Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Letzter Sonntag des Kirchenjahres (Ewigkeitssonntag), 23. November 2003
Predigt übe
r Psalm 102, 1-13.25-28, verfaßt von Rüdiger Lux
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Universitätsgottesdienst zum Gedenken der Entschlafenen 2003 in der Leipziger Nikolaikirche (Am Ewigkeitssonntag gedenkt die Universität Leipzig regelmäßig der Studierenden und aktiven Mitarbeiter, die im zurückliegenden akademischen Jahr verstorben sind.
Die Gemeinde antwortet auf die Predigtteile I, II und III mit jeweils einer Strophe des Liedes »Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen«, EG 518)

Liebe Gemeinde!

Hier, am Weltrand, habe ich zur Stunde
Wunderlich mein Leben angesiedelt.
Hinter mir im grenzenlosen Runde
Schweigt das All, nur jener Fiedler fiedelt.

Es waren wohl Vorahnungen, die dem großen jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber 1964, wenige Monate vor seinem Tode in Jerusalem, in diesem Gedicht die Feder führten. »Raunungen«, so eines seiner Lieblingsworte, Raunungen des Todes hätte er vielleicht gesagt, um damit anzudeuten, dass der Tod seine eigene Sprache hat. Er raunt uns seine Botschaft zu, die mit den Jahren immer deutlicher und unüberhörbarer wird.

Man kann diese Zeilen als einen Todespsalm des 20.Jh. lesen. Der Weltrand wird zum Ort der Todesnähe. Das Sterben macht den Menschen zum einsamen Exzentriker. Er verliert seine Mitte, die Mitte der Welt, die Mitte des Lebens, in der er sich zu Hause wusste. Was sind das für Jahre im Vollbesitz der Kräfte des Geistes und des Leibes!? Jetzt wähnen wir uns noch im Mittelpunkt, jetzt wir im Zenit unserer Erfolge, geachtet, zuweilen gar bewundert von unseren Mitmenschen.

Aber dann ? Der Weltrand! Herausgedrängt und ausgeschieden aus den Orten des pulsierenden Lebens und lebendigen Geistes. Unerbittlich das Raunen des Todes von den Rändern des Lebens her, das uns zieht und lockt. Dann bleibt nur noch er, der Mensch, im einsamen Gegenüber zum All, das ihn wie ein schwarzes Loch, ein kosmischer Staubsauger zu verschlingen droht. Dann er am Rande der Welt, am Rande des Lebens, am Rand der Sprache, dessen, was sich in Worte fassen lässt.

Nichts bleibt da, außer einem: nur jener Fiedler fiedelt. Solange wir uns im Zentrum wähnen, überspielen wir die lockenden Töne. Da machen wir selbst die Musik und lassen andere nach unserer Pfeife tanzen. Am Weltrand aber wird uns aufgespielt vom Spielmann Tod. Da lassen sich seine lockenden Töne nicht mehr überhören und laden zum letzten Tanz, dem Totentanz, den uns die mittelalterlichen Maler vor Augen stellten. Man mag feilschen und rechten mit dem Spielmann, jammern und klagen, irgendwann will er mitgetanzt sein, der Totentanz. Und wenn es gut geht, dann wirfst du dich mit der Bitte in den letzten Reigen deines Lebens, die ein Anonymus 1724 in die Worte fasste: »Komm süßer Tod, komm selge Ruhe...«. Wenn es gut geht!

I

Die Psalmen Israels kennen diese Randzonen, die Todeszonen des Lebens. Ihre Beter haben sie stets von Neuem durchschritten. Ihre Klagen lassen viel von der Exzentrik der Leidenden und Sterbenden erkennen, der Einsamkeit und dem Schweigen. So klagt der Beter des 102. Psalms, den die Christenheit als einen der sieben Bußpsalmen am Gedenktag der Entschlafenen betet:

»... meine Tage sind vergangen wie ein Rauch
und meine Gebeine sind verbrannt wie von Feuer.
Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie Gras,
dass ich sogar vergesse, mein Brot zu essen.
Mein Gebein klebt an meiner Haut
vor Heulen und Seufzen.
Ich bin wie die Eule in der Einöde,
wie das Käuzchen in den Trümmern.
Ich wache und klage
wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.«

Werden wir das einmal sein, wenn der Fiedler fiedelt? Randexistenzen, einsam, krank, verdorrt, ausgehungert? Geht unser Leben wie das eines Opfertieres im Rauch auf, endet es in Einöde und Trümmern, im Schattenreich zwischen Tag und Nacht, in dem der schaurige Ruf der Eule und des Käuzchens um die Toten klagt? Todesbilder sind das, die durch die Jahrtausende gehen.

