Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag im Advent, 30. November 2003
Predigt übe
r Römer 13, 8-14, verfaßt von Burghard Krause
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

wenn morgens der Wecker klingelt, ist die Nacht vorbei. Wir reiben uns schlaftrunken die Augen und blinzeln ungläubig dem Tageslicht entgegen. Und ob wir wollen oder nicht - jetzt heißt es: Aufstehen. Zugegeben: Ich kenne angenehmere Geräusche als das Weckerklingeln am Morgen. Der Wecker scheucht uns ja unbarmherzig aus unserer nächtlichen Traumwelt, in der wir uns für ein paar Stunden die Wirklichkeit zusammenphantasiert haben. Unsanft werden wir wieder mit dem grauen Alltag konfrontiert. Da möchte man sich oft am liebsten noch einmal auf die andere Seite drehen und sich die Bettdecke über den Kopf ziehen. Und manche tun das ja auch. Während die einen schon das erste Mal wieder müde sind von der Arbeit, kommen andere vor elf nicht aus den Federn und räkeln sich noch mittags gähnend im Morgenmantel. Ja, mit dem Aufstehen ist das so eine Sache.

Aber kennen Sie nicht auch Tage, an denen Ihnen das Aufstehen ganz leicht fällt? Tage, wo man fast beschwingt aus den Federn springt, weil der heraufziehende Morgen etwas erwarten lässt, auf das man sich freut? In einem Urlaub auf der Insel Rhodos bin ich mit meiner Frau einmal sehr früh aufgestanden. Noch bei Dunkelheit sind wir ans Meer gegangen. Wollten eher da sein als die Sonne. Nur zögernd hellte sich der Horizont auf. Erste Vorahnung, dass der Sonnenaufgang nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Und dann war es so weit: Der gleißende Feuerball stieg langsam aus den Fluten. Ein faszinierendes Schauspiel, mit dem wir für unser frühes Aufstehen belohnt wurden. Es wurde Tag vor unseren Augen - und wir haben diesen Tag mit Freude begrüsst.

„Aus den Federn, ihr Christen! Begrüßt den anbrechenden Tag!“, höre ich Paulus in unserem Bibelwort rufen. „Es ist Zeit, höchste Zeit, aufzustehen vom Schlaf . Die Nacht ist vorgerückt, der Tag nahe herbeigekommen. Spüren Sie es? Das ist kein erbarmungsloses Weckerrasseln, das uns wieder mal in den grauen Alltag scheucht. Hier hetzt uns auch niemand in einen besinnungslosen Vorweihnachtsstress, der uns dann am Heiligen Abend erschöpft unter dem Tannenbaum sitzen lässt. Hier werden wir zum Aufstehen verlockt, weil gespannte Vorfreude in der Luft liegt. Kein grauer Alltag, ein heller Morgen kündigt sich an. Paulus zieht den Vorhang schon einmal auf, damit unser Gesicht von den ersten Strahlen der Sonne berührt wird, sobald sie aufgeht. Aus den Federn, ihr Christen! - ruft er uns zu. Erhebt euch vom Lager der Glaubensmüden, vom Schlummerkissen christlicher Gewohnheit! Da kommt etwas auf euch zu, das eure ganze Wachheit braucht! Reibt euch den Schlaf aus den Augen, ihr Christen! Denn die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen!

Nun trifft das nicht unbedingt unser heutiges Lebensgefühl, dass die Nacht im Schwinden ist und ein neuer Morgen naht. Wir stehen eher unter dem gegenteiligen Eindruck, dass die Dunkelheit auf dieser Erde zunimmt: Weltweit politische und religiöse Konflikte. Wachsende soziale Spannungen. Die vielfach beschworene Solidarität verkümmert. Die Liebe scheint mehr und mehr zu erkalten. Es sieht finster aus. Und weil wir noch so viel Dunkles sehen, ziehen auch wir Christen uns immer wieder gern die Decke über den Kopf. Aber Paulus zupft an unserer Bettdecke: Ihr Christen, bleibt nicht hoffnungsmüde und resigniert liegen! Verkriecht euch nicht wie so viele andere ins Bett der Zukunftsangst. Ja, noch ist es dunkel. Aber der Tag, Gottes Tag lässt bereits grüßen. Spätestens seit dem Ostermorgen ist der böse Traum ausgeträumt, der Albtraum, dass diese Erde nichts Gutes mehr zu erwarten hat. Christus ist gekommen. Und er kommt neu. Er kommt auf diese Welt zu - und mit ihm das Licht. Darum steht auf, geht ihm entgegen, indem ihr selbst Licht verbreitet!

