Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 16. November 2003
Predigt übe
r Matthäus 25, 31-46, verfaßt von Peter Wick
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Von Barmherzigkeitsverschwendern

Liebe Gemeinde,

dieser Bibeltext handelt vom Weltgericht oder von den sechs Werken der Barmherzigkeit. Doch was hat Barmherzigkeit und Weltgericht miteinander zu tun?

Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden.

Dieser Text steht nach dem Gleichnis von den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen und nach dem Gleichnis vom anvertrauten Geld in den grossen Endzeitreden Jesu im Matthäusevangelium. Jesus spricht hier nur zu den Jüngern und nicht zum Volk, also zu denen, die ihn kennen und sich ihm anvertraut haben. Es geht nicht um die Frage, wie wird man ein Nachfolger Jesu oder wie wird man ein Bürger des Himmelreichs. Alle sagen hier zu Jesus „Herr“. Alle anerkennen ihn. Es geht hier nicht um die Frage, wer kommt in das Himmelreich hinein, wer darf sich dazu zählen, sondern es geht um folgende Frage: Wer bleibt im Königreich Gottes in der Ewigkeit? Wer wird es erben, besitzen und Anteil bekommen an der Herrschaft Gottes?

Am Schluss des Evangeliums werden die Jünger mit dem Missionsbefehl dazu aufgefordert: Alle Völker zu Jünger zu machen durch Taufe und Unterricht. Nach der Aussagelogik dieses Evangeliums gehören also zum Zeitpunkt des Weltgerichts alle Völker schon zum Reich Gottes. Nach biblischer Auffassung ist die Zeit keine unendliche Achse. Sie gehört zum Geschaffenen, hat einen Anfang und ein Ende. Immer wieder ist im Neuen Testament von diesem Ende die Rede. Nach dem Ende der Zeit gibt es keine Zeit mehr, sondern nur die Ewigkeit. Die Schwelle zwischen Zeit und Ewigkeit ist das Weltgericht. Der Apostel Paulus sagt in unserem Wochenspruch: Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi (2 Kor 5,10).

Um 1200 n. Chr. wurde das Basler Münster mit dem vielleicht ersten romanischen Figurenportal nördlich der Alpen ausgestattet. Auf diesem Portal, der sogenannten Galluspforte wurden die klugen und die törichten Jungfrauen, unsere sechs Werke der Barmherzigkeit und Jesus Christus als Weltenrichter dargestellt. Die Kirchenbauten galten als Abbild des Himmelreiches. Wer in das Himmelreich hinein wollte, musste durch Matthäus 25 hindurch. Sichtbar für jeden waren so unsere sechs Werke der Barmherzigkeit Einlassbedingungen in das Himmelreich. Liebe Gemeinde, wir sind evangelische Christen und Christinnen, weil die Werke der Barmherzigkeit für uns nicht die Einlassbedingungen in das Himmelreich sind. Martin Luther kämpfte dafür und predigte, dass andere Bibelstellen als Einlassbedingungen anerkannt werden: Nämlich solche aus dem Römerbrief und dem Galaterbrief, wie z. B. Röm 3,21-22: „Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben …“. Die grosse und schwere Einlassbedingung in das Himmelreich wurde durch Gott selber erfüllt, indem er seinen Sohn für uns sandte und Jesus Christus für unsere Sünden gestorben ist. Dafür können, ja dürfen wir nichts tun, allein darauf vertrauen dürfen wird. Wenn wir das glauben, sind wir rechte evangelische Christen, ob wir nun reformiert oder lutherisch sind oder einer ganz anderen Konfession angehören. Nicht die Christen, die Gutes tun und Barmherzigkeit üben, werden zu Gott und in sein Reich kommen, sondern diejenigen, die glauben, sind schon in seiner Gegenwart und leben schon in dem, was vom Himmelreich auf dieser Erde präsent ist. Diese sechs Werke der Barmherzigkeit sind nicht unser Schlüssel zum Himmelreich und stehen auch nicht auf unserer „membercard“, der Taufe. Doch wie bleiben wir über die vergängliche Zeit hinaus „Mitglieder“ des ewigen Himmelreichs? Darauf gibt der Text eine ebenso einfache wie herausfordernde Antwort: Lasst euch durch notleidende Mitmenschen zur Barmherzigkeit erweichen und tut sie. Heute, in dieser vergänglichen Zeit habt ihr Zeit dafür, nicht in der Ewigkeit. Diese Antwort gilt uns, die wir hier versammelt sind, gilt der ganzen Kirche und gilt allen getauften Völkern, gerade auch denen in Europa.

Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.

Der Richter wird die Schafe von den Böcken scheiden. Er wird die Herden trennen. Wie Gott nach dem ersten Schöpfungsbericht Licht und Finsternis, Himmel und Erde und Wasser und Land am Anfang der Zeit von einander geschieden hat, so wird Christus am Ende der Zeit als Richter das bunte Durcheinander der Herden scheiden.

Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!

Von Anbeginn der Welt hat der Schöpfer, der Vater seinen Menschen das Land des Friedens, der Freude und der Liebe bereitet, dass sie am Ende der Zeit nicht nur bewohnen, sondern erben und besitzen sollen. Liebe Gemeinde, Gott hat uns bestimmt zum Heil, zur Fülle und zur Freude. Nicht in dieser vergänglichen Zeit, nicht in ihrem und in meinem jetzigen Leben werden alle Sorgen von uns abfallen, wird es keinen Schmerz, kein Leid, keine Tränen, kein Hass und kein Tod mehr geben, aber nach dieser Zeit werden wir in jenem Frieden sein. Dieses Reich des Glücks ist von Anbeginn der Zeit her vorbereitet. Für Gott leben wir hier auf dieser Erde nur in einer Zwischenzeit. Wir sind bestimmt zum Heil.

Im Gegensatz dazu hat Gott keine Strafe für uns Menschen von Anbeginn der Welt an vorbereitet, und nach unserem Text nur den Zerstörer und seine Engel, aber keinen Menschen zur Strafe vorherbestimmt.

Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!

Diejenigen auf der rechten Seite werden zur absoluten Nähe mit Christus eingeladen. Diejenigen auf der linken Seite werden weggeschickt, weg aus der göttlichen Gegenwart in die Strafe. Liebe Gemeinde, es geht hier nicht um das „getting in“, um das „wie komme ich in die Gegenwart Gottes“, sondern um das „staying in“, um das „wie bleibe ich in der Gegenwart Gottes und habe bleibenden Anteil an ihrer Fülle“? Die Antwort ist schlicht:

Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.

Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.

Liebe Gemeinde, der Unbarmherzige hat bei Gott nichts verloren. Die „Schafe“ sind die „Gerechten“. Die Gerechten sind diejenigen, die das Rechte tun und jedem geben, was ihm gerechterweise zusteht. Sie halten die Gebote Gottes und setzen sich dafür ein, dass anderen Menschen Gerechtigkeit widerfährt.

Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.

Doch in diesem Evangelium tun sie noch mehr als das. Sie lassen Gnade vor Recht walten. Sie setzten das Recht nicht außer Kraft. Dies wäre Ungerechtigkeit. Alle von uns wissen, wie viel Leid durch Rechtlosigkeit und Unrecht verursacht wird. Doch sie übertrumpfen ihr eigenes Recht mit ihrer Barmherzigkeit. Welcher Mensch kann heute vor Gott bestehen aufgrund seiner eigenen Gerechtigkeit? Welcher Mensch wird vor Gott bestehen können aufgrund seiner Gerechtigkeit am Enden der Zeit? Der göttliche Richter ist gerecht, so gerecht, dass niemand von uns aufgrund seiner Gerechtigkeit vor ihm bestehen könnte. Doch wenn wir nicht nur selbstgerecht sind, sondern auch barmherzig gegenüber unseren Mitmenschen, dann wird Gott nicht nur den Maßstab seines Rechts an uns legen, sondern darüber den Maßstab seiner Barmherzigkeit. Und wer von uns sollte nicht bestehen können vor unserem Herrn Jesus Christus, wenn er uns barmherzig richten wird? Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Der erste, der in diesem Evangelium als gerecht bezeichnet wird, ist Josef. Josef aber, der Mann von Maria, war gerecht und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen ( nach Mt 1,19). Nach der Strenge des Gesetzes galt die in ihrer Verlobungszeit schwangere Maria als Ehebrecherin. Sie hätte gesteinigt werden müssen. Dies war aber unter der Herrschaft der Römer rechtlich nicht möglich. Deshalb wurde eine solche Frau öffentlich in Schimpf und Schande davon geschickt, was soviel wie ihr sozialer Tod bedeutete. Josef ist gerecht, weil er sich an das Gesetz hält und Maria entlassen will. Aber wirklich gerecht ist er erst, weil er dieses Gesetz so barmherzig wie nur möglich gegenüber der vermeintlichen Ehebrecherin Maria auslegt und sie heimlich entlassen will, so dass sie eine reelle Überlebenschance hat.