Ernst Wiechert, der von der Generation unserer Eltern viel gelesene ostpreußische Schriftsteller, beschreibt in seinem Roman »Die Majorin« den Pferdeknecht eines Rittergutes. Im 1. Weltkrieg hielten ihn feindliche Soldaten im Dorf fest, während sich sein jüngerer Bruder, noch ein Kind, aus Furcht in die nahe gelegenen, einsamen Sümpfe flüchtete und dort versank. Er, der Festgehaltene hört mit dem ganzen Dorf die verzweifelten, immer schwächer werdenden Schreie und Klagen des Knaben vom Moor herüber. Er hätte ihm zu Hilfe eilen, ihn retten können, aber die Soldaten ließen ihn nicht. Die Schreie des Kindes raubten ihm den Verstand. Darüber wurde er zum Exzentriker, verlor die Mitte und die Sprache. Und immer des Nachts, wenn die einsame Eule schreit, hört er die Stimme des Bruders, der aus dem Moor ruft und begraben sein will. Todesbilder, dieses und viele andere umstellen unser Leben. »Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen...« (EG 518 Vers 1)

II

In einem aber unterscheiden sich die Bilder der Psalmenbeter Israels von denen vieler Dichter und Erzähler des 20.Jh. Die literarischen Figuren Ernst Wiecherts, Heimkehrer aus dem Inferno des 1. Weltkrieges, ziehen sich zurück in die Einsamkeit der ostpreußischen Wälder, über denen ihnen der Himmel schweigt. Sie sprechen – wenn überhaupt – nur zögernd, stammelnd über das, was ihnen widerfuhr. »Das einfache Leben«, die Arbeit der Hände soll ihre verwundeten Seelen heilen. Sie bleiben Randexistenzen, denen man die Lebensmitte raubte.

Die Psalmbeter Israels hingegen ziehen sich nicht zurück ins Schweigen und ins redliche Handwerk. Sie wagen den hoch emotionalisierten Ausbruch und Durchbruch zu einem Du . Sie ringen um und bestehen auf einer letzten Begegnung. Sie bitten, klagen, protestieren. Und gerade damit verharren sie nicht bei sich selbst, sondern richten sich aus nach dem, der auch an den Rändern des Lebens ihre Mitte bleibt:

»Herr, höre mein Gebet
und lass mein Schreien zu dir kommen!
Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not,
neige deine Ohren zu mir;
wenn ich dich anrufe, so erhöre mich bald!«

Das ist schon merkwürdig, dass da, in den Todeszonen, in denen wir uns ganz auf Abschied eingestellt haben, die Beter Israels die Signale auf Ankunft stellen. Ihre Gebetssprache ist die Sprache der Audienz. Wie ein Bittsteller den König in seiner Not um eine Audienz anging, nicht locker ließ, täglich auf der Schwelle des Palastes hockte, so kommen die Beter Israels zu ihrem Gott und weichen nicht. Sie bitten: lass mein Schreien zu dir kommen, verbirg dein Antlitz nicht, sieh nicht weg von mir, erhöre mich. Und dann sprechen und klagen sie dem König des Lebens ihre ganze Not. Nichts, aber auch gar nichts wird verschwiegen, alles zur Sprache gebracht. Ja, nicht nur die Klage, sondern sogar die Anklage lässt sich dieser König des Lebens gefallen:

»Denn ich esse Asche wie Brot
und mische meinen Trank mit Tränen
vor deinem Drohen und Zorn,
weil du mich hochgehoben und niedergeworfen hast.
Meine Tage sind dahin wie ein Schatten
und ich verdorre wie Gras.«

Hier nimmt sich einer in aller Freiheit das Recht zur Klage vor Gott, ja, er steigert dieses bis zur Anklage gegen Gott. Der zornige Gott sei die Ursache seiner quälenden Todesnot. Er habe ihn erhoben und hingeworfen wie ein zerbrechliches Gefäß. An den Weltrand, den Lebensrand habe er ihn gedrängt.