Wer morgens aus dem Bett steigt, der hängt den Schlafanzug an den Nagel und zieht sich Tageskleidung an. Wer dem Tag Christi entgegengehen will, der sollte das auch tun - sollte sein Nachtgewand ablegen. Ich zumindest möchte Christus nicht so gern im Schlafanzug entgegenlaufen. Im Nachthemd rennen in der Regel nur Menschen auf die Straße, die in Panik geraten sind. Wir aber gehen auf ein großes Fest zu, auf das Fest der Mensch gewordenen Liebe Gottes, die diese kalte Erde erwärmt. Zur Vorfreude auf dieses Fest passt kein zerknittertes Nachthemd. Auch nicht die Schlabberjeans des grauen Alltags. Dieses Fest verlangt nach festlicher Kleidung. Und so führt uns Paulus in die adventliche Kleiderordnung ein: Legt das Nachtgewand ab, sagt er. Zieht euch tagesgemäß, zieht euch festlich an! So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts!

Und dann zählt Paulus in deftigen Worten auf, was wir an Nachtklamotten getrost an den Nagel hängen können: Fressen und Saufen, Unzucht und Ausschweifung, Hader und Eifersucht . Wo die Nachtmenschen in die Festtage hineintaumeln im Rennen und Kaufen, Fressen und Saufen, da legen Christen als Tagmenschen anderes an den Tag. Sie wehren sich mit den „Waffen des Lichts“ - mit klaren, hellen Worten und Zeichen. Wehren sich durch Nüchternheit gegen alles Rauschhafte, das die Sinne benebelt und immer Ausdruck eines verfinsterten Horizontes ist. Christen wehren sich gegen die Konsumhektik, die unser Herz ans Materielle bindet und die wirkliche Weihnachtsfreude oft schon im Keim erstickt. Sie brauchen nicht den ständig neuen „Kick“, um herauszupowern, was das Leben hergibt. Christen verweigern sich, wo das Schenken und Beschenktwerden zum lieblosen Warenaustausch verkommt, der Hader und Eifersucht nach sich zieht. Sie sorgen in diesen Wochen der Schlemmerei nicht nur für ihren Bauch, sondern auch für ihre Seele. „Sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt“, sagt Paulus.

Ja, wer aufsteht vom Nachtlager und auf den Tag, auf den kommenden Christus zugeht, der unterscheidet sich von denen, die weiter im Düsteren dahindämmern und dahindösen. Der zieht sich Festtagskleidung an. Paulus hat uns diese Kleidung schon neben unserem Bett bereit gelegt. Er weiß, welches Festgewand zur Adventszeit passt und uns jetzt vor Weihnachten gut zu Gesicht steht: „Zieht an den Herrn Jesus Christus“, schreibt er den Christen in Rom.

„Den Herrn Jesus Christus anziehen“ wie ein Gewand? Wie soll das gehen? Ist dieses Kleid nicht mehrere Nummern zu groß für uns? Oder schneidert Gott es auf unsere Größe zurecht? Den Herrn Jesus Christus anziehen - das heißt zuerst: Sich selbst etwas Gutes gönnen. So wie ich mich zunächst selbst daran freue, wenn ich etwas Neues zum Anziehen bekomme. In Christus ist Gottes Liebe erschienen. Wer Christus anzieht, der lässt sich deshalb von Gott in den Mantel seiner menschenfreundlichen Liebe einhüllen. Auf dieses Gewand muss niemand sparen wie auf ein teures Weihnachtsgeschenk. Das gibt es gratis für alle, die nicht wissen, was sie anziehen sollen, wenn der Tag heraufzieht. Der Mantel der Liebe Gottes wärmt und schützt uns in kalter, rauher Nacht. Er bedeckt unsere Blöße und Armut vor Gott. Ein adventlicher Mensch ist zuerst einer, der spürt, dass er das Kleid der wärmenden Liebe Gottes selber braucht. Und der nicht zu stolz ist, es sich von Gott anziehen zu lassen.

Aber wo das geschieht, da werden wir in diesem Festgewand nun auch selbst zu liebenden Menschen. Kleider machen Leute. Machen aus Nachteulen Tagmenschen. Das ist das Kennzeichen der Christen, dass sie die Schmuddelklamotten der Selbstsucht ausziehen und das Christuskleid, das Kleid der Liebe anlegen. Der Nacht nicht mehr dienen, dem Tag entgegengehen, das heißt: Seid niemandem etwas schuldig, außer, dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den anderen liebt, der hat das Gesetz erfüllt.

Liebe ist ein zerfranstes Wort. Es braucht Heilung. Liebe meint ja nicht die schönen Gefühle, die ich für einen anderen habe. Liebe meint den anderen selbst. Liebe ist Wachheit, innere Offenheit für das, was der andere braucht. Ist Zuwendung, die leidenschaftlich am Gelingen fremden Lebens interessiert ist. Für Eheleute kann Liebe heißen: Jetzt in der Adventszeit wieder intensive Beziehungsarbeit aufnehmen. Zeit haben für das aufmerksame, einfühlsame Gespräch. Dem Schweigen, dem „kleinen Tod der Ehe“, entgegenwirken. Für einen Vater kann Liebe zu seinen Kindern bedeuten: Nicht zum Familienflüchter werden, der in seiner Arbeit aufgeht. Den Monolog der Kinder mit dem Computer durch einen Dialog unterbrechen, der zeigt: Ich bin an euch interessiert. Für eine Gemeinde kann Liebe bedeuten: Diejenigen neu wahrnehmen, die aus dem Blick geraten sind. Denen ein Dankeschön sagen, die oft im Verborgenen die Arbeit machen. Achtsam miteinander umgehen gerade in der Vorweihnachtszeit, in der unsere Seele besonders empfänglich, aber auch besonders verletzlich ist.

„Zieht an den Herrn Jesus Christus“. Dieses Kleid der Liebe sollen wir nun aber auch draußen tragen. Auf der Straße, wo mancher in zerlumpten und abgerissenen Klamotten liegt. Die Welt scheint kälter zu werden. Solidarität geht verloren im Ringen um das größte Stück vom Wirtschaftskuchen. Neue Armut wächst. Die sozialen Netze drohen zu reißen, die Auffangnetze für die, die Hilfe brauchen. Sicher – viele Probleme werden sich nur durch einschneidende politische Reformen lösen lassen. Aber wir Christen dürfen in dieser Situation nicht nur wie die anderen nach dem Staat schreien. Wir tragen das Kleid der Liebe, können andere damit wärmen, sie mit unter den Mantel nehmen, den Gott uns umhängt. Für uns Christen ist die gegenwärtige wirtschaftliche Umbruchssituation nicht primär Grund zum Klagen, sondern vor allem Grund zum Lieben. Wir können die Liebe, nach der sich die Bedürftigen sehnen, nicht einfach nur ans Diakonische Werk und an die Sozialämter delegieren. In jedem, der durch das zerreißende soziale Netz fällt, legt sich uns Jesus selbst vor die Füße. Die neue Brot-für-die-Welt-Aktion, die heute beginnt, ist praktische Liebe in Aktion. Advent feiern heißt nicht nur: „Macht hoch die Tür“ - sondern zugleich auch: „Macht auf das Portemonaie!“. Sicher: Wir Christen werden mit unseren kleinen Liebeszeichen nicht den ganzen Ozean von Not auf dieser Erde austrocknen. Aber da, wo wir konkrete Not wenden können, da sind nicht Institutionen dran. Da sind wir gefragt, wir, die wir Gottes Liebe am eigenen Leib erfahren haben.

Heute ist der 1. Advent. Die erste Kerze brennt: Zeichen der Morgendämmerung. Signal der Vorfreude darauf, dass Gottes Liebe die Erde verwandeln will. Die Nacht ist vorgerückt. Darum lasst uns keine Morgenmuffel sein! Lasst uns das Nachtgewand der Gleichgültigkeit ablegen und ins Kleid der Liebe schlüpfen, damit erkennbar wird: Es gibt noch Menschen, die sich auf das Kommen Christi freuen und andere mit dieser Vorfreude anstecken.

Amen.

Landessuperintendent Dr. Burghard Krause
Göttingen
Lasup.Goettingen@evlka.de



(zurück zum Seitenanfang)