden, die Opfer von menschlicher Gewalt und menschlichem Unrecht, und entlastet sie von ihrer schmerzenden Vergangenheit, von Hass und Rache. Sie können darauf vertrauen, dass Gottes Gericht Ausgleich schaffen wird, eine substantielle Gerechtigkeit, die weit tiefer reicht als jeder menschliche Gerechtigkeitsversuch. Gott steht an der Seite der Opfer und derer, die IHN brauchen, – und sie tragen Sein Gesicht, sagt JESUS mit seiner Endzeitrede. Und dennoch fällt es mir schwer, die scheinbare Eindeutigkeit von
gut und böse, die gezeichnete Schwarz-Weiß-Malerei so unwidersprochen
hinzunehmen. Steht sie nicht im Widerspruch zu den vielschichtigen menschlichen
Erfahrungen von Schuldverstrickungen, in die wir verwickelt sind, ohne
es zu wollen. Es gibt Schuld, für die niemand allein verantwortlich
ist, an der wir gemeinsam tragen, weil wir in der Gemeinschaft zusammengehören,
und weil niemand ohne Einfluss und Auswirkung auf den anderen lebt. Eine letztgültige Antwort kann ich nicht geben. Doch das Fragen
bleibt wichtig, auf der Suche zu bleiben nach Gerechtigkeit und Wahrheit,
auch wenn wir sie – in dieser Welt – niemals ganz und klar
und eindeutig finden werden. Unzählige Möglichkeiten der Begegnung mit anderen, der Aufmerksamkeit
und Solidarität für einander sind uns gegeben. Es müssen
keinesfalls großartige Aktionen, alles umwälzende Taten oder
Strategien zur Weltverbesserung sein. Es reichen die kleinen Schritte,
die wir auf einander zugehen. Es hilft schon, einen wachen Blick zu entwickeln, über
sich selbst hinauszuschauen und in dem Anderen den Mitmensch, den Nächsten
zu entdecken – einen Menschen mit dem Antlitz Gottes. Ich wünsche uns allen solchen Mut AUS DER LIEBE zu LEBEN – ohne
Angst vor Tod, Gericht und Höllenfeuer. Vielmehr im Vertrauen auf
den Gekreuzigten, der schon längst alle Schuld auf sich genommen
hat. Der uns wie ein guter Hirte an die Krippe führt, wo Nahrung
und Heil für Leib und Seele, wörtliche Speise für Geist
und Verstand ausreichend vorhanden ist. Was er uns anbietet, brauchen
wir nur aufzunehmen mit Herz und Hand. So sind unsere Hände niemals
leer, sondern mit Gottes Barmherzigkeit gefüllt. Und wenn wir sie öffnen
für einander, dann sehen wir IHN plötzlich vor uns in den Schwestern
und Brüdern. Und hören ihn sagen: Kommt her zu mir, Ihr Gesegneten! Kirchengemeinden Roringen u. Herberhausen |
(zurück zum Seitenanfang) |