Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

2. Sonntag im Advent, 7. Dezember 2003
Predigt übe
r Jakobus 5, 7-8, verfaßt von Klaus Bäumlin
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„So seid nun geduldig, liebe Brüder, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe.“ (Jakobusbrief 5,7.8)

Liebe Gemeinde

Einige namhafte Ausleger des Neuen Testaments sehen im Verfasser des Jakobusbriefes den leiblichen Bruder Jesu von Nazareth. Dieser Jakobus hatte in der Jerusalemer Urgemeinde eine leitende Stellung inne, ja, er war wohl ihr Vorsteher und war auch massgebend beteiligt an der Auseinandersetzung mit dem Apostel Paulus über die Bedeutung des Gesetzes. Andere Ausleger sind der Auffassung, der Jakobusbrief sei in einer späteren Zeit verfasst worden und könne deshalb nicht vom Bruder Jesu stammen. Wie dem auch sei, Jakobus – sei er nun der Bruder Jesu oder ein anderer uns unbekannter Jakobus – ist fest davon überzeugt, dass das Kommen des Herrn, die Wiederkunft Jesu Christi, nahe bevorsteht. Und das war unter den Christen und christlichen Gemeinden der allerersten Zeit die gemeinsame Überzeugung: „Das Kommen des Herrn ist nahe.“ Die bekannte Weltgeschichte geht ihrem Ende entgegen. Es wird bis zum Kommen des Christus nicht mehr lange dauern.

Und das ist der Punkt, wo ein solcher Text uns sehr fern steht – oder wir ihm sehr fremd gegenüberstehen. Längst hat die Christenheit – von einigen seltsamen Aufbrüchen abgesehen – aufgehört, mit der nahe bevorstehenden Wiederkunft Christi zu rechnen und auf sie zu warten. Rudolf Bultmann, einer der bedeutendsten Theologen und Ausleger des Neuen Testaments im letzten Jahrhundert, hat das ganz klar formuliert: Der Glaube an die Wiederkunft Christi sei „im Grunde durch die einfache Tatsache erledigt, dass Christi Parusie (seine Wiederkunft) nicht, wie das Neue Testament erwartet, alsbald stattgefunden hat, sondern dass die Weltgeschichte weiterlief und – wie jeder Zurechnungsfähige überzeugt ist – weiterlaufen wird.“

Nun war aber der Glaube an die nahe bevorstehende Wiederkunft Christi schon zur Zeit des Jakobus im Schwinden begriffen. Das mag damit zusammenhängen, dass seit der Auferstehung Jesu bereits viele Jahre vergangen waren. Und der Auferstandene war noch immer nicht in Kraft und Herrlichkeit erschienen. Wenn man allzu lange auf ein erwartetes Ereignis warten muss, lässt die Spannung nach.

Aber es gibt noch andere Gründe für das Schwachwerden der Erwartung auf die baldige Wiederkunft Jesu. Sie liegen in der veränderten Zusammensetzung der christlichen Gemeinde. In den ersten Jahren gehörten ihr vor allem kleine, arme Leute an, die in der Welt kein grosses Ansehen und wenig Einfluss hatten. Aber die Gemeinden wuchsen, es kamen in den Städten des Römischen Reiches immer neue hinzu. Mit der Zeit schlossen sich nun auch Wohlhabende, Reiche, Angesehene und Einflussreiche der christlichen Gemeinde an. Es kam zwischen den verschiedenen Gruppen bald zu Spannungen und Konflikten. Im Jakobusbrief, aber auch im ersten Korintherbrief des Apostels Paulus erfährt man einiges darüber. Für kleine, arme und bedrängte Leute, die in dieser Welt nicht viel zu verlieren haben, hat die Hoffnung, dass diese Welt bald zu Ende geht, dass es nicht immer so weitergeht wie bisher, etwas Befreiendes und Ermutigendes. Sie können bei einer radikalen Veränderung der Verhältnisse nur gewinnen. „Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen.“ (Lukas 6,20ff.). Ganz anders die Sicheren und Wohlhabenden. Sie haben in dieser Welt, so wie sie ist, was sie brauchen. Sie sind hier zu Hause. Für sie ist es gut, wenn es so weitergeht wie bisher. Wer in der Menschengeschichte zu den Davongekommenen, den Siegern, den Begünstigten und Begüterten gehört, der ist überzeugt, dass diese Geschichte so weitergeht. Er hat kein Interesse, dass sie zu Ende geht. Er ist nicht daran interessiert, dass sich etwas Grundlegendes ändert. Ihm müssen die Worte Jesu „Weh euch, ihr Reichen; denn ihr habt euren Trost schon gehabt. Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet weinen und klagen“ (Lukas 6,24ff.) – ihm müssen solche Worte nicht sehr angenehm in den Ohren klingen. Für die, denen diese Welt eine sichere Heimat ist, wäre ihr Ende eine Katastrophe.