An unserer Stelle heisst es:

Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? oder durstig und haben dir zu trinken gegeben?

38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? oder nackt und haben dich gekleidet?

39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?

40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Recht und Gerechtigkeit lassen sich messen und rechnen. Nach Recht und Gerechtigkeit lässt sich richten. Wer recht tut, kann danach fragen, wie viel muss ich tun, damit ich nicht in der Schuld des anderen stehe. Z.B. Barmherzigkeit hingegen kann nicht rechnen und lässt sich auch nicht berechnen und kalkulieren. Deshalb wissen die Gerechten nicht, dass ihre Barmherzigkeit gegenüber Mitmenschen vor Gott soviel gezählt hat, vielmehr als sie sich ausrechnen konnten. Sie wissen nicht, dass sie oft barmherzig waren gegenüber Jesus selber, der im geringsten Bruder verborgen war. Liebe Gemeinde, wer danach fragt, ob er genügend barmherzig ist, fragt nach dem Maß seiner eigenen Barmherzigkeit. Doch der hat nicht begriffen, was Barmherzigkeit ist, denn Barmherzigkeit lässt sich nicht mit einem Mass fassen oder zählen. Fragen sie nicht danach, ob ihre Barmherzigkeit reicht, sondern lasst uns darum beten, dass wir die nächsten Gelegenheiten zur Barmherzigkeit erkennen und ergreifen. Bei der Barmherzigkeit zählt nicht unsere gute innere Haltung, unser Begreifen und Verstehen oder unsere gute Absicht, sondern nur eines, dass wir sie tun. Sehen sie nicht fern in die Nöte der Menschheit, sondern schauen sie nah, die Not ihrer Nachbarin, ihrer Familie, ihres schwierigen Arbeitskolleges und helfen sie.

Aus unendlicher Barmherzigkeit hat sich der Sohn Gottes am Kreuz für uns dahingegeben und so alles erfüllt, was die Gerechtigkeit Gottes von uns verlangt hat. Allein aus Gnade sind wir gerettet. In dieser Endzeitrede werden wir aufgefordert, als Glaubende Verschwender zu werden. Als solche, die auf die Barmherzigkeit Gottes vertrauen, sollen wir zu Barmherzigkeitsverschwendern werden, die nicht nachrechen, ob der andere unsere Liebe und Hilfe verdient hat. Ja, erst wenn er sie nicht verdient hat und kein Recht darauf hat, können wir ihm gegenüber barmherzig sein. Allen getauften Völkern gilt dieses Wort: Wer heute nicht nachrechnet, ob der andere meine Liebe, Zeit, mein Anruf oder Besuch oder Geld oder gutes Wort und meine Zuneigung verdient, sondern Zeit, Liebe und materielle Hilfe am Bedürftigen verschwendet, dem wird Gott zuallerletzt nichts mehr vorrechnen, ausser wie unberechenbar viel die kleinste Liebestat gezählt hat, die wir gegenüber unseren Mitmenschen getan haben. In Jesus Christus hat Gott seine Barmherzigkeit an uns verschwendet. Deshalb gehören wir zu ihm. Am Ende der Zeit wird er uns, die durch ihn Gerechten, in eine neue Welt und eine neue Zeit hineinführen, die nur noch von seiner Barmherzigkeitsverschwendung geprägt sein wird. In der hat es für unbarmherzige, berechnende Böcke keinen Raum mehr.

Hier könnte ich schliessen. Durch Barmherzigkeit werden wir in dem drin bleiben, in dem wir durch die Taufe schon sind, im Reich der Barmherzigkeit Gottes. Doch wenn wir Kranke besuchen, Fremde aufnehmen oder Mitmenschen aus Liebe ein ermutigendes oder ermahnendes Wort geben, geschieht schon jetzt etwas, auf das viele kirchliche und ausserkirchliche Angebote abzielen, etwas, wofür immer neue Meditationstechniken entwickelt werden: Es kommt zu einer Christusbegegnung schon hier und heute. Im Geringsten wird Jesus uns begegnen und im Geringsten ist er bereit, von uns etwas zu empfangen und anzunehmen. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Amen.

Prof. Dr. Peter Wick
Ruhr-Universität Bochum
Email: Peter.Wick@ruhr-uni-bochum.de


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