Mit dieser Klage und Anklage, und das ist das Entscheidende, läuft der Beter nicht ins leere Einerlei der Tage. Er flüchtet sich nicht in die Arbeit und nicht in die Einsamkeit der Wälder. Er lässt weder aus Enttäuschung, noch aus Gleichgültigkeit oder Apathie Gott Gott sein. Er stellt ihn. Er geht ihn an. Er fordert ihn heraus. Er setzt alles auf eine Karte, darauf, dass sein Leben in der dunkelsten Einsamkeit, ja selbst in der Hölle des Todes noch einem Du gegenüber steht. Er vertraut darauf, dass da, am Ende, wenn mir die Welt und die Meinen wie hinter einem Nebel vergehen, dass ich da nicht mit mir allein bleibe, dass da Ich und Du bleiben, eine lebendige Beziehung, Gott und sein Ebenbild, der Mensch. Am Ende – ich allein? Das freilich könnte die Hölle sein. »Mitten in dem Tod anficht uns der Hölle Rachen.« (EG 518 Vers 2)

III

Mit der äußersten Zuspitzung der Klage zur Anklage Gottes, veränderten sich dem Beter am Weltrand die Perspektiven.

»Ich sage: Mein Gott,
nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage!
Deine Jahre währen für und für.«

Der Protest, die Anklage Gottes, werden für den Beter zu einem ersten Schritt zurück ins Leben. Und dieses Leben konzentriert sich ihm in einem einzigen Wort: Eli - mein Gott! Kein anderes Wort als das, das Jesus am Kreuz auf Golgatha sprach, als er im Tod Psalmen betete. Eli, mein Gott. Das ist seine wichtigste Entdeckung in der Einsamkeit. Es gibt ja einen, den darf ich – was immer auch komme – für mich in Anspruch nehmen. Selbst dort am Weltrand, in der tiefsten Erniedrigung, in der sich so viele von mir losgesagt haben und keinen Pfifferling mehr auf mein Leben geben, da bleibt Eli, mein Gott, da bleiben Ich und Du.

Und mit diesem Gott ist es wie mit der Liebe. Wer mein ist, dem darf ich alles sagen. Den darf ich um alles bitten, selbst um mein Leben. Nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage! Lass sie mich auskosten, meine Zeit. Sie ist ja nicht wie deine Jahre, unbegrenzt, von Geschlecht zu Geschlecht. Begrenzt ist sie, aber begrenzt von dir. Und deswegen bitte ich dich: gib mir noch eine Spanne des Weges durch die Zeit. Du kannst das ja. Das traue ich dir zu:

»Du hast vorzeiten die Erde gegründet
und die Himmel sind deiner Hände Werk.
Sie werden vergehen, du aber bleibst;
Wie ein Kleid wirst du sie wechseln,
und sie werden verwandelt werden
Du aber bleibst wie du bist,
und deine Jahre nehmen kein Ende.«

Das ist das Geheimnis des Psalmenbetens. Aus der Klage und Anklage Gottes wächst Vertrauen. Gott wandelt die Herzen der Beter und nicht nur diese. Alles Geschaffene ist vergänglich, wandelt sich. Selbst Himmel und Erde vergehen, werden von Gott gewechselt wie ein altes, abgetragenes Kleid. Du aber bleibst wie du bist. Du bleibst der Schöpfer, der die alte Erde verwandelt in einen neuen Himmel und eine neue Erde. Du bleibst der Erlöser, der mein altes vergängliches Leben verwandelt zu einem neuen ewigen Leben. Was immer auch mit mir geschieht, ob ich abgerufen werde in der Hälfte meiner Tage, du bleibst ein Gott des Lebens. Wo immer ich mich auch angesiedelt habe, ob in der Mitte meiner Tage, meiner Erfolge, in der Blüte meiner Jahre, oder am Weltrand - wenn mein Leben zur Neige geht, da bist du. Und wo du bist, da ist Leben, selbst noch im Tode. Ja vielleicht bist du das ja selbst, jener Fiedler, von dem Martin Buber dichtete:

Hier, am Weltrand, habe ich zur Stunde
Wunderlich mein Leben angesiedelt.
Hinter mir im grenzenlosen Runde
Schweigt das All, nur jener Fiedler fiedelt.

Aber wenn du das bist, dann ist der Weltrand, die Todesnähe nicht länger eine Hölle der Angst, ein einziges Golgatha. Dann findet sich dort nicht nur das Kreuz, sondern auch das offene Grab. Dann bist du dort, Schöpfer des Lebens. Du, lebendiger Christus, du wartest auf mich.

Amen

(EG 518 Vers 3)

Prof. Dr. Rüdiger Lux, Universität Leipzig
lux@rz.uni-leipzig.de



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