Dass es so weiter geht wie bisher, das heisst: Kriege wird es immer geben. Gewalt und Gegengewalt gehören nun mal zur Natur – nicht nur des Menschen. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer.

Walter Benjamin, der jüdische Philosoph – er hat 1940 auf der Flucht vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten seinem Leben ein Ende gesetzt – hingegen hat geschrieben: „Dass es ‚so weiter' geht, ist die Katastrophe.“ Wie ein Sturm reisst der Fortschritt die Menschen immer weiter von Paradies weg.

Die Erwartung der nahe bevorstehenden Wiederkunft Christi rechnet damit, dass es nicht immer so weiter geht wie bisher. Sie hofft auf das Ende der bisherigen Welt, so wie sie ist, und auf das Aufscheinen einer neuen Welt, einer Welt, in welcher die alten Spielregeln der Gewalt ausser Kraft gesetzt sind, in der die Armen, Vergessenen und Vergewaltigten ans Licht kommen. Sie hofft auf eine Erde und einen Himmel, eine neue Schöpfung, die endlich so sein wird, wie sie von Gott von Anfang an ausersehen war: „sehr gut“. Und diese Hoffnung wird sich nicht erst in einer fernen, unbestimmten Zukunft erfüllen, so dass sie dann auch gar keine Konsequenzen für die Gegenwart, für das tägliche Leben und Zusammenleben zu haben braucht. Nein, die Erfüllung dieser Hoffnung ist in so grosse, fast schon spürbare Nähe gerückt, dass sie das Leben und Zusammenleben derer, die sie im Herzen haben, zu bestimmen und zu verändern beginnt. “Das Kommen des Herrn ist nahe!“ Weil schon bald die Spielregeln der alten Welt ausser Kraft gesetzt sein werden, brauchen wir uns schon heute nicht mehr an ihnen zu orientieren. Wir können schon jetzt die Spielregeln der neuen Welt vorausnehmen.

Dieser Hoffnung und Erwartung steht aber die tägliche und oft genug schmerzliche, leidvolle und angst- und krankmachende Erfahrung entgegen, dass die alte Welt noch in voller Macht da ist, ihre Spielregeln noch in Kraft stehen und ihre Nichtbeachtung höchst empfindliche Konsequenzen hat. In dieser Spannung zwischen der Erwartung des baldigen Wiederkunft Christi und der täglichen Erfahrung, dass es so weitergeht wie bisher, leben die Christen; und es ist eine Spannung, die einen, wenn man sie durchhält, schier zerreissen kann.

Deshalb ruft Jakobus die Gemeinde zur Geduld: „So seid nun geduldig, liebe Brüder, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe.“ Das Beispiel des Bauern, das Jakobus braucht, um anschaulich zu machen, was Geduld ist und bewirkt, ist für uns nicht gerade naheliegend. Ist denn das Warten des Bauern auf die kostbare Frucht der Erde nicht gerade ein Rechnen damit, dass doch alles so weitergeht wie bisher? Dass seit Jahrtausenden gesät wird im Wissen darum, dass die Saat aufgeht und zu ihrer Zeit Frucht bringt – wie kann das ein Gleichnis sein für die Erwartung der Wiederkunft Christi, die doch etwas noch nie Erfahrenes, nie zuvor Geschehenes sein wird? Ich denke, der Vergleichspunkt liegt in der Unbeirrbarkeit des Bauern. Er rechnet fest mit dem Wachsen und Reifen der Frucht und er orientiert sein ganzes Leben, Planen und Handeln – er liegt ja den Winter über nicht auf der faulen Haut – an der heranreifenden Ernte. Er denkt und lebt ganz auf die bevorstehende Ernte hin.

Geduld und Geduld sind nicht dasselbe. Es gibt eine passive, träge und spannungslose Geduld. Sie findet sich ab mit dem, was ist. Sie wartet einfach ab, und sie wartet mit in den Schoss gelegten Händen. Es gibt aber eine andere Geduld, und ich denke, sie ist von Jakobus gemeint. Es ist eine aktive, dynamische Geduld. Ihr Warten ist ein gespanntes Warten. Ihr Warten dispensiert sie nicht davon, zu ändern, was in unseren Kräften ist. Weil sie dem Neuen, dem Anderen entgegenharrt, das von Gott her kommen wird, indem sie dem „Kommen des Herrn“ entgegenharrt, findet sie sich nicht ab mit dem, was ist. Weil sie der grossen Verwandlung entgegensieht, inspiriert und ermutigt sie Menschen, sich selber und ihre Verhältnisse zu wandeln. Das Ziel, das sie vor sich sieht, beeinflusst und prägt auch schon den Weg zu diesem Ziel und die Menschen, die diesem Ziel entgegenharren und entgegengehen.

Im Blick auf die Situation der Gemeinden zur Zeit des Jakobus konnte das zum Beispiel heissen, dass man sich mit dem konfliktreichen Neben- und Gegeneinander von Armen und Reichen nicht abfinden konnte, als ob es nun mal zum Neben- und Gegeneinander von Armen und Reiche keine Alternative gäbe. Das Kommen des Herrn und mit ihm die Erhöhung der Niedrigen und die Beglückung der Armen musste sich ja auswirken auf ein neues Zusammenleben von Armen und Reichen im Sinne eines gerechten, geschwisterlichen Ausgleichs. Das Ziel, dem sie beide entgegen lebten, musste dem Weg eine neue Richtung geben. Das Bewusstsein, dass Er kommt, wird zur Herausforderung zur praktischen Solidarität mit den „geringsten Brüdern“ (Matth. 25,40).

Es ist eigenartig: Beim Niederschreiben dieser Predigt, beim schlichten Lesen und Wiederlesen der Worte des Jakobus, kommt mir die Sache mit dem Kommen des Herrn, mit der Kommen des Messias auf einmal ganz nahe. Der Umstand, dass Christen seit 2000 Jahren auf die Wiederkunft Christi und Juden auf das Erscheinen des Messias warten – und er ist bis heute nicht wiedergekommen und erschienen – wird mir auf einmal sehr belanglos. Ich empfinde die Erwartung, dass es nicht immer so weitergeht wie bisher, als sehr befreiend. Der „liebe Jüngste Tag“ ist kein Sankt Nimmerleinstag. Er kann morgen, er kann in dieser Nacht anbrechen. Noch einmal Walter Benjamin: Für die Juden, hat er geschrieben, sei in der Zukunft „jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias eintreten“ könne. In diesem Punkt dürfen wir Christen nicht hinter den Juden zurück stehen. „Seht euch vor! Passt auf! Seid wachsam! Nicht dass er plötzlich komme und euch schlafend finde!“, so hat Jesus seine Jünger ermahnt (Mark. 13,33ff.). Und er hat sie verglichen mit einem Torwächter. Der Herr des Hauses ist abwesend. Noch ist er nicht zurückgekommen. Bis zu seinem Kommen sind wir verantwortlich für das Haus, haben dazu Sorge zu tragen und zu wachen, dass es nicht Schaden nimmt, so, dass wir es ihm jederzeit zurückgeben können, wenn er plötzlich und unerwartet da ist und das Haus wieder in seine Verantwortung nehmen wird.

Mitten in einer Welt, die gezeichnet ist durch so viele Katastrophen, mitten in einer Menschengeschichte, die so viele Trümmer und Opfer hinzerlässt, ruft uns das Evangelium auf zur Verantwortung und Sorgfalt mit der uns anvertrauten Erde. Das ist die rechte Geduld. Das Warten auf Sein Kommen lässt keinen Fatalismus, kein laisser-faire zu. Es stiftet an zu hellwachem Widerstand. Wache stehen, geduldig Torwächter sein an der kleinen Pforte, durch die der Messias, die Erlösung eintreten kann – jede Sekunde! – was für eine bescheidene, was für eine grosse, anspruchsvolle, aufregende Aufgabe, liebe Gemeinde!

Gehöre ich nun nicht mehr zu den Zurechnungsfähigen, verehrter Herr Professor Bultmann?

Amen.

Gebet

Gott der Gerechtigkeit!

Auf Dich warten wir, auf Dein Kommen in Gericht und Gnade. Auf Dich warten wir: dass Du kommst zu richten die Lebendigen und die Toten; dass Du aufrichtest die Erniedrigten, rehabilitierst die Verratenen und Verfolgten, heimbringst die Verirrten, ins Licht stellt die Verlorenen und Vergessenen; dass Du der Lüge und Gewalt ein Ende machst; dass Du Deine Schöpfung heilst von aller Zerstörung und aller Angst den Grund nimmst.

Auf Dich warten wir, Gott der Gerechtigkeit: auf den neuen Himmel und die neue Erde, die Du verheissen hast; auf Dein Reich – eine Welt ohne Angst. Gib uns Deinen Geist, damit er unser Leben ausrichte auf das grosse Ziel, uns einstimme auf Deine Gerechtigkeit. Lass uns so leben, dass wir über Deinem Kommen nicht zu erschrecken brauchen, sondern uns darauf freuen. Lass uns nicht schlafen, wenn Du kommst.

Amen.

Pfr. Klaus Bäumlin
Liebeggweg 19
CH-3006 Bern/Schweiz
klaus.baeumlin@bluewin.ch